MilliAmnesie in Paris

Weissagung eines chinesischen Glückskekses: In den Tiefen des Gehirns findet sich Weisheit.

 

Sie erwachte mit einem dröhnenden Schädel. Ihr war, als wenn sich in ihrem Kopf Handwerker austobten. Mit großer Wucht und Ausdauer schmiedeten sie Sperre und Schwerter ohne Unterlass. „Hatte sie einen Kater?“ Sie schlug die Augen auf. Orientierungslos erkannte sie, dass sie auf einer dunkelgrünen Tagesdecke lag. Seltsam mutete sie diese Decke an. Ihr Blick glitt weiter zu ihrem gelben Rock und den passenden gelben Pumps, die sie noch an den Füßen trug. Sie lag in ihrer Kleidung im Bett. „Mit Schuhen, sehr mysteriös.“ Sie bewegte sich unruhig. Die Koordination ihrer Arme und Beine wollte nicht richtig funktionieren. Fast wäre sie vom Bett gefallen. Sie klammerte sich an die Decke. Es fröstelte sie. Sie wollte sich zu decken, aber sie lag auf der Decke und der Blazer schränkte ihre Bewegungsfreiheit ein. Unbequem eng lag er an ihrem Körper. Sie wollte sich erheben, aber der stechende Schmerz, der durch ihren Schädel fuhr, änderte ihr vorhaben. „Liegenbleiben“, befahl sie sich selbst. Dann würde der Schmerz wieder verschwinden.

Als sie erneut erwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Ihre Augen wanderten nach links. Zwei Fenster, verschlossen von einer Jalousie. Die sanfte Helligkeit des Raumes stammte von einer Lampe am Kopfende des Bettes. Metallischer Fuß, mit LED-Leuchten im senkrechten Stab. „Praktisch, funktional, aber hässlich“, urteilte sie. „Wie war sie nur in dieses Zimmer gekommen?“ Ein leichter Schauder durchfuhr sie. Sie hatte nicht den blassesten Dunst. Sie hatte das Gefühl, als wenn ihre Gedanken an einer Wand abprallten. Angst keimte in ihr auf, als ihr klar wurde, sie wusste nicht nur, wo sie nicht war, sondern sie wusste auch nicht, wer sie war! Sie riss die Augen auf, blickte auf ihre Hände. Schaute sie an, doch sie kamen ihr fremd vor. Unbekannt, unvertraut. Die gehörten nicht zu ihr. Sie richtete sich auf, der Schmerz schoss durch ihren Kopf. Vorsichtig tastete sie ihn mit den Händen ab. Am Hinterkopf, da saß das Zentrum des Schmerzes. Sie strich vorsichtig darüber. Eine Schwellung registrierte sie. Eine faustgroße Verdickung, die wehtat. Nicht nur, wenn sie die Stelle berührte, sondern auch wenn sie sich bewegte. Furcht und Schmerz überrollten sie. Sie spürte, wie ihr Übel wurde. „Ins Badezimmer“, befahl sie sich selbst. Sie stand auf, knickte ein und schleppte sich auf allen vieren über den Teppichboden. Seltsam klar sah sie die winzigen Staubflusen die sich auf der Oberfläche abzeichneten. Sie stieß die Tür zum Badezimmer auf, zog sich an der Toilettenschüssel hoch, klappte den Deckel auf und übergab sich. Danach ging es ihr besser. Die Übelkeit war verschwunden, der Schmerz im Kopf hatte nachgelassen. Sie drehte den Hahn auf und badete ihr Gesicht in kaltem Wasser. Mit nassen Händen strich sie über die dicke Beule. Ah, das tat gut. Kurz entschlossen nahm sie das kleinste der bereitliegenden Handtücher, feuchtete es an und legte das Tuch auf ihren Hinterkopf. Aufatmend schaute sie in den Spiegel. Ihr Blick traf auf hellbraune Augen, sanft geschwungene Brauen, eine lange schmale Nase und schulterlange, braune Haare.

