Laura S.121 Tage

 

121 Tage

Gedankenverloren starrte er auf den Inhalt seines halb leeren Glases. Er war heute nicht in der Stimmung, sich zu unterhalten, was man ihm wohl am Gesicht ansehen musste, zumindest hatte ihn bisher niemand angesprochen. Außer mit dem Barkeeper und der Bedienung hatte er noch kein Wort gewechselt.

Christian kam manchmal nach der Arbeit direkt hierher, wovon Sarah, so hoffte er, bisher nichts ahnte. Jedenfalls hatte sie sich bisher nichts anmerken lassen und seine Vorwände, er müsse wieder länger arbeiten, kommentarlos hingenommen. Und das, obwohl seine Besuche in der Bar in den letzten Monaten um Einiges häufiger geworden waren.

Er konnte die fröhlichen Unterhaltungen und das Gelächter um sich herum problemlos ausblenden und seinen Gedanken nachhängen. Und die Gedanken, die ihm nicht gefielen, konnte er durch den Alkohol betäuben, zeitweise ließen sie sich sogar völlig ausradieren. Meist kamen sie jedoch irgendwann wieder.

Die Zeit verflog und Christian konnte nicht genau sagen, wie viel er den ganzen Abend über getrunken hatte. In jedem Fall genug, um sich zweifellos um Einiges besser zu fühlen als vorher.

Er registrierte am Rande, wie die Gesichter um ihn herum sich veränderten, einige gingen, neue kamen. Er fühlte sich wie die einzige Konstante innerhalb eines sich beständig wechselnden Systems. Am Tisch neben ihm hatte gerade noch ein Mann gesessen, der schnell nur einen Drink genommen hatte, um dann auch schon wieder zu verschwinden.

Christian seufzte. Es war schon nach zwölf. Ich sollte auch langsam gehen.

Nachdem er bezahlt hatte, erhob er sich leicht schwankend. Fahren konnte er nicht mehr. Inzwischen war er sehr viel disziplinierter was das anging, weshalb er sich bereits ein Taxi bestellt hatte. Sein eigenes Auto würde er stehen lassen und morgen hier wieder abholen.

Um nicht über irgendetwas zu stolpern – damit hatte er Erfahrung – ließ er seinen Blick kurz prüfend über den Boden schweifen. Er hielt inne und ging langsam bedächtig in die Knie. Zwischen seinem und dem Nachbartisch lag ein Smartphone auf dem Boden. Es schien jemandem aus der Tasche gefallen zu sein, schmale Kratzer zogen sich wie verästelte Adern über das Display.

„Hey, ähm“, rief er etwas lauter als beabsichtigt, wobei er das Handy, das in einer dunklen Gummihülle steckte, hochhielt. „Hat jemand das hier gerade verloren?“

Die anderen Lokalbesucher in Hörweite durchsuchten kurz ihre Taschen, um dann zu verneinen. Er versuchte es erneut in die andere Richtung, aber niemand meldete sich als Eigentümer des Smartphones.

Vermutlich ist der Besitzer schon wieder weg. Er drückte die Home-Taste und der Sperrbildschirm leuchtete auf. Das Hintergrundbild schien eine Kinderzeichnung zu sein und zeigte eine dreiköpfige Strichmännchen-Familie mit zwei Hunden vor einem großen Haus mit vielen Bäumen.

Man musste zum Entsperren keinen Pin eingeben, das Handy war durch die Eingabe eines Musters gesperrt.

Ich werde es einfach hier abgeben. Christian verband die Punkte auf dem Sperrbildschirm spaßeshalber zu einem eckigen Kreis. Was, wie er erwartet hatte, falsch war. Während er sich zwischen den Tischen nach vorn zum Tresen schob, probierte er neue Kombinationen aus. Er wusste nicht genau, wieso überhaupt, aber er war bereits über den Punkt hinaus, in dem er alle seiner Handlungen hinterfragte. Er malte ein kantiges G und ein schräges M, dann ein T.

Zu seiner eigenen Überraschung leuchtete das T kurz grün auf, dann entsperrte sich das Smartphone. Er blieb auf halbem Weg zum Tresen stehen.

Die Galerie des Handys war noch geöffnet, die Kamerafotos wurden auf dem Bildschirm angezeigt. Ungläubig starrte Christian die Bilder aus dem Kameraordner an. Sein von Alkohol benebelter Verstand benötigte eine Weile, um entsetzt zu verstehen, was er da anstarrte.

Das bin ich. Das letzte Foto, das mit der Kamera gemacht worden war, zeigte ihn, wie er einsam mit seinem Bierglas an dem Tisch saß, von dem er erst vor einigen Sekunden aufgestanden war. Das Foto davor zeigte ihn an der Bar stehen, als er bestellt hatte. Auf dem Bild davor saß er in seinem Auto, auf dem Parkplatz seiner Firma. Mehrere Bilder, wie er ausstieg und das Firmengebäude betrat, sowie verschiedene Perspektiven seines Autos, Nahaufnahmen des Kennzeichens. Er sah sich selbst vor seinem Haus, wie er aus dem Gartentor trat, sah Fotos der Fenster seines Hauses, hinter denen Sarahs und seine Silhouetten erkennbar waren, sah sich allein im Garten auf der Terrasse sitzen, eine Bierflasche in der Hand – er erinnerte sich, vorher mit Sarah gestritten zu haben.

Ihm war übel, sein Magen fühlte sich ganz leicht an, während der Rest seines Körpers panisch verkrampfte. Was ist das hier verdammt?

Mit zitternden Fingern scrollte er weiter durch die unzähligen Fotos in dem Ordner. Eines zeigte ihn mit seiner Frau in ihrem Lieblings-Café, das von der Straße aus durch das große Glasfenster gemacht worden war, ein anderes ihre gemeinsame Radtour vom vorletzten Wochenende. Welchem kranken Spinner gehört dieses Handy?

Er schaltete den Bildschirm wieder schwarz. Verstohlen blickte er sich um. Vom Personal hatte bis jetzt offenbar keiner etwas von seinem Fund mitbekommen und die anderen Gäste beachteten ihn auch nicht weiter, schließlich konnten sie ja unbesorgt sein – sie hatten ihr eigenes Handy bei sich und es interessierte sie herzlich wenig, was mit dem fremden Smartphone passierte.

Christian ging langsam weiter, wobei er sich unauffällig nach allen Seiten umsah. Er wartete nur darauf, dass jemand ihm hinterherrief, was er mit dem fremden Handy vorhabe. Aber seine Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht. Niemand hielt ihn auf, als er, mit dem gefundenen Handy in seiner Jackentasche, die Bar verließ.

Aus ihm selbst nicht ganz begreiflichen Gründen traute er sich weder, während er auf sein Taxi wartete, noch während der Taxifahrt, erneut einen Blick auf das fremde Handy zu werfen.

Er fühlte sich die ganze Zeit über beobachtet, sein ängstlicher, alkoholisierte Verstand malte sich bereits aus, wie aus irgendeinem Gebüsch oder einer Straßenecke hinter ihm plötzlich ein Kerl mit Kapuze und einem irren Grinsen im Gesicht hervorkam und sich sein Handy zurückholen wollte.

Nachdem er ins Taxi gestiegen war schaute er abwechselnd nervös aus dem Fenster und in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass ihm kein Auto folgte.

Zu Hause angekommen schloss er hinter sich das Gartentor ab, verriegelte sorgfältig die Tür und schloss an allen Fenstern die Vorhänge und Jalousien. Dann setzte er sich in die halbdunkle Küche, wo er sich noch ein Glas Tequila einschenkte.

Er holte vorsichtig das Handy aus seiner Tasche, wobei er es ansah, als könnte es jeden Moment explodieren. Er atmete zittrig aus und entsperrte es erneut. Diesmal schloss er die Galerie. Die ganzen kranken Stalker-Fotos würde er sich später noch einmal ansehen. Bevor ich es zur Polizei bringe, dachte er grimmig.

Vom Startbildschirm grinste ihm ein kleiner, braunhaariger Junge von vielleicht fünf Jahren entgegen. Wer auch immer dieser Irre ist, er hat offenbar einen Sohn. Oder sie.

Er konnte kein WhatsApp auf dem Startbildschirm finden, was er ziemlich ungewöhnlich fand. Er klickte auf die Kontakte des Unbekannten. Es war eine kurze Liste, einige waren nur mit Vornamen eingespeichert, andere auch mit Nachnamen. Keiner davon kam ihm bekannt vor. Sollte er einfach einen von ihnen anrufen?

