kajie0195

0195

Ich erwache, wie immer viel zu spät und entkräftet, identifiziere das einfallende Licht als Frühlingssonne, ja ungefähr 13 Uhr, und schleppe mich in die Küche. Der Kaffee kocht – es ist 14:23 Uhr – Mist, das konnte ich mal besser. Erste Amtshandlung Social Media erledigt, ich fühle mich erledigt. Welchen Tag wir schreiben ist ungewiss, aber auch das ist unbedeutend, unbedeutend, unbedeutend.

Das Studium, welches ich entgegen meines Bauchgefühls angefangen habe, um etwas zu erreichen, jemand zu sein, einen Titel zu erhalten, zwingt mich schon längst nicht mehr an der Gesellschaft teilzuhaben. Mein Transcript bestärkt entgegen aller Erwartungen, dass ich in jeglicher Hinsicht unfähig bin.

2014 war dann doch einen Schnuff erfolgreicher. Viele Kilos weniger, ein strahlendes Lächeln ziert mein Abiturfoto, die Zeitung vergleicht meine schulische Leistung mit Thomas Müller, da war jemand der mich aus ganzem Herzen liebte. „Aus ihr wird mal was ganz Großes!“ – realistische Prognose der Schulleitung.

Aus ihr wurde mal was ganz Großes. Ein großes Problem.

Auszug, Feiern, erste Drogen, Zigaretten, viel Alkohol, Isolation, Depression.
Innerhalb von sechs Jahren von Thomas Müller zu Macaulay Culkin.
Ich will ein Comeback, aus Asche zum Phönix, die Auferstehung Jesu höchstpersönlich.

Duschen, Anziehen, Haare entwirren, rausgehen. Der Stadtrand riecht nach Dung. Sonne verbrennt meine Haut. Spaziergänge sind überbewertet.
Spaziergänge auf denen am Straßenrand verlorene Smartphones liegen hingegen nicht. Ein quasi fabrikneues iPhone XR, vom Laster gefallen wie man so schön sagt.

„Touch ID oder Code eingeben“ – Mist. Den Sperrbildschirm ziert ein Zitat meines Lieblingsautors. Düster, aber immerhin guter Geschmack.
„1234“ – Falsche Eingabe. „0000“ – Falsche Eingabe. Zumindest nicht dumm.
„0195“ – Hauptmenü. Ok, das ist massiv beunruhigend und beängstigend.
Ich drehe mich um, suche einen Beobachter oder eine versteckte Kamera.
Wie befürchtet bin ich allein.

Die Ortungsdienste sind deaktiviert, keine SIM eingelegt, Akku bei 12%.
Ich sprinte die paar Meter nach Hause, Gott, ist das anstrengend.
In häuslicher Sicherheit wiegend durchforste ich das Telefon, öffne die
Galerie und

 

mein Kopf tut weh, ich liege im Flur. Ich hoffe auf einen skurrilen Traum. Rechtsblick – ein iPhone.  Augen zu, auf – iPhone. Zwischen Beklemmung und Panikattacke nehme ich es, 1095, Galerie. Zu sehen bin eindeutig
Ich. Ich. Ich. 87-mal Ich, um ganz genau zu sein. 87-mal leichtbekleidet bis hin zur bloßen Nacktheit. Einige Fotos erkenne ich sofort wieder. Teilweise alte und gelöschte Bilder, Schnappschüsse und auch explizite Darstellungen für Verflossene, Affären, Expartner. Ich habe ewig lange keine derartigen Aufnahmen gemacht. Und trotzdem sind einige Bilder aktueller. Unschöner und unästhetisch. Jede Alarmglocke schrillt, meine Brust zieht sich unnatürlich zusammen, die Luft enthält keinen Sauerstoff, die Stimme versagt.
Letzte Beweissammlung bevor ich die Polizei rufe – Kontakte – Nutzereinstellungen – Kalender – Notizen – Bingo!

„Nutzlose Begrüßungsfloskeln überspringe ich wissentlich, aber schön, dass du mich gefunden hast. Bevor ich ausschweife, meine erste Regel: schaltest du jemanden ein, stirbst du.

Nun du fragst dich vermutlich was das hier ist, wer ich bin und warum dir jemand sowas antut. Das hier, meine Liebe, ist nur zu deinem besten.
Ich bin dein engster Verbündeter, und als solcher rate ich dir, mich nicht zu vergraulen.

Ich beobachte deinen Verfall schon lange. Dir geht es nicht gut, dein Antrieb schwindet, deine Gefühlspalette besteht aus Leere, du siehst grauenhaft aus. Du zerstörst dich selbst, das Leben wirkt sinnlos und Ziele gibt es keine.

Auch Ich war mal an diesem Punkt. Lass mich dir einen Rat erteilen:
Es wird niemals enden. Es wird schlimmer. Du wirst leiden.
Allein aus dem Grund, dass Du du bist. Und du bist nichts wert. Du erreichst nichts und bist eine einzige Belastung für dein gesamtes Umfeld. Niemand mag dich und keiner wird dir Helfen, denn du bist an allem schuld.
Kurzgesagt gibt es für dich keine Hoffnung. Also kannst du es gleich beenden – oder ich tue es.“

Ein Automatismus stellt sich ein.

Das Herz pocht alarmierend schnell und die Gedanken beginnen zu rasen so unfassbar schnell all die Stimmen in meinem Kopf reden alle durcheinander und schreien und weinen und lachen ich verstehe sie nicht es ist alles so unfassbar laut mein Kopf schmerzt aber ich spüre keine Schmerzen mein Körper will sich bewegen so schwer ist er so leicht wie eine Feder meine Brusthöhle ein Korsett aus Knochen er bricht von innen auf ich muss helfen die Hülle bricht ich fahre aus meiner Haut meinen leblosen schweren Korpus ich bin ganz frei ich bin zum ersten Mal frei und alles ist so ruhig

One thought on “0195

  1. Hallo Kajie, mir hat dein Text sehr gefallen.
    Dein Text mag zwar nicht unbedingt in den Bereich Thriller fallen und er ist natürlich durchaus niederdrückend, aber ich mag melancholische Literatur bzw. aus der Sicht von Depressiven.
    Es hat mich sehr an Anneliese Mackintosh oder Kristen Roupenian erinnert.
    Von mir ein Like.
    Gruß Blutrot

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