„Wer bist du?“, fragte sie ihr Spiegelbild. „Ich muss dich doch kennen? Ich muss doch wissen, wer ich bin. „Doch diese Frau im gelben Kostüm war ihr gänzlich unbekannt. „Wer läuft schon in einem gelben Kostüm rum? Dazu auch noch in diesen unbequemen Pumps? Farblich passend zum Outfit, aber so was von unbequem.“ Sie schwankte aus dem Bad und kickte die Schuhe ärgerlich von ihren Füßen. Wenigstens lenkte sie dies von ihrer grauenhaften Angst ab, die in ihr hochkroch, sobald sie sich eingestand, dass sie nicht wusste, wer sie war. Eine dunkelgraue Wand versperrte ihr den Zugang zu ihrem ICH.

„Ich bin in einem Zimmer, wahrscheinlich einem Hotelzimmer“, das erkannte sie. Mit der einen Hand presste sie den kühlen Umschlag an ihren Kopf, mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Was wusste sie noch? Du bist ein Mensch, eine Frau, in einem Hotel. Doch warum war sie hier? Sie ging schwankenden Schrittes zu den Fenstern hinüber. Sie schob die Lamellen der Jalousie auseinander und spähte hinaus. Blauer Himmel mit weißen Wölkchen, waren nur unwichtiges Beiwerk, denn am Ende des Horizonts stand der Eiffelturm.

„Ich bin in Paris.“ Erleichterung durchflutete sie. Das war doch ein Anfang. Sie wusste nun, wo sie war. Im weitesten Sinne. „Aber was mache ich in Paris?“ Sie überlegte, strengte sich an. Versuchte einen kleinen Faden der Erinnerung zu erwischen, um die graue Wand zum Einsturz zu bringen. Doch es klappte nicht. Ein melodisches Klingeln erfüllte den Raum. Sie suchte mit den Augen das Zimmer ab. Auf dem Sideboard stand ein Telefon. Sie hob den Hörer.

„Hallo“, rief sie und lauschte gespannt.

„Bonjour“, hörte sie. Dann rauschte ein Schwall französischer Worte an ihr Ohr. „Oh je“, dachte sie. „Ich bin zwar in Frankreich, aber ich kann anscheinend wenig Französisch.“

„Pardon“, sagte sie. „Ich verstehe sie leider nicht.“

„Entschuldigung“, kam es aus dem Hörer. „Ich dachte, ich spreche mit der Rezeption.“ Sie erkannte, dass es eine männliche Stimme war. Seine Stimme klang jung. Der französische Akzent sympathisch.

„Ich wollte den Termin verlegen.“

„Termin? Was für einen Termin“, dachte sie panisch. Antwortete aber diplomatisch mit einem neutralen „ja.“

„Sie wollten sich doch mit mir treffen. Mir weißes Pulver mitbringen und Tabletten. Na sie wissen schon.“

„Weißes Pulver und Tabletten? War sie eine Drogendealerin?“ Ihre Gedanken überschlugen sich.

„Aber diese Woche klappt es nicht. Ich bin mitten im Training. Aber es wäre gut, wenn ich die notwendigen Tabletten bald bekäme.“

Ihre Augen weiteten sich.

„Ich muss geschmeidig bleiben. Aber die Schmerzen hindern mich daran, meine Bewegungen flüssig abzurufen.“

Ein Sportler, dachte sie, der sie nach Tabletten und einem Pulver fragte. „Was ist mein Beruf?“, fragte sie sich verzweifelt. Verschrieb sie verbotene Substanzen? Aber auch, als er sie mit Madame Siemer ansprach, fühlte sie keine Regung des Erkennens. „Madame Siemer, war das wirklich sie?“ Der Name kam ihr fremd und unbekannt vor.

Die Stimme war verstummt. Er wartete auf ihre Antwort.

„Wann passt es Ihnen denn?“, sagte sie rasch.

„Am Dienstag. Ich bin dann in Nancy. Dann hätten sie es auch nicht so weit. Wäre das ok?“

„Keine Ahnung“, überlegte sie. Aber sie antwortete souverän, das war sie wohl gewöhnt, das bereitete ihr keine Schwierigkeiten. „Ja, das kann ich einrichten. Nachmittags?“, wagte sie den nächsten Vorstoß.