Fast hätte er das Handy fallen lassen, als plötzlich ein lautes Klingeln einsetzte und ihn aus seinen Überlegungen riss. Das Handy in seiner Hand vibrierte, auf dem Bildschirm wurde ein eingehender Anruf angezeigt. Das fremde Handy wurde angerufen.

Die Nummer des Anrufers war unterdrückt.

Eine Weile ließ er es einfach klingeln, unsicher, ob er abnehmen sollte. Das penetrante Klingeln zerrte an seinen so schon zum Zerreißen angespannten Nerven.

Noch nie hatte er so eine irrationale Angst gehabt, einen Anruf entgegenzunehmen. Schließlich drückte er aber doch auf den grün aufleuchtenden Hörer.

Das Klingeln verstummte abrupt, er hielt sich das Handy mit wild klopfendem Herzschlag ans Ohr. Es war ruhig. Er bildete sich aber ein, am anderen Ende ein leises, gleichmäßiges Atmen zu vernehmen.

Christian räusperte sich, sein Mund war trocken, sein Hals fühlte sich kratzig an. „Hallo?“

Erst kam keine Antwort und er wollte schon auflegen, als eine heisere, verzerrte Stimme fragte: „Wer ist da?“

„Sind Sie der Eigentümer dieses Handys?“ Kaum, dass er das gesagt hatte, fragte er sich, ob es so klug war, offenzulegen, dass er das Smartphone nur gefunden hatte. Vielleicht war es auch irgendeine Kontaktperson des Besitzers. Andererseits hätte er nicht gewusst, was er sonst hätte entgegnen sollen.

„Wer ist da?“, kam dieselbe Frage nur erneut, diesmal ein wenig nachdrücklicher.

„Hören Sie, ich habe dieses Handy vorhin gefunden, jemand hat es verloren. Sind Sie der Besitzer oder nicht?“

Wieder eine Pause, dann: „Sind Sie Christian Brandt?“

Christian hätte nicht gedacht, dass der Unbekannte etwas hätte sagen können, dass ihn noch panischer machte, aber diese Frage steigerte seine Angst ins Unermessliche. Woher kennt dieser Irre meinen Namen? Was ist das für ein krankes Spiel?

Er wusste nicht, was er antworten sollte. Vermutlich hatte er sich durch diese entsetzte Pause sowieso bereits verraten. „Ich weiß nicht, was das alles hier soll“, sagte er schließlich, wobei er darauf achten musste, dass seine Stimme nicht panisch in die Höhe rutschte, „Wer auch immer Sie sind… lassen Sie mich in Ruhe, verstanden?“

„Ich weiß genau, was Sie getan haben, Herr Brandt“, sagte die verzerrte Stimme nur, jetzt ganz ruhig.

„Wovon sprechen Sie?“, brachte Christian krächzend heraus.

„Es ist jetzt etwa vier Monate her, genau 121 Tage. Sie wissen, wovon ich spreche.“

Christian fühlte sich, als müsste er sich vor Panik übergeben. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Sie wissen es. Nur Sie und ich, sonst niemand.“ Fast meinte Christian eine irre Fröhlichkeit in der verzerrten Stimme des Unbekannten zu hören. „Sie sind ein Mörder und ich weiß es. Niemand außer mir weiß es, nicht einmal Ihre Frau, nicht wahr?“

Der Irre machte eine kurze Pause, als warte er auf eine Reaktion, aber Christian konnte sich kaum rühren, geschweige denn, Worte finden, die er hätte aussprechen können. In seinem Kopf wiederholte sich nur immer wieder derselbe Gedanke: Nein, das ist nicht wahr, ich bin kein Mörder, er lügt, ich bin kein Mörder!

„Ich hätte mit meinen Informationen zur Polizei gehen können, damit hätte man nachweisen können, dass Sie es gewesen sind. Aber wissen Sie, warum ich das nicht getan habe, nachdem ich es herausgefunden habe?“

Christian wollte auflegen, er wollte den Unbekannten anschreien, er wollte einfach nur diese unheimliche Stimme zum Schweigen bringen. Aber er saß nur wie paralysiert da und hielt sich das Handy ans Ohr.

„Weil ich es sein werde, der für Gerechtigkeit sorgt. Keine staatliche Institution, kein Gericht, das Sie nur für ein paar Jahre in irgendein Gefängnis steckt. Sie werden bereuen, was Sie getan haben und noch mehr das, was Sie danach nicht getan haben. Und falls Sie daran denken sollten, zur Polizei zu gehen – lassen Sie das lieber. Ich würde es schneller erfahren, als Sie sich vorstellen können und dann landen meine Beweise sofort beim nächsten Polizeiabschnitt. Dann wäre Ihr guter Ruf genauso schnell hinüber wie Ihre Firma es daraufhin sein wird. Mal ganz abgesehen davon, dass Sie ins Gefängnis wandern. Wir sehen uns dann bald. Oder zumindest ich werde Sie sehen.“ Im nächsten Moment war ein dumpfes Piepen zu hören. Der Unbekannte hatte aufgelegt.

Eine Weile saß Christian einfach nur regungslos da, sein leerer Blick ging ins Nichts. Dann kippte er das Glas Tequila vor sich mit einem Schluck hinunter, das leichte Brennen des Alkohols in seinem Hals nahm er kaum wahr.

Er entsperrte das Handy erneut. Auch wenn er es eigentlich am liebsten auf dem Boden zerschlagen hätte, nur um es nicht mehr in der Hand halten zu müssen. Aber das wäre dumm gewesen und würde das Problem kein bisschen lösen. Im Gegenteil.

Er öffnete die Galerie. Diesmal sah er sich nicht den Kameraordner an, dessen Inhalt ihm ja größtenteils bekannt war, die anderen Fotos darin ähnelten vermutlich denen, die er bereits gesehen hatte. Eine unfreiwillige Fotoreihe meines Privatlebens, dachte er trocken.

Es gab nur zwei andere Ordner. Einer hieß „Tommy“, der andere „Spuren“. Ersterer enthielt Kinderfotos. Es war der braunhaarige Junge vom Startbildschirm, am Strand, in einem großen Garten, beim Eis essen, beim Drachen steigen. Es handelte sich vor allem um Bilder, auf denen der Junge kleiner war, aber es gab auch Fotos von ihm als Teenager. Ein Bild des Jungen stach ihm ins Auge, darauf stand er als etwa Fünfzehnjähriger stolz vor seinem offenbar brandneuen Mountainbike. Christian kannte den Jungen nicht, aber er wusste dennoch, wer er war.

Und er hatte auch eine Vermutung, wer der Unbekannte war, auch wenn der scheinbar kein einziges Foto von sich selbst auf seinem Handy hatte und Brandt auch trotz allem keine Ahnung hatte, wie der Fremde aussah.

Er hatte die ganze Zeit über versucht, nicht mehr an die ganze Sache zu denken, vier lange Monate. Aber der größte Fehler seiner Vergangenheit holte ihn ein. Eigentlich musste er gar nicht weiter die Galerie des Fremden durchsuchen. Was in dem anderen Ordner für Fotos sein würden, konnte er sich denken. Dennoch schaute er sie sich an, nur um festzustellen, dass die Bilder seine Befürchtungen größtenteils bestätigten. Fotos eines weißen Mercedes, vorn leicht zerkratzt und verbeult, offenbar stammten sie aus einer fachmännischen Begutachtung. Außerdem Bilder eines unterirdischen Parkhauses und mehrere Fotos von einer Landstraße, immer die selbe Stelle.

Es befanden sich auch einige kurze Schriftstücke darin, manche abfotografiert, andere vermutlich selbst mit einem Schreibprogramm verfasst. Zudem gab es einige Screenshots von Google-Maps-Routen, eine davon war mit einem roten Kreuz markiert worden.

Einige der Bilder löschte er aufgebracht, bei dem letzten Bild stutzte er kurz. Es war das Foto eines abgebrochenen Mercedes-Sterns, der irgendwo im Gras lag. Neben einer Landstraße. Er starrte es ungläubig eine Weile an, dann löschte er es trotzig. Auch wenn er wusste, dass der Irre, der ihn erpresste, sicherlich noch genügend Kopien dieser Fotos und vermutlich noch weit mehr besaß.

Kurz darauf legte er sich im Wohnzimmer auf die Couch. Er konnte nicht hoch zu Sarah, das Risiko, dass sie aufwachen und Fragen stellen würde, die er nicht beantworten konnte, beziehungsweise wollte, war zu hoch.

Alles, was er gewollt hatte, war, zu vergessen, was vor vier Monaten passiert war. Es war schwer genug gewesen, danach einfach weiterzumachen, die Erinnerungen daran hatten ihn wochenlang ununterbrochen verfolgt, sowohl tagsüber als auch nachts in seinen Träumen. Und jetzt war er in einem schlimmeren Albtraum gefangen, als er es sich je hätte ausmalen können.

Es kam ihm vor wie ein ironischer Zufall, dass gerade Christian Brandt sein Handy gefunden hatte. Das Schicksal hatte ihm in den letzten Monaten und Jahren schließlich schon genug Rückschläge verpasst.

Nun hatte er an diesem Abend auch noch sein Handy verloren, weil seine verdammte Jackentasche an der Unterseite aufgerissen war. Und es war anscheinend in der Bar, wo er Brandt nachspioniert hatte, in der Nähe von dessen Tisch liegengeblieben.

Als Sven den Verlust bemerkt hatte und zurückgefahren war, war sein Handy längst weg gewesen, vom Personal hatte ihm niemand etwas dazu sagen können. Irgendjemand hatte es also scheinbar mitgenommen. Und dieser Jemand war wie er nun wusste, ausgerechnet Christian Brandt gewesen, in dessen Nähe er ja auch gesessen hatte.

Vielleicht hatte Brandt das Handy entsperren können und sich die Fotos angesehen, was angesichts seiner Reaktion sogar sehr wahrscheinlich war. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr.

Es war auch egal, ob Brandt die älteren Bilder in dem gesonderten Ordner oder nur die neueren Kamerafotos gesehen hatte. Sicherlich hatte er alle Fotos durchstöbert. Er würde nicht zur Polizei damit gehen, da war er sich sicher. Dafür hatte er mit Sicherheit zu große Angst, war viel zu geschockt von der ganzen Situation. Vermutlich hatte Brandt gedacht, nie wieder an den Vorfall denken zu müssen. Dieser Gedanke machte ihn fast so wütend, wie die Tatsache, dass Brandt sich auch die Fotos seines Sohnes ansehen konnte. Aber er würde ihn eh sobald er konnte in Stücke reißen und dann war auch das egal.

Bald würde es so weit sehen. Er war zwar ein wenig aufgeregt, aber nicht wirklich nervös. Abgesehen davon, dass er nichts mehr zu verlieren hatte – wirklich gar nichts – hatte er auch alles sorgfältig seit Monaten geplant. Alles war vorbereitet, er musste nur den perfekten Moment erwischen, um zuschlagen zu können.

Sven hatte Brandt die letzten zwei Monate fast durchgehend beobachtet, um seinen Tagesablauf kennenzulernen. Hatte Fotos von Brandt selbst, seinem Haus, seinem Auto, seinem Arbeitsplatz und allen möglichen Freizeitaktivitäten gemacht, alles dokumentiert, was er getan hatte. Er kannte seine Gewohnheiten in und auswendig, so zum Beispiel die, dass er sich nach der Arbeit volllaufen ließ und seiner Frau Überstunden vortäuschte. Mehrmals war er ihm schon dorthin gefolgt, hatte sich sogar kurz einmal mit ihm unterhalten. Wobei er sich hatte zurückhalten müssen, um ihm nicht die Nase zu brechen. Oder Schlimmeres.

Wie zu erwarten gewesen war, hatte Brandt sich nicht an sein Gesicht erinnern können, was ihn aber auch nicht allzu sehr wunderte. Sie hatten sich nur ein einziges Mal vorher kurz gesehen.

Ziemlich sicher war Brandt jetzt aufmerksamer, vorsichtiger. Aber Panik machte auch irrational und dadurch unbedachter und angreifbarer. Es würde alles nach Plan laufen.

Das musste es. Er würde für Gerechtigkeit sorgen, schließlich war er der Einzige, dem es in diesem Fall zustand, das zu tun. Nicht nur, weil jeder einzelne Tag der letzten 121 eine Qual für ihn gewesen war und er seit vier Monaten einen Albtraum lebte, sondern auch, weil er es gewesen war, der die nötigen Beweise zusammengetragen hatte. Nicht die Polizei.

Er erinnerte sich an den Tag, an dem er Christian Brandt das erste Mal gesehen hatte. Jetzt im Nachhinein, wo er wusste, wer Brandt war, schien die Erinnerung wieder schärfer und klarer, als sie es kurz danach gewesen war. Als hätte sein Verstand sie reaktiviert, als ihm bewusst geworden war, wie relevant diese Begegnung gewesen war.

Sven hatte damals in einem Autohaus gearbeitet. Jetzt war er arbeitslos, hatte seinen Job gekündigt. Es gab für ihnen vorerst nur noch einen Sinn in seinem Leben und um den zu erfüllen, hatte er die Zeit dringend benötigt, die ihm die vorläufige Arbeitslosigkeit einräumte.

Damals, als Brandt gerade das Autohaus betreten hatte, hatte Sven noch nicht ahnen können, dass es sich um den schlimmsten Tag seines Lebens handelte. Es war ein Arbeitstag wie jeder andere gewesen. Brandt hatte sein Auto verkaufen wollen, einen relativ neuen weißen Mercedes, eigentlich makellos, wären nicht die Kratzer und Dellen an der rechten Seite des Wagens gewesen.

Einer seiner Kollegen hatte sich um Brandt gekümmert und seinen Wagen begutachtet, hatte Sven aber später um Rat gefragt.

Brandt hatte behauptet, die Kratzer und Dellen, die sich vor allem vorn seitlich an der Motorhaube befanden, sich aber auch teilweise bis auf der rechten Seite zogen, seien alt, er habe vor gut einem Jahr im unterirdischen Parkhaus des größten lokalen Kaufhauses einen Poller übersehen und einige der oberen Kratzer an der Seite stammten wohl vom Fahrrad seiner Frau, mit dem sie versehentlich in der Garage dagegen gestoßen war. Auch der Mercedes-Stern war abgebrochen gewesen. Das seien laut Brandt irgendwelche Jugendliche gewesen, die ihm einen Streich hatten spielen wollen.

Sven wurde übel, wenn er an diese ganzen dreisten Lügen dachte.

Svens Kollege hatte feststellen können, dass die Schäden wohl kaum ein Jahr alt waren, sondern im Gegenteil eher ziemlich neu aussahen.

Sven hatte das damals nicht als besonders schlimm erachtet und gemeint, er solle einfach darüber hinwegsehen.

Brandt hatte angegeben, das Auto nicht wegen der paar Schäden verkaufen zu wollen, sondern weil er sich einfach einen Neuwagen zulegen wollte. Was er auch gleich getan hatte.

Bis dann der Anruf kam, hatte Sven sich immer noch nichts dabei gedacht und die Sache fast schon wieder vergessen. Was machte es schon groß aus, dass Brandt einfach nicht hatte zugegeben wollen, wie neu die Kratzer waren. Vielleicht hatte er gedacht er, es würden den Wert des Autos stärker mindern als ältere. Jedenfalls hatte Sven dem keinerlei weitere Beachtung geschenkt, zu dem Zeitpunkt hatte es ihn noch kein Stück interessiert, was genau die Schäden an dem Auto verursacht hatte.

Aber dann erhielt er die Information, die seine gesamte Welt in Sekunden in sich zusammenfallen ließ.

Christian konnte nicht schlafen. Er lag mal mit geöffneten, mal mit geschlossenen Augen unruhig auf der Couch. Aber egal, ob er die Augen öffnete oder nicht, er sah immer die gleiche Szene vor sich ablaufen.

In seinen Gedanken saß er im Auto. In seinem alten Auto, dem weißen Mercedes. Es nieselte hin und wieder leicht, der Himmel war grau und wolkenverhangen, es war gegen 16 Uhr nachmittags. Er war betrunken. Sehr betrunken. Eigentlich war er erst auf dem Weg zu einer Feier, aber er hatte schon vorher zu Hause getrunken, einfach nur, weil er deprimiert war. Er hatte Stress in der Firma, Stress mit seiner Frau und er war einfach nur wütend, so wütend, dass er schreien oder auf irgendetwas einschlagen könnte. Warum mussten ihn auch alle immer so unter Druck setzen?

Er fuhr schnell, er hatte keine Ahnung, wie die Geschwindigkeitsbegrenzung war und es war ihm auch ziemlich egal.