„Ja, um drei.“

„Fein.“ Sie ging zurück ins Zimmer. Auf dem kleinen Tisch lagen Block und Stift. WILLKOMMEN IM HOTEL SAINT MARC UND EINEN SCHÖNEN AUFENTHALT, stand auf dem obersten Zettel.

„Bien, merci.“

„Stopp“, rief sie rasch. „Wo genau treffen wir uns?“

„Im Übungsheim am Sportplatz. Dort wo wir uns schon öfters getroffen haben. Da gibt es einen Massageraum, den können wir als Untersuchungsraum benutzen. Bitte, bringen sie ihren Arzneikoffer mit, damit sie die passenden Kräuter und Substanzen dabei haben. Es ist wichtig. Ich muss in drei Wochen topfit sein.“

„Ja natürlich“, beruhigte sie ihn mit positiv klingender Stimme. „Also bis dann. Au revoir.“

Dann schrieb sie auf den Zettel. Ich heiße Siemer mit Nachnamen. Führe Untersuchungen durch, habe Arzneien und Kräuter dabei. Bin ich Ärztin? Sie horchte in sich hinein. Doch kein befreiendes Gefühl der Erkenntnis bereitete sich in ihr aus. Nein, die graue Wand stand weiterhin starr an ihrem Platz. Gab nicht nach. Lies sie weiterhin im Ungewissen.

Vielleicht hatte sie einen Koffer dabei? Sie öffnete die Türen und wurde fündig. Ein kleiner Reisekoffer stand ordentlich abgestellt im Schrank. Natürlich in Gelb. Sie zog kurz die Nase graus. Was für eine schrecklich auffallende Farbe. Sie hob ihn heraus, legte ihn auf den silbergrauen Tisch und klappte ihn auf. Sauber und ordentlich war ihr Koffer gepackt. „Ich bin also ordentlich“, speicherte sie die neue Eigenschaft, die sie über sich herausgefunden hatte. „Und ich liebe freizügige Nachtwäsche.“ Vorsichtig faltete sie einen dünnen Stoff auseinander. Er war durchsichtig und entpuppte sich als Babydoll. Dazu gab es noch ein passendes Höschen. „Oh Mann“, dachte sie, „bot sie ihren Körper an?“ Zusammen mit Massage und Kräutertinkturen, damit die Sportler geschmeidig und gelenkig blieben? Sie legte das durchsichtige Etwas zurück in den Koffer und resümierte. Ich weiß zwar nicht, wer ich bin, wo ich wohne und was ich in Paris vorhabe, aber andere Dinge wusste sie, dämmerte es ihr. Sie wusste, dass sie kaum französisch sprach, aber deutsch. Das der durchsichtigen Nachtwäsche, wie diese in ihrem Koffer, etwas leicht Verruchtes anhaftete. Sie wusste, dass es Prostituierte gab und Freier, und Sportler und Ärzte. Aber was genau machte sie?

Es klopfte an der Tür. Wer war das? Sollte sie öffnen? Langsamen Schrittes ging sie zu Zimmertür. Ungeduldig klopfte es wieder an die Tür.

„Ich bin es. Mach schon auf“, klang es herrisch. Sollte sie wirklich öffnen? Die nächsten Worte, „Anne, los beeil dich“, gaben den Ausschlag. Sie hieß also Anne. Ihr Herz klopfte freudig erregt. Anne, klang das vertraut? Nicht wirklich. Anne Siemer. Nichts regte sich in ihrem Gehirn. Aber sie musste unbedingt mehr über sich herausfinden. Sie öffnete die Tür. Der Mann vor der Tür drängte sich schnell an ihr vorbei ins Zimmer.

„Warum hat das nur solange gedauert?“ Verärgert sah er sie an. „Du weißt doch, dass mich keiner sehen darf. Jetzt erst recht nicht.“

Er ging ins Schlafzimmer. Sie trottete brav hinterher.