Den Radfahrer am Straßenrand sah er nicht, erst, als er mit seinem Auto kollidierte, nahm er ihn wahr. Es gab einen dumpfen Knall, ein grauenhaftes Knirschen und Quietschen, unfassbar laut, ein Körper landete auf seiner Motorhaube, einer der Unterarme lag kurz auf der Windschutzscheibe auf, für einen Moment völlig regungslos, wie der Arm einer Puppe.

Dann bremste Christian, sein Auto schlingerte, der Körper rutschte herunter und landete im Straßengraben. Er blieb mit quietschenden Bremsen kurz stehen, starrte ungläubig auf seine Motorhaube, der Mercedes-Stern war abgeknickt und hing anklagend schräg. Dann warf er einen Blick nach hinten. Ein völlig demoliertes Fahrrad, wahrscheinlich ein Mountainbike, lag auf der Straße. Der leblose Körper des Radfahrers lag mit verdrehten Gliedern kurz hinter seinem Auto im Straßengraben.

Er bekam Panik. Er war betrunken, viel zu schnell gefahren und er hatte einen Radfahrer angefahren. Was, wenn er bereits tot war? In diesem Fall konnte er vermutlich eh nichts mehr für ihn tun… und dann fuhr er einfach weiter, genau, wie er es damals vor vier Monaten auch getan hatte. Hatte aufs Gaspedal gedrückt und versucht, seiner Verantwortung davon zu fahren. Niemand hatte ihn beobachtet, die Straße war menschenleer gewesen. Die einzigen Spuren hatten sich auf seinem Auto befunden. Aber die Kratzer und Dellen hätten schließlich von überall stammen können, oder nicht?

Dennoch hatte er das Auto so schnell wie möglich loswerden wollen. Statt zu der Feier war er erst einmal ins Autohaus gefahren, hatte den weißen Mercedes verkauft, sich ein paar falsche Angaben zu den Schäden ausgedacht und einen neuen Wagen gekauft. Sarah war nicht allzu begeistert gewesen, aber er hatte erzählt, es laufe gerade gut in der Firma und sein Gehalt sei gestiegen, sie könnten es sich so oder so spielend leisten und der Neuwagen sei ein Schnäppchen gewesen. Schließlich hatte sie widerwillig nachgegeben und es akzeptiert.

Aber jetzt sah er immer wieder aufs Neue den Zusammenprall,  wie er im Rückspiegel das kaputte Fahrrad und durch das Fenster den leblosen Körper gesehen hatte und wie er so schnell er konnte, den Unfallort verlassen hatte. Er hatte eine leitende Position in seiner Firma, mehr noch, er war das Gesicht seiner Firma, dass er betrunken Auto fuhr und dabei vielleicht jemanden getötet hatte, das wäre ein Skandal. Zumindest war das der Grund, den er in den Vordergrund schob. Dahinter stand auch, dass er um keinen Preis ins Gefängnis wollte. Aber war das so unverständlich?

Seitdem war er nicht mehr betrunken Auto gefahren.

Er hatte gedacht, es würde eh niemals jemand herausfinden, dass er es gewesen war, der den Jungen angefahren und letztendlich auch getötet hatte. Aber es war trotz allem nur ein Unfall gewesen, er hatte das schließlich alles nicht gewollt, er war doch kein Mörder!

Er hatte versucht, den Vorfall zu verdrängen und sich eingeredet, die Nachricht über den tödlichen Unfall würde auch bald von den meisten Anderen vergessen sein. Nur ein weiterer Verkehrsunfall, bei dem eben kein Schuldiger festgestellt werden konnte.

Die Mitarbeiter des Autohauses hatten notiert, die Schäden an seinem Auto seien alt, dass er sich nur dumm beim Parken angestellt hätte, nichts Weltbewegendes.

Und den Mercedes-Stern hatte er nicht einmal in der Nähe des Unfallortes verloren, er hatte ihn eigenhändig komplett abgebrochen, bevor er in das Autohaus gefahren war und ihn auf dem Weg irgendwo am Rand der Landstraße aus dem Fenster geworfen.

Hatte ihn doch jemand beobachtet? Oder wie hatte derjenige, der ihm jetzt drohte, davon erfahren? Er wusste nicht mehr, wie der Familienname des toten Jungen gewesen war – nachdem er die Meldung über den letztendlich tödlichen Unfall in den Nachrichten gesehen hatte, hatte er so viel getrunken, dass jegliche Erinnerung daran so gut wie ausradiert worden war. Aber er wusste nun, dass es der Vater des Jungen war, der ihn bedrohte. Der ihm wochenlang gefolgt war und die ganzen Fotos von ihm gemacht hatte. Er könnte recherchieren und vielleicht den Familiennamen herausfinden. Nur was brachte es ihm, die Identität seines Verfolgers zu kennen? Er konnte damit nicht zur Polizei. Was der Wahnsinnige genau wusste.

Andererseits, wäre es schlimmer, seine Firma vielleicht zu ruinieren und ins Gefängnis zu gehen oder zu erfahren, was der Irre sich als Racheplan vorgenommen hatte?

Christian wusste nur eines – wenn der wahnsinnige Vater des Jungen bei dem Versuch, ihn anzugreifen, umkommen würde, wären alle seine Probleme gelöst. Es wäre Notwehr.

Offenbar hatte der Irre niemandem von Christians Fahrerflucht erzählt, hatte niemandem die Beweise gezeigt, die er besaß. Die Fotos auf dem Handy, die ihm etwas nachweisen konnten, hatte er zwar gelöscht, aber er glaubte nicht, dass das die einzigen Exemplare gewesen waren. Vermutlich hingen Dutzende davon allein schon in der Wohnung des Spinners, der ganz offensichtlich Gefallen an Selbstjustiz fand. Und wer wusste schon, was für Beweise der Verrückte noch besaß.

Aber wenn sein wahnsinniger Verfolger starb, würde Christians bisher wohl gehütetes Geheimnis mit ihm sterben.

Christian wusste, dass das der Idealfall war. Er würde vorbereitet sein und den selbstgerechten Schwachkopf umbringen, wenn er ihn angriff. Und dann würde es endlich vorbei sein, dann konnte er damit abschließen. Er wollte das ja eigentlich alles gar nicht, er wollte niemanden töten. Aber wenn man ihn nun mal dazu zwang, was sollte er stattdessen schon groß tun?

Der Durchgeknallte ließ ihm ja keinen anderen Ausweg. Wenn er sich mit ihm anlegen wollte, konnte er das gerne haben. Aber das würde er ganz sicher nicht überleben.

Christian stand auf und legte sich eines der großen Küchenmesser auf den Wohnzimmertisch, wodurch er sich gleich sicherer fühlte. Morgen früh würde er seine Pistole aus seinem Schließfach im Schlafzimmer holen.

Als er sich wieder hinlegte, konnte er endlich problemlos einschlafen.

Sven schlief nicht viel in der Nacht, wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und stand schon früh am nächsten Morgen auf. Es war Samstag.

Brandt würde heute im Laufe des Tages zweifellos seinen Wagen – seinen neuen, silbernen Mercedes – aus der Seitengasse in der Nähe der Bar, wo er ihn abgestellt hatte, abholen. Dazu bestellte er sich immer ein Taxi und Sven wüsste nicht, wieso das heute anders sein sollte. Sein Vorteil war, dass Brandt keine Ahnung hatte, wie er aussah. Schließlich wusste er nicht, dass sie sich schon einige Male kurz begegnet waren.

Es war 6:30 Uhr.

Sven erwartete einen Anruf oder eine Nachricht, allerdings erst gegen elf, schätzte er. Schlafen konnte er aber eh nicht mehr und er wollte seine Chance auf keinen Fall verpassen.

Er saß in seinem Schlafzimmer vor einem kleinen Spiegel. In der rechten Hand hielt er einen abgebrochenen Mercedes-Stern, über den er langsam mit den Fingern strich. Er betrachtete ihn nachdenklich. Es hatte ihn einiges an Zeit und Überzeugung gekostet, ihn zu finden. Aber nachdem sich seine Theorie gefestigt hatte, hatte er gewusst, dass er ihn als Beweisstück dringend benötigte.

Christian Brandt hatte das Autohaus damals gegen 17 Uhr wieder verlassen.

Sven hatte bis 18 Uhr gearbeitet und hatte gerade ins Auto steigen wollen, als er Anruf gekommen war. Er erinnerte sich immer noch genau daran.

Sie hatten nach seinem Namen gefragt, hatten gefragt, ob er der Vater von Tommy sei. Er hatte erst gedacht, es wäre die Schule und dass Tommy irgendetwas getan hatte, das eigentlich nicht der Rede, der Schule aber einen Anruf wert war. Zum Beispiel Tische mit lästernden Sprüchen über die Lehrer beschmiert oder tatsächlich das durchgesetzt, was er spaßeshalber immer mit seinem Vater geplant hatte, nämlich irgendwann mitten im Unterricht extrem laut Metalcore-Musik mit seiner Box zu spielen. Eigentlich machte Tommy so etwas nicht, aber er war ein Teenager gewesen und die waren schließlich unberechenbar.

Aber der Satz, der gefolgt war, hatte ihn innerlich erstarren lassen. „Wir sind von der Polizei, es tut uns Leid, Ihnen das auf diesem Weg mitteilen zu müssen, aber Ihr Sohn wurde heute Nachmittag angefahren und hat lebensgefährliche Verletzungen davon getragen. Es ist nicht sicher, ob er es überleben wird, sein Zustand ist kritisch. Er hat schwere Kopfverletzungen und wird jetzt ins Krankenhaus gebracht.“

Wenn er nur daran dachte, spürte er, wie ihm wie damals brennende Tränen in die Augen stiegen.

„W-was?“, hatte er damals nur verständnislos herausgebracht, obwohl er sehr wohl verstanden hatte. Die Beamten hatten alles so einfühlsam wie möglich wiederholt.

Tommy war bereits kurz nachdem der Krankenwagen losgefahren war, gestorben. Das letzte Mal, dass Sven seinen Sohn gesehen hatte, war am Morgen seines Todestages gewesen, kurz bevor er zur Schule losgefahren war, sie hatten nur ein paar Worte gewechselt. Tommy war aus dem Alter raus, wo man jedes Mal, wenn man sich trennt, sagte, dass man sich lieb hatte, aber Sven wünschte sich bis heute er hätte es an diesem Morgen gesagt, auch wenn Tommy ihn schief angesehen hätte.

Nach der Schule, auf dem Weg zu seinem Basketballtraining, hatte Christian Brandt seinen Sohn angefahren und ihn einfach sterbend am Straßenrand liegen lassen. Seine Frau Lisa war gestorben, als Tommy gerade zwölf gewesen war. Er hatte nur noch seinen Sohn gehabt. Er hatte für Tommy weitergelebt, nachdem Lisa ihrem Krebsleiden erlegen war.

In den ersten Tagen nach Tommys Tod bis hin zu seiner Beerdigung hatte nur eine ihn zerreißende Trauer Svens Gedanken bestimmt. Der einzige Grund, wieso er jetzt noch lebte, da war er sich sicher, war der Drang, sich an Brandt zu rächen. Dieses Ziel war das Einzige, was seinem Leben jetzt noch einen Sinn gab. Was danach passierte, war ihm gleichgültig.

Nachdem die allumfassende, lähmende Trauer nach dem Unfall langsam der Wut gewichen war, hatte er wieder an Brandts Besuch in dem Autohaus denken müssen. Man schätzte den Zeitpunkt des Unfalls auf ungefähr 16 Uhr. Die Schäden an Brandts Auto passten zu denen eines Fahrradunfalls und von der Zeit her war es im Rahmen des Möglichen gewesen. Was Sven nur zuerst nicht hatte glauben können, war, dass jemand, der gerade Fahrerflucht begangen hatte, einige Minuten später in ein Autohaus spazierte und sein dabei beschädigtes Auto sofort gegen ein neues eintauschte. Um dann seelenruhig sein Leben weiterzuleben. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Brandt einfach ein verachtenswerter Mensch war, der es nicht verdient hatte, nach Tommys tödlichen Unfall weiterzuleben.

Was ihm noch mehr Schmerz zufügte und ihn mit noch mehr Hass erfüllte, war die Tatsache, dass Brandt, hätte er gleich nach dem Unfall einen Krankenwagen gerufen, vielleicht Tommys Leben hätte retten können. Wäre er nicht so verdammt feige gewesen, wäre er nicht tatenlos weggefahren, hätte man Tommy im Krankenhaus vielleicht noch helfen können. Für ihn war Brandt somit doppelt schuldig an Tommys Tod.

Er hatte sich die Bilder und Gutachten von Brandts altem Wagen alle noch einmal angesehen, die ihr Autohaus erstellt hatte. Es war notiert worden, er habe sich die Dellen an der Motorhaube durch das Umfahren eines Pollers in dem Parkhaus des größten lokalen Einkaufscenters zugezogen. Erst hatte Sven daran nichts finden können, bis er dann doch stutzig geworden war. Brandt hatte angegeben, das sei vor gut einem Jahr, wohl bald genau dreizehn Monaten, in ebendiesem Parkhaus passiert. Nur dass das unterirdische Parkhaus des Centers, wo die besagten Poller standen, erst vor gut acht Monaten eröffnet worden war.

Diese weitere Ungereimtheit hatte ihn schließlich fast sicher gemacht, dass es Brandt gewesen war, der Schuld am Tod seines Sohnes war. Das hatte ihn schließlich bewogen, auch dem abgebrochenen Mercedes-Stern nachzugehen. Erst hatte er bei der Polizei nachgefragt, ob man am Unfallort einen gefunden hatte, aber selbst als die Beamten verneinten, gab er seine Theorie noch nicht auf. Vielleicht hatte Brandt den Stern erst irgendwoauf dem Weg verloren, vielleicht lag er noch irgendwo verbeult am Straßenrand. Die Möglichkeit bestand und er wusste, dass er sie entweder bestätigen oder widerlegen musste.

Wochenlang war die Strecken abgelaufen, die vom Unfallort zu seinem Autohaus führten, Kilometer für Kilometer neben der Straße entlang. Manchmal war er den ganzen Tag gelaufen, teilweise ohne zwischendurch zu essen oder zu trinken. Das waren alles Nebensächlichkeiten gewesen. Erst, als er einmal vor Erschöpfung zusammengebrochen war, hatte er wieder mit regelmäßiger Nahrungsaufnahme angefangen.

Als er beinahe hatte aufgeben wollen, war er dann doch fündig geworden. Im Straßengraben neben einer Landstraße, nahe des Waldes, der dahinter begann. Dass der Stern tatsächlich auf der Strecke zwischen Unfallort und Autohaus gelegen hatte, war für ihn die letzte Bestätigung, die er benötigt hatte. Es hatte kein Zufall sein können, es musste der Stern von Brandts Auto sein, so nah, wie die Fundstelle dem Autohaus gewesen war.

Nachdem er sich sicher war, die Identität des Mannes zu kennen, der seinen Sohn getötet hatte, hatte er begonnen, Vorbereitungen zu treffen. Jetzt wartete er nur noch. Es gab nichts mehr vorzubereiten, auf alles, was ab jetzt passierte, hatte er die letzten, auslaugenden Monate hingearbeitet.

Sinnierend betrachtete Sven weiterhin den Mercedes-Stern in seinen Händen und blickte dann auf zu den Bildern von Tommy an seiner Wand. Dass Brandt damals nach dem Unfall ausgerechnet in das Autohaus gekommen war, in dem er arbeitete, um dort das Auto zu verkaufen, mit dem er seinen Sohn getötet hatte, war ihm anfangs wie bittere Ironie vorgekommen, ein grausamer, unglaublicher Zufall. Später jedoch sah er darin einen Wink des Schicksals. Es war ihm bestimmt, zu erkennen, was Brandt getan hatte und somit war ihm war die Möglichkeit gegeben worden, sich dafür an ihm zu rächen. Eine andere Erklärung gab es für ihn dafür inzwischen nicht mehr.

Er saß noch stundenlang regungslos in seinem Zimmer und hing seinen Gedanken nach, irgendwann holte er sich etwas zu trinken. Eine Weile war er noch am PC.

Dann endlich, um 11:30 Uhr, ein Anruf. Es war ein alter Schulfreund von ihm, Paul von der Taxivermittlung. „Morgen, Sven. Dieser Brandt hat gerade ein Taxi bestellt, willst du die Adresse?“

Paul schuldete ihm noch einen Gefallen, was Sven perfekt in die Hände gespielt hatte. Vor einer Woche hatte er sich bereits ein altes Taxi gekauft, das gelbe Schild für das Dach hatte Paul ihm besorgt. Zudem hatte er sichergestellt, dass Paul ihn anrief, sobald Brandt ein Taxi zu seinem Haus bestellte.