„Aber was soll‘s. Machen wir das Beste draus.“ Er drehte sich theatralisch mit weit geöffneten Armen nach ihr um. Blaue Augen strahlten sie einschmeichelnd an. Er zog sie an seine Brust. Seine Arme umschlangen ihren Körper. Sein Mund suchte den ihren. Seine Hände wühlten sich in ihre Haare. Er berührte ihre Beule. Sie zuckte vor Schmerz zurück. Er ließ sie sofort los.

„Was soll das?“, fragte er. „Wegen dir bin ich hierher geeilt. Und jetzt zickst du rum. Du wolltest doch zum Abschied eine letzte Liebesnacht“, erklärte er ihr vorwurfsvoll.

„Aber es ist keine Nacht mehr“, wand sie ein. Sie schaute sich den ihr gänzlich fremden Mann an. Das war also ihr Geschmack? Blonde Haare, stahlblaue Augen, gut aussehend, aber seinen Zenit hatte er schon überschritten. Sie sah es an der weichen Haut unter dem Kinn, dem leichten Bauchansatz, den auch der gut geschnittene Anzug nicht verdecken konnte.

Er beäugte sie missbilligend. „Wie siehst du überhaupt aus?“ Demonstrativ ließ er seinen Blick von oben nach unten wandern. „So derangiert.“

Mit einem so einfühlsamen Mann wollte sie eine letzte Liebesnacht verbringen? Sie war innerlich entsetzt über ihren Geschmack.

„Himmel, wir hatten doch darüber gesprochen. Irgendwann musste es vorbei sein. Darüber habe ich dich nie im Unklaren gelassen.“

Sie schaute ihn ratlos an. Was meinte er bloß?

Er fasste es als Aufforderung auf, ihr die Sachlage genau zu erklären.

„Du weißt, jetzt nach dem ihre Krankheit diagnostiziert ist, kann ich sie unmöglich verlassen. Kannst du dir vorstellen, was die Presse dazu schreiben würde?“

„Deine Frau ist krank?“, fragte sie nach.

„Natürlich, wer denn sonst.“ Kopfschüttelnd sah er sie an.

Ihr Blick wanderte zu seiner rechten Hand. Ein breiter Goldring steckte am Ringfinger. Sie blickte zu ihren Händen. Kein einziger Ring zierte ihre Finger.

Er stand auf, ging zu ihrem Koffer und griff nach dem Baby Doll. „Da ist das schöne Stück.“ Auffordernd hielt er es ihr entgegen. „Los mach schon. Zieh es an.“ Er lächelte sie breit an. „Dann können wir loslegen.“ Er schaute auf seine protzige Armbanduhr. „Uns bleibt knapp eine Stunde. Für unser letztes Mal.“

Ihr Magen rebellierte. Er knotete sich zusammen. Nein, schrie es in ihr. Mit diesem Typ wollte sie jetzt nicht ins Bett gehen. Auch wenn seine blauen Augen sie anstrahlten. Erwartungsvoll und vielversprechend.

An der Tür klopfte es erneut. Er ging zur Tür. „Ich habe eine Kleinigkeit zum Essen bestellt. Und Champagner“, erklärte er, während er die Tür öffnete. Ein junger Mann in Uniform schob einen Servierwagen herein. „Ihre Bestellung“, sagte er eifrig. Er schob den Wagen zum Tisch neben dem Sessel. „Viel Vergnügen“, fügte er leicht anzüglich hinzu, als er das durchsichtige Nachthemd in den Händen des Mannes erblickte. Außerdem wartete er demonstrativ auf Trinkgeld. Ihr Liebhaber mit den blonden Haaren schaute sie auffordernd an. Sie schüttelte die Achseln. Sie wusste nicht, wo sie ihr Geld aufbewahrte. Moment mal: Geld, Portemonnaie, Handtasche. Diese Verbindung fand sie auf einmal sehr einleuchtend. Wenn sie ihre Handtasche fand, fand sie auch ihren Pass. Diese Erkenntnisse purzelten durch ihr Gehirn. Der junge Bedienstete verschwand sichtlich enttäuscht.

Sie drehte sich erleichtert zu dem ihr bis jetzt immer noch gänzlich unbekannten Mann herum.

„Das war sehr unhöflich“, schnauzte er sie an.

„Warum hast du kein Trinkgeld gegeben?“, fragte sie gelassen.