„Nein, brauch ich nicht. Danke, Paul.“

„Grüß ihn dann von mir und euch viel Spaß.“ Sven hatte Paul in dem Glauben gelassen, Brandt sei ein guter Freund von ihm, der vor kurzem Geburtstag gehabt hatte und den er und seine anderen Freunde überraschen wollten, indem sie mit ihm wegfuhren. Eine Art Überraschungsparty. Überraschend wird es sicher für ihn sein.

„Danke, werde ich haben.“

Es klingelte. Christian warf einen Blick auf die Uhr – es musste zweifellos sein Taxi sein. Er steckte seine Autoschlüssel und Geld ein, bewaffnet war er bereits. Das war das Erste gewesen, was er an sich genommen hatte. Wer weiß, vielleicht lauert er mir bei meinem Auto auf, er weiß ja sicher, wo es steht.

Er hatte sich heute Morgen mit Sarah gestritten – wegen seines Alkoholkonsums in der letzten Nacht, weshalb er sich nicht verpflichtet fühlte, ihr zu sagen, dass er ging, geschweige denn wohin.

Er verließ das Haus, vor dem Tor wartete sein Taxi.

Brandt stieg ein, vorne neben dem Fahrer, der ein großer, dürrer Typ mit Dreitagebart, hellbraunem Haar und dunklen Augenringen war. Der Beifahrersitz war seltsamerweise vollständig mit dünner, durchsichtiger Plastikfolie bedeckt. Er sah den Fahrer fragend an.

„Wegen der Keime“, sagte der nur schulterzuckend. Wohl auch nicht alle Tassen im Schrank, was?, dachte Brandt abfällig.

„Wohin soll’s gehen?“ Auch wenn die Frage lässig klang, schien der Fahrer irgendwie angespannt, Brandt hoffte bloß, dass er nicht auf irgendeinem Drogentrip war. Ein bisschen sah der Typ nämlich danach aus.

Brandt nannte ihm die Straße und der Fahrer fuhr los.

Der Dürre war kein sehr gesprächiger Taxifahrer, wogegen Brandt nichts einzuwenden hatte, im Gegenteil. Aber diese laute Metalmusik, die er hörte, strapazierte seine Nerven, weshalb er ohne zu fragen umschaltete. Der Fahrer presste nur kurz die Lippen aufeinander, sagte aber nichts.

„Ich muss noch tanken fahren, die Strecke ziehe ich Ihnen aber ab“, sagte der dürre Typ irgendwann, als Brandt schon fragen wollte, wo der Idiot gerade hinfuhr.

„Das will ich auch hoffen“, knurrte Brandt nur missmutig.

Sie erreichten eine leere, kleine Kreuzung, die Ampel sprang gerade auf Rot um. Der Fahrer hielt brav an. Dann griff er in das Fach in seiner Tür, wahrscheinlich, um sich ein Kaugummi zu nehmen. Hoffentlich schmatzt er nicht so sehr, dachte Brandt und schaute gelangweilt aus dem Fenster, als er plötzlich eine schnelle Bewegung aus dem Augenwinkel wahrnahm, im nächsten Moment presste sich ein nasser Lappen auf sein Gesicht, bedeckte Mund und Nase. Er schlug panisch um sich und atmete hektisch ein, er hatte Angst, erstickt zu werden. Er versuchte, die Hände des Fahrers wegzureißen, die ihm jedoch unerbittlich den mit Chloroform getränkten Lappen aufs Gesicht drückten. Dann wurden seine Bewegungen langsam und unkontrolliert, er spürte, wie er die Kontrolle verlor, seine vorher panischen Gedanken drifteten in erlösendes Nichts ab.

Sven überquerte seelenruhig die Kreuzung, als die Ampel grün wurde. Brandt hing, den Lappen noch immer über dem Gesicht, regungslos in seinem Sitz.

Er fuhr zu sich nach Hause, in das große Haus am Wald, wo er einmal ein glückliches Familienleben geführt hatte. Diese Zeit kam ihm ewig lange her vor.

Dem bewusstlosen Brandt hatte er Hand- und Fußgelenke mit Kabelbinder zusammengebunden und ihm die Pistole abgenommen, die er bei ihm gefunden hatte. Brandt war offensichtlich nicht unvorbereitet gewesen.

Aber damit, seinem Taxifahrer misstrauen zu müssen, hatte er wohl nicht gerechnet.

Nachdem er geparkt und das Taxi-Schild vom Dach sowie die Folie von Brandts Sitz entfernt hatte, schleppte Sven Christian Brandt in das Zimmer am Ende des Flurs im zweiten Stock. Diesen Raum hatte er bereits seit Wochen fertig präpariert. Der Boden war mit einer dicken, weißen, abwaschbaren Plastikfolie bedeckt – er wollte schließlich keine Blutflecken auf dem Laminatboden – und er hatte sich alles bereit gelegt, was er benötigte.

Die große Handsäge nutzte er für gewöhnlich, um im Frühjahr die Obstbäume und die Kiefern zu beschneiden, mit der Axt hackte er normalerweise sein Brennholz für den Kamin. Heute würde er damit Sehnen und Knochen zertrennen. Zusätzlich hatte er sich eines der großen Küchenmesser zur Hand gelegt, mit denen sich wunderbar Fleisch schneiden ließ. Auch zwei große blecherne Tröge, die er im Keller gefunden hatte, standen bereit.

Er würde Brandt töten und anschließend seine Leiche in Stücke hacken. Dann würde er seine beiden Schäferhunde mit dem Fleisch und den Innereien füttern und seine Kochen irgendwo im Wald vergraben. Ihm war bewusst, dass sein Plan sich ein wenig verrückt anhörte und auch wenn er bei dem Gedanken keine Freude empfand – das wäre ja makaber – musste er sich eingestehen, dass ihn bereits die Vorstellung mit einer gewissen Genugtuung erfüllte.

Er würde später alle seine Spuren sorgfältig verwischen. Die Plane auf dem Boden ließ sich problemlos wieder säubern, ebenso wie die Säge, die Axt und das Messer. Das Taxi-Schild musste verschwinden, die Folie, mit der er Brandts Wagenseite ausgekleidet hatte, hatte er bereits im Müll entsorgt. Außerdem würde er das Wageninnere gründlich aussaugen und -wischen. Danach würden keine Spuren von Brandt mehr in dem alten beige-farbenen Taxi zu finden sein.

Aufmerksame Nachbarn würden sich vielleicht erinnern, dass Brandt am Tag seines Verschwindens mit einem Taxi weggefahren war. Aber niemand achtete so genau auf den Fahrer, geschweige denn kam darauf, dass er seinen Fahrgast entführte. Alle wussten, dass Brandt ein Alkoholproblem und oft Streit mit seiner Frau hatte, man würde denken, er habe einfach bloß das Weite gesucht.

Seinem Freund Paul gegenüber würde er beteuern, dass Brandt längst fort gewesen war, als er an dessen Haus ankam. Er wusste, dass Pauls Wissen darüber, dass er ein altes Taxi besaß und Brandt hatte abholen wollen, ein Schwachpunkt in seinem Plan war. Dennoch sah er kein großes Risiko darin, Paul vertraute ihm blindlings und würde nie etwas Derartiges von ihm denken, zumal er dachte, Brandt und er seien gute Freunde. Außerdem hatte Paul selbst auch einen Fehler gemacht, der ihn seinen Job kosten könnte. Einfach einer beliebigen fremden Person sowohl ein offizielles Schild besorgt sowie vertrauliche Kundeninformationen weitergeleitet. Er glaubte nicht, dass Paul ihm Probleme machen würde.

Natürlich war da auch noch die Sache mit den Dateien, die er heute morgen weitergeschickt hatte und die ihn unmissverständlich mit Brandt in Verbindung setzen würden, wenn sie herausfanden, dass er der Absender war. Aber wenn die Sache so lief, wie er sich das vorstellte, würde dennoch niemand darauf kommen, ihn für dessen Verschwinden zur Verantwortung zu ziehen. Und wenn doch, war es dann eh zu spät. Es war ihm nicht allzu wichtig, dass ihm niemand auf die Schliche kam. Hauptsache, er konnte vorher den Mörder seines Sohnes töten. Alles andere war nebensächlich.