„Ich hab nie Kleingeld bei mir.“ Er schüttelte verärgert den Kopf. „Das weißt du doch.“

„Nein, das weiß ich nicht“, dachte sie. „Aber das weißt du natürlich nicht. Es kommt ja nicht oft vor, dass jemand an Amnesie leidet.“ Ha, ihr ging es besser. Dieser Begriff kam ihr vertraut vor. Irgendwann würde sie auch wissen, wer ihr unfreundlicher Liebhaber war.

„Wie lange waren wir zusammen?“, gurrte sie zu ihrem Erstaunen. Das plötzliche Umschalten, in die Rolle der naiven Verliebten, fiel ihr leicht.

„Vier Jahre“, prahlte er. „Komm schon, geh ins Bad. Mach dich zu Recht, während ich die Flasche öffne.“

„Willst du dich nicht auch ein wenig frisch machen. Du siehst leicht verschwitzt aus“, antwortete sie ruhig. Innerlich kochte sie. Sie war vier Jahre lang mit einem verheirateten Mann zusammen? Wohl immer in der abwegigen Hoffnung, eines Tages wird er sich scheiden lassen, um sie zu ehelichen. Gott wie dumm war sie denn? Sie war entsetzt über sich selbst. Würde sie sich leiden können, wenn sie ihr ICH wieder gefunden hatte?

„Wir haben einfach keine Zeit“, blaffte er sie an. Er hob den Deckel des Tabletts. Hungrig schaute er auf ein köstlich arrangiertes Essen. Er senkte den Deckel mit sichtlichem bedauern. Er drehte sich zu ihr um. „Ich bin nur deinetwegen hierher gefahren, weil du so traurig am Telefon klangst, als ich dir meine Entscheidung mitgeteilt habe. Du hast sogar geweint, so unglücklich warst du“, erklärte er ihr. „Das hat mich tief berührt.“

„Oh mein Gott“, dachte sie entsetzt. „Dieser Arsch“, jetzt war sie bestürzt über ihre gedachten Worte. Er hatte ihr am Telefon den Laufpass gegeben und sie hatte ihn um eine weitere Nacht angebettelt. Ihn angefleht und hatte geweint. „Wie niveaulos“, fand sie. „Wie demütigend!“ Mit vor Verblüffung großen Augen schaute sie ihn ratlos an.

„Geh doch bitte zuerst ins Bad“, bat sie. Sie klimperte mit ihren Wimpern und schmachtete ihn an. Hoffentlich konnte sie ihn damit bezirzen.

„Also gut“, gab er nach. „Dir zuliebe.“ Er eilte ins Bad. „Ich beeil mich“, er zwinkerte ihr zu und schloss die Tür.

Sie flitzte durch das Zimmer, schnappte sich einen Stuhl und stellte ihn vor die Badezimmertür. Die Lehne passte genau unter den Griff. Ha, nun war er eingesperrt. Mit einem plötzlich überwältigenden Hungergefühl setzte sie sich neben den Servierwagen, entfernte die zwei Wärmehauben, griff nach der Gabel und pickte sich Häppchen heraus. Sie kaute genüsslich, als er bemerkte, dass die Tür klemmte. „Blöde Tür“, schimpfte er. „Liebling kannst du mir bitte helfen.“

Sie erhob sich, blieb vor der verschlossenen Tür stehen und tat, als ob sie am Griff zog.

„Sie klemmt“, teilte sie ihm mit. Sie sah voller Vergnügen zu, wie er von innen umsonst an der Tür rüttelte.