Er legte Brandt rücklings achtlos in der Mitte des Raumes ab. Dann wartete er ein paar Minuten.

Als Brandt irgendwann die Augen aufschlug, sah er sich panisch im Raum um. Sein Blick fiel auf Sven, woraufhin seine Augen sich angsterfüllt weiteten.

Sven hielt ihm ein Foto entgegen. Es zeigte Tommy, wie er stolz auf seinem neuen Mountainbike saß. Auf dem Mountainbike, mit dem er kurze Zeit darauf den Unfall gehabt hatte. „Das ist mein Sohn, Tommy“, sagte Sven leise mit zitternder Stimme. „Er war erst fünfzehn, als er gestorben ist. Ich musste meinen eigenen Sohn beerdigen. Er ist gestorben, weil Sie ihn angefahren haben und dann einfach im Straßengraben haben liegen lassen. Sie haben nicht mal Hilfe geholt, Sie sind einfach weitergefahren. Er hat wahrscheinlich stundenlang dort gelegen, hatte vielleicht Schmerzen, die Sanitäter konnten nicht sagen, wann er bewusstlos geworden ist. Sein Arm war mehrfach gebrochen, seine Rippen angebrochen und geprellt, er hatte Schürf- und Platzwunden, Quetschungen. Und tödliche Kopfverletzungen“ Sven liefen Tränen übers Gesicht, dennoch war seine Stimme hart und kalt, als er die nächsten Sätze sagte. „Sie wären damit auch durchgekommen. Wenn Sie damals nicht in das Autohaus gekommen wären, in dem ich gearbeitet habe.“

Christian starrte ihn an, langsam verstand er, woher der Wahnsinnige seine Informationen herbekommen hatte. Was war das für ein grausamer Zufall, dass gerade der Vater des Jungen dort gearbeitet hatte, wo er nach dem Unfall sein Auto hatte verkaufen wollen? „Hören Sie, es tut mir Leid, was ich getan habe, ich habe es jeden Tag aufs Neue bereut, das müssen Sie mir glauben, aber das ist doch verrückt, bitte, lassen Sie mich einfach -“

Sven unterbrach seinen panischen Redeschwall. „Sie können sagen, was sie wollen. Es ändert für mich gar nichts. Ich werde Sie töten. Ich hätte es schon längst getan, aber ich wollte, dass Sie wissen, dass Sie für den Mord an meinem Sohn sterben. Und ich es bin, der Sie töten wird.“

„Bitte, hören Sie mir zu, es war kein Mord, ich wollte das nicht, wirklich, ich wollte niemals jemanden töten, ich-“

„Sie haben ihn da liegen lassen!“, schrie Sven. „Das war eine bewusste Entscheidung, es war Ihnen egal, ob er stirbt! Sie haben ihn ermordet!“ Er sprang wutentbrannt auf. „Und jetzt, endlich, werden Sie dafür bezahlen.“ Er hielt den Mercedes-Stern hoch, den er in der Hand gehalten hatte. „Erkennen Sie den wieder? Sie dachten wohl, Sie wären ihn losgeworden, was? Es war clever, ihn nicht an der Unfallstelle liegen zu lassen. Aber nicht clever genug, ihn irgendwo aus dem Fenster zu werfen. Wissen Sie, wie lange und wie weit ich gelaufen bin, um ihn zu finden? Um sicher zu sein, dass Sie es gewesen sind? Glauben Sie mir, nichts wird mich davon abhalten, Sie umzubringen, gar nichts.“

„Sie sind wahnsinnig“, flüsterte Brandt.

„Mag sein“, sagte Sven nur gleichgültig. „Und was für eine Bezeichnung würden Sie für sich wählen?“ Er erwartete keine Antwort. Er hob eines der Küchenmesser auf und näherte sich Brandt, der panisch zurück robbte, was sich mit auf den Rücken gebundenen Händen als schwierig erwies.

„Warten Sie doch, bitte, ich hatte nur Angst, ich wusste nicht, was ich tun sollte, bitte, ich habe auch Familie, ich habe eine Frau, ich habe ein ganz normales Leben, bitte, ich bin auch nur ein ganz normaler Mensch -“

Sven sah ihn hasserfüllt an. „Für mich sind Sie das nicht. Sie sind der Mörder meines Sohnes, nichts weiter. Und nach dem, was Sie ihm angetan haben, fällt mir kein Grund ein, wieso Sie einfach unbeschwert Ihr Leben weiterführen sollten.“

Er kniete sich neben ihn und wollte ihm das Messer an die Kehle setzen, als Brandt plötzlich einen Arm nach vorn riss. Stahl glänzte auf und im nächsten Moment steckte ein Messer in Svens rechter Schulter. Er keuchte erstaunt auf und starrte ungläubig den Griff des kurzen Messers an, das Brandt ihm unterhalb des Schlüsselbeins in den Körper gerammt hatte. Dunkles Blut durchnässte sein Hemd, dann setzte der Schmerz ein, auf einen Schlag, so heftig, dass es ihn fast lähmte.

Christian lächelte siegessicher. Die Pistole hatte der Irre ihm zwar abgenommen, aber das kleine Klappmesser in einer seiner großen Hosentaschen hatte er wohl übersehen. Tja, damit hast du wohl nicht gerechnet, was?, dachte er mit einem triumphierenden Blick auf das Messer in der Schulter des Spinners.

Trotz seiner gefesselten Hände hatte er es geschafft, es herauszuholen und hinter seinem Rücken aufzuklappen, während der Wahnsinnige geredet hatte. Er hatte es geschafft, den Kabelbinder durchzuschneiden, auch wenn er mehrmals abgerutscht war und die Klinge sich in sein Fleisch gegraben hatte. Das glitschige Blut hatte alles noch erschwert, aber er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.

Der Irre kniete noch immer regungslos vor ihm, seine freie Hand tastete kurz reflexartig nach dem Messer in seinem Oberkörper. Dann schien er plötzlich aus seiner Starre zu erwachen, hob ruckartig das Küchenmesser, das er immer noch in der Hand hielt und wollte es Brandt die scharfe Klinge über die Kehle ziehen, aber seine Bewegungen waren zu langsam und unkontrolliert. Christians Klappmesser steckte auf der rechten Seite, in der Schulter des Armes, mit dessen Hand er das Küchenmesser hielt.

Daher war es Christian ein Leichtes, seinem Gegner mit einem gezielten Schlag gegen die Hand, mit der dieser den Messergriff umklammerte, die Waffe aus der Hand zu schlagen. Das Küchenmesser fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den planenbedeckten Boden. Christian, der wegen seiner gefesselten Fußgelenke immer noch vor dem Durchgeknallten sitzen musste und nicht aufstehen konnte, schaffte es dennoch, sich das Messer aufzuheben. Er hielt es drohend mit der Spitze auf den Irren, er lächelte selbstzufrieden.

„Du hattest wohl keine Ahnung, mit wem du dich anlegst, hm?“, fragte Brandt spöttisch. „So leicht lasse ich mich nicht umbringen, du Spinner. Und weißt du was? Sobald du tot bist, besteht für mich keinerlei Gefahr mehr.“

Er ließ das Messer kurz sinken – das Risiko, dass der Irre aufspringen und versuchen würde, sich die Säge oder Axt, die jedoch ein gutes Stück entfernt lagen, zu schnappen, nahm er in Kauf – und schnitt mit ein paar kräftigen kurzen Bewegungen den Kabelbinder zwischen seinen Füßen durch. Den Verrückten behielt er dabei mit kontrollierenden Blicken nach oben im Auge. Aber dem schien bewusst zu sein, dass Christian in jedem Fall schneller sein würde als er.

Mit freien Händen und einem größeren Messer gestaltete es sich deutlich einfacher, die Fesseln zu durchtrennen. Er stand auf und hielt das Küchenmesser weiterhin auf seinen Gegner gerichtet, auf den er jetzt hinabschauen konnte.

Entgegen seiner Erwartungen brachte der Verrückte ein schiefes, schadenfrohes Lächeln zustande. „Ich habe alles, was ich an Beweisen gesammelt habe, heute Morgen an die Polizei geschickt. Für den Fall, dass etwas schief läuft“, keuchte er.