Während er schimpfte und zeterte, rumpelte und fluchte, verspeiste sie mit viel Genuss das ganze Essen. Genoss den gekühlten, frisch gepressten Orangensaft und öffnete die Sprudelflasche. Beim Sekt zögerte sie. Aber dann entschloss sie sich dagegen. Sie wollte einen klaren Kopf, ha, ha, bewahren. Sie wusste immer noch nicht, wer der Mann war, den sie ins Badezimmer eingeschlossen hatte. Kurz entschlossen stand sie auf, ging zu seinem Jackett, welches er nachlässig auf das Bett geworfen hatte, und durchsuchte die Taschen. Ein Geldbeutel und ein Handy waren ihre Beute. Sie klappte das Portemonnaie auf. Mehrere Kreditkarten, eine schwarze, eine goldene und ein silberne sowie ein dickes Bündel Geldscheine. Hatte sie es mit ihm vier Jahre ausgehalten, weil er reich war? War sie vielleicht bettelarm? Sie horchte in sich hinein, aber ihr Kopf meldete keine Rückmeldung. Nichts, Nada. Sie gab es immer noch nicht. Aber Geld konnte man immer gebrauchen, da war sie sich sicher. „Woher weißt du das?“ „Keine Ahnung!“ Sie nahm sich zwei Hunderter. War sie vielleicht eine professionelle Diebin? Sie klappte den Innenteil nach außen. Legte seinen Führerschein und seinen Pass frei. Dominik Hirschbaum stand unter seinem lächelnden Porträt. Seine blauen Augen blitzten unter seiner kunstvollen Föhnfrisur. Sie schrieb sich in aller Seelenruhe seine Daten ab.

„Cherie, bitte, hilf doch ein bisschen mit“, ertönte die immer kläglichere Stimme aus dem Bad.

Sie eilte zur Tür. „Tue ich doch, mein Liebling. Aber diese dumme Tür klemmt. Soll ich Hilfe holen?“

„Nein, bloß nicht“, wehrte er panisch ab.

Sie lächelte amüsiert. Von ihrer Liaison durfte schließlich niemand erfahren. Vor allem nicht seine Ehefrau. Das Handy nahm sie unentschlossen in die Hand. Das Ding war ein Handy, da war sie sich sicher. Doch was machte man damit? Sie schwamm im grauen, trüben Wasser und erkannte den Boden nicht. Auf dem Display erschienen, wie von Geisterhand, viele bunte kleine Abbildungen. Erschrocken ließ sie es aufs Bett fallen. Ihr Instinkt verriet ihr, dass das Handy wichtig war, aber sie wusste nicht warum. Nach kurzer Überlegung steckte sie es zusammen mit dem Geldbeutel zurück in sein Jackett.

„Liebling bitte, streng dich an. Die Tür muss einfach aufgehen. Ich muss fahren“, beschwor er sie aus dem Badezimmer. „Mir läuft die Zeit davon.“

Gut, dachte sie. Dann bleibt uns ein sexreicher Abschied erspart. Sie schlich zur Tür. Sie hörte, wie er seufzte. „Vielleicht sollten wir uns beide kurz ausruhen, um es dann gemeinsam zu versuchen.“

„Gute Idee“, stimmte er zu. Er hörte auf, an der Tür zu rütteln. Leise nahm sie den Stuhl weg und stellte ihn zurück an seinen Platz.

„Eins, zwei drei“, gab sie den Takt an. Bei drei drückte sie die Klinke nach unten, während er sich dagegen stemmte. Die Tür flog auf und er hinterher. Nur mit viel Mühe konnte er einen Sturz vermeiden. Mühsam verbiss Anne sich ein Lachen. Er drehte sich zur Tür um und schmetterte sie voller Wut zu.

„Aber mein Liebling“, flötete sie. „Wir wollen doch kein Aufsehen erregen.“

„Ich werde mich beschweren“, fing er wütend an.

„Pst, wir dürfen doch nicht auffallen.“ Sie legt ihm ihren Zeigefinger auf den Mund.

„Du hast recht“, gab er schließlich lammfromm nach. Er griff nach seinem Jackett, schlüpfte hinein und gab ihre einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Ohne großes Bedauern sah sie zu, wie er das Zimmer verließ.

Sie öffnete mehrere Schubladen, bis sie die Handtasche entdeckte. Eine Gelbe, natürlich, die passte ja so gut zu ihren Schuhen und dem Kostüm und dem Reiseköfferchen! Wenigstens ihr Geldbeutel war nicht gelb, sondern überraschend bunt. Sie suchte Führerschein und Personalausweis heraus. Da stand es: Anne Siemer, geboren am 03.06.1977, wohnhaft in der Blumenstraße 29 in Gernsbach. Sie schaute sich neugierig das Foto an. Sie sah nett aus, fand sie. Sie blickte fröhlich und heiter in die Kamera. Ihre Haare waren länger als jetzt. Aber ansonsten gab der Pass nicht viel her. Ihren Führerschein hatte sie schon über 20 Jahre. Er war in Kleindinkelsbach ausgestellt. Der Ort sagte ihr ebenso wie ihr Wohnort nichts. Sie durchforstete den restlichen Inhalt der Handtasche. Bonbons und Kaugummis, ein Lippenstift in Korallenrot, ein grüner Eyeliner, Kamm, ein Fläschchen Desinfektionsspray und eine Puderquaste. Enttäuscht legte sie alles zurück. Irgendwie hatte sie auf mehr gehofft. Sie tastete die Tasche von außen ab. Da war doch noch etwas. Ein Päckchen Taschentücher, ein paar Tampons und ein Handy. Es war etwas größer als das von Dominik, aber wesentlich flacher. Sie drückte auf die äußeren zwei Tasten, doch es passierte nichts. Gerade als sie es wieder weglegen wollte, erschien ein gezeichneter Fingerabdruck auf dem Display. Ha, wirklich witzig. Was sollte sie damit anfangen? Ratlos schaut sie es an. Blöd. Sie steckte alles zurück. Was sollte sie nun tun? Sie erhob sich und schaut im Koffer nach. Was hatte sie noch mitgenommen, außer Reizwäsche? Einen leichten Jogginganzug, ein paar Laufschuhe, zwei Garnituren Unterwäsche, ein leichtes hellgelbes Sommerkleid und ein paar silberfarbene Ballerina. Super, wenigstens kein gelb! Sie beschloss, unter die Dusche zu gehen. In diesem Augenblick klopfte es, dann ging die Tür auf.

„Oh, sie sind noch da?“ Eine Frau in einem weißen Kittel hob ein Blatt vom Wägelchen neben ihr und schaute nach. „Angeblich wollten sie um 8:00 Uhr bereits das Zimmer verlassen“, las sie ab.

„Ich wollte gerade duschen“, erklärte Anne.

Die Frau nickte verständnisvoll. „Geht in Ordnung. Ich mache zuerst die anderen Zimmer auf dieser Etage. Danach komme ich wieder.“ Sie nickte ihr freundlich zu, drehte sich um und zog mit ihrem Wägelchen weiter.

Super, dachte Anne. Als sie duschte, überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte. Sollte sie einfach nach Hause fahren oder vielleicht doch lieber einen Arzt konsultieren? Aber sie sprach kein Französisch. Wie sollte sie dem Arzt erklären, dass sie sich an ihre Identität nicht erinnern konnte. Aber an andere Dinge. Sie wusste zum Beispiel, dass Frankreich in Europa lag. Sie wusste, dass sie bald auschecken musste, dass sie Heißhunger auf Schokolade verspürte und sie sich total abgekämpft fühlte.

Sie zog gerade ihre farblich zum Sommerkleid passende Jacke an, als die Frau im weißen Kittel erneut erschien.

„Ich bin gleich fertig“, sagte Anne. Sie zog den Reißverschluss des Koffers zu, hängte sich die Handtasche über den Arm und war bereit, das Zimmer zu verlassen.

„Einen Moment“, meinte die Frau und hielt sie zurück. „Lassen sie uns nachschauen. Vielleicht haben sie etwas vergessen. Das kommt häufig vor, vor allem wenn die Menschen es eilig haben.“

Anne blieb stehen. Sie nahm das abgezählte Trinkgeld aus ihrer Jackentasche und legte es auf den Tisch.

„Den haben sie schon beim letzten Mal fast vergessen.“ Die Frau strahlte sie an und deutete auf einen flachen silbergrauen Gegenstand im Schrank. „Ihr Laptop passt so gut zu den Möbeln, den kann man leicht übersehen.“

Anne klemmte sich das Teil unter den Arm, bedankte sich herzlich und ging mit einem leicht mulmigen Gefühl hinaus. Würde sie sich außerhalb der vier Wände behaupten? Sicherlich kamen ihre Erinnerungen bald zurück, oder nicht? Oder sollte sie lieber im Zimmer bleiben? Viele Fragen, ohne eindeutige Antworten.