Brandt schaute ihn verdutzt an. „D-das ist doch gelogen! Das macht keinen Sinn, du wolltest mich umbringen, wieso hättest du die Polizei nachträglich wieder auf mich aufmerksam machen wollen?“ Er setzte wieder ein herablassendes Lächeln auf. „So leicht lasse ich mich nicht verarschen.“

Der Verrückte schüttelte den Kopf und wollte ungelenk aufstehen, aber Brandt stieß ihn grob zurück, sodass er wieder auf die Knie fiel. „Ich habe es anonym geschickt und hätte meine Spuren gut verwischt“, stieß der Vater des toten Jungen hervor. „Sie wären einfach verschwunden gewesen… ich… ich hatte das alles lange geplant. Sie hätten sicherlich angenommen, Sie wären einfach freiwillig abgehauen, raus aus Ihrem Leben, mit dem Sie so unzufrieden waren. Vielleicht auch, um nach Ihrer Fahrerflucht irgendwo von vorn anzufangen. Aber selbst wenn sie mich erwischt hätten… es wäre mir egal gewesen“ Er atmete schwer, sein Gesicht war kurz schmerzverzerrt, aber er sprach weiter. „Ihren guten Ruf habe ich dadurch nun ebenfalls zerstört. Sie sollten…“, er hustete, „lieber so schnell wie möglich verschwinden. Sie werden bereits nach Ihnen suchen. Sie werden meinen Hinweisen nachgehen… Ich habe ihnen alles geschickt, was ich hatte, alle Fotos und Belege, die Widersprüche, in die sie sich verstrickt haben… die Beweise, dass Sie es gewesen sein müssen…“

Brandt umklammerte den Griff des Messers so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Dann machte er einen Schritt auf den am Boden Knienden zu und stach wütend erneut auf ihn ein, diesmal mehrmals in den Brustkorb, die Klinge des Küchenmessers glitt zwischen den Rippen seines Opfers hindurch . „Hoffentlich verreckst du langsam“, zischte er ihm entgegen, dann warf er das blutige Messer abfällig in eine der hinteren Ecken des Raumes. Er würde es nicht mehr brauchen.

Er trat noch einmal nach dem Verletzten, der blutend und keuchend nach hinten gekippt war, sprintete dann durch den Raum, riss die Zimmertür auf und rannte los, den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Sven richtete sich noch einmal auf, auch wenn sein Körper sich aufgrund der vielen Wunden in seinem Oberkörper dagegen sträubte, und rief so laut, wie er es noch konnte: „Benny, Amy?“

Er hörte ein leises Bellen als Antwort aus dem unteren Stockwerk. „Fasst!“

Einige Sekunden später hörte er durch die geöffnete Tür aus dem ersten Stockwerk einen Aufschrei, das wütende Gebell von Hunden und kehliges Knurren.

Christian war gerade am Fuß der Treppe angekommen, als er die zwei großen Schäferhunde auf sich zu stürmen sah. Er hatte es nicht für nötig erachtet, ein Messer mitzunehmen oder nach seiner Pistole zu suchen, er hatte sich die Autoschlüssel des Irren schnappen und einfach mit dessen Auto wegfahren wollen, wohin wusste er noch nicht. Jetzt wünschte er sich, er hätte wenigstens noch ein Messer bei sich. Einen kurzen Moment lähmte ihn die Panik, dann wollte er sich umdrehen und zurückrennen, bloß weg von den zähnefletschenden Hunden. Wieder rauf in das Zimmer, in dem genügend Gegenstände gelegen hatten, die man als Waffen einsetzen konnte. Er brauchte nur irgendetwas, um sich gegen die wütenden Tiere wehren zu können und sei es nur ein Küchenmesser. Aber kaum dass er drei Stufen wieder hinauf gesprintet war, spürte er einen scharfen Schmerz durch seinen linken Arm schießen, die Kiefer des einen Hundes umschlossen seinen Unterarm, seine Zähne gruben sich in sein Fleisch, schleiften auf dem Knochen. Er schrie auf, nur wenige Augenblicke später biss der zweite Hund ihm knapp unterhalb des Handgelenks in seinen anderen Arm.

Brandts Schmerzensschreie hallten durch das Haus, vermischt mit dem Knurren der Hunde.

Sven wusste, dass sie ihn in Stücke reißen würden. Er hatte ihnen den Befehl dazu gegeben und seine Hunde gehorchten aufs Wort. Fassen bedeutete für sie nicht nur aufhalten, sondern töten. Sven hatte es ihnen beim Jagen mit Wildtieren und mit Puppen beigebracht. Bevor Tommy gestorben war, hatten sie nur harmlose Tricks wie Sitz und Platz oder Bleib beherrscht, aber danach hatte er sie auch für solche Dinge trainiert, für den Ernstfall, zu seinem Schutz. Falls Brandt ihn bei seiner Observierung bemerkt und ihn irgendwann bedroht hätte oder etwas in der Art. Was sich jetzt ausgezahlt hatte, auch wenn er eigentlich nie mit so einer Situation hätte rechnen können.

Wenn Brandt Glück hatte, bissen sie ihm schnell die Kehle durch.

Die Hunde zerrten ihn zurück, er stolperte die letzten beiden Stufen hinunter und stürzte zu Boden, einer der Hunde ließ seinen Arm los, der Biss des anderen lockerte sich kein Stück. Er versuchte panisch, wieder aufzustehen, aber das Gewicht des einen Hundes drückte ihn wieder zu Boden, seine Pfoten pressten sich auf seine Schultern, das Tier stand direkt über ihm. Mit seinem einen freien Arm schlug er nach der Schnauze des Hundes, aber aufgrund seiner Verletzungen war der Schlag zu schwach. Der Hund wich nur kurz winselnd zurück, dann knurrte er wütend und schnappte nach Christians Kehle. Er konnte gerade noch ausweichen, aber er wusste, dass er keine Chance mehr hatte. Der zweite Hund zerbiss seinen rechten Arm, dann ließ er kurz von ihm ab, im nächsten Moment bohrten seine Zähne sich in seine Seite, zerfetzten Muskeln und weiches Fleisch. Der erste, der über ihm stand, machte nun einen Satz nach vorn und seine zuschnappenden Kiefer umschlossen Christians Hals. Mit einem Ruck riss der Hund Tommys Mörder die Kehle heraus.

Schließlich verstummten Brandts Schreie, Sven hörte nur noch seine Hunde.

Er hatte inzwischen mühevoll sein Handy aus seiner Hosentasche gezogen und wählte mit blutigen Fingern die Nummer des Notrufes, auch wenn er selbst nicht genau wusste, warum. Eigentlich war es ihm egal, ob er lebte oder starb. Brandt war tot, es gab nichts mehr, dass er tun musste. Aber er wollte auch nicht mehr unbedingt sterben. Er überließ es dem Schicksal. Entweder, der Krankenwagen kam rechtzeitig und seine Wunden waren nicht tödlich oder er verstarb eben hier.

Er war sich auch bewusst, dass wenn man ihn und Brandt so in seinem Haus vorfand, bald klar sein würde, dass er versucht hatte, ihn umzubringen. Aber auch das war ihm egal. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, ihm war übel, aber trotz allem spürte er diese unbeschreibliche Erleichterung. Der Mörder seines Sohnes war tot. Auch wenn es keinesfalls so gelaufen war, wie er es geplant hatte, für ihn zählte nur diese Tatsache. Was jetzt danach mit ihm selbst passierte, war ihm gleichgültig.

Vielleicht hatte er nur einen Krankenwagen gerufen, weil er nicht durch Brandts Hand sterben wollte, sinnierte er. Natürlich würde Brandt niemals davon erfahren, aber dennoch würde es sich anfühlen, als verschaffe er ihm die Genugtuung, ihn besiegt zu haben, wenn er jetzt starb.

Kurz nachdem er keuchend ein paar Sätze an den Notruf weitergegeben hatte, hörte er, wie jemand die Treppe hinauf kam. Panisch schaute er auf die Tür und erwartete Brandt zu sehen, wie er zwar verletzt und blutverschmiert, aber lebendig mit blitzenden Augen ins Zimmer humpelte, um ihn nun doch endgültig zu erledigen. Aber es waren nur seine Schäferhunde, beide mit blutverschmierten Schnauzen. Sven lächelte erleichtert, als sie mit gesenkten Köpfen zu ihm liefen.

Sie stupsten ihn vorsichtig mit ihren feuchten Nasen an, Benny leckte ihm kurz besorgt über das Gesicht. Die beiden winselten leise und legten sich dann neben ihn. Er strich ihnen übers Fell, bis er irgendwann, als er schon dabei war, in die Bewusstlosigkeit abzudriften, die Sirenen der Rettungswagen näherkommen hörte.

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