Im offenen Lift standen zwei Personen. Anne wollte schnell dazu steigen, da wurde sie von beiden mit bösen Mienen angeschnauzt. „Keep distance“, forderte der dicke Mann am hinteren Ende. „Den Corona Virus zu ignorieren grenzt an Idiotie“, zischte die Frau, die neben dem Bedienpanel des Aufzuges stand. Anne blieb stehen. Auch wenn ihr nicht klar war, was sie falsch gemacht hatte, mit diesen netten Zeitgenossen wollte sie nicht zusammen sein. Sie ging betont langsam die Treppen hinab, um ihnen im Erdgeschoss nicht wieder über den Weg zu laufen.

An der Rezeption trat der Diensthabende schnell drei Schritte zurück, als sie ihren Schlüssel auf die Theke legte. Er rückte seine Gesichtsmaske zurecht und deutete auf das Schild neben ihn. Abstand halten. Zu anderen Gästen und zum Personal. Wir danken ihnen! „Pardon“, murmelte sie. „Auschecken?“, fragte der Mann. Sie nickte. Er hielt ihr eine Schale hin und deutete mit Gesten an, ihren Schlüssel dort hinein zu legen. Er leerte die Schale in einen bereitstehenden Behälter auf dem Désinfirmer – Desinfizieren stand.

„Halten sie nun ihre Kreditkarte in die Nähe des Lesegerätes.“

Zum Glück konnte Anne mit dieser Anweisung etwas anfangen. Sie nahm ihre Karte aus dem Portemonnaie und hielt sie davor, es piepste und der Mann reckte seinen Daumen hoch. Aufatmend verstaute sie ihre Karte. Der Anfang war gemacht.

„Möchten sie ihren Beleg ausgedruckt mitnehmen?“

„Oui.“

Er deutete auf ein Blatt, das von einem Drucker am Ende der Theke ausgedruckt wurde. „Nehmen sie bitte den Beleg, so vermeiden wir Kontaktübertragung über Gegenstände. Nehmen sie bitte auch ihre Autoschlüssel. Sie wurden nach dem Parken in der Tiefgarage desinfiziert und in einer Tüte eingeschweißt.“ Er zeigte auf einen Automaten, der mit einem kleinen Plopp ihren verpackten Autoschlüssel auswarf. „Halten sie die Schlüssel an die Kontaktstelle am Anfang der Tiefgarage. Ein Lichtstreifen am Boden führt sie dann zu ihrem Auto. Und denken sie bitte daran zwei Meter Abstand zu ihren Mitmenschen zu halten. Vielen Dank und beehren sie uns bald wieder.“

Anne nickte gehorsam. Sie ging zögerlich weiter. Autofahren, das war ihr geläufig, aber konnte sie, Anne Siemer mit einer Amnesie Autofahren?

„Madame Siemer“, rief jemand ihren Namen, als sie ins Freie trat. Ein großer Mann mit muskulösem Oberkörper eilte mit leichten Schritten auf sie zu. Blieb dann mit betont ausreichenden Abstand vor ihr stehen.

„Wie geht es ihnen? Haben sie die Aufregung der Nacht unbeschadet überstanden?“

Sie schaute ihn verständnislos an.

„Kommen sie, wir setzen uns für ein Weilchen auf eine der Hygienebänke.“

Er ging vor und führte sie zu einer Sitzbank, die unter einem der Alleebäume stand. „Die wird nach Gebrauch wieder gereinigt. Sie können also ganz beruhigt sein“, erklärte er ihr. Er deutete zu einem kleinen Mann, der mit einer Flasche Desinfektionsspray in der Hand, wartend an der Straßenecke stand. Ein Pärchen erhob sich, schon rannte der Mann zu Bank und sprühte sie ein. Sie beobachteten wie das Pärchen mehrere Münzen in seinen an der Hüfte angebrachten offenen Geldbeutel warf. Anne setzte sich auf die äußerste Kante der Bank. Alle Menschen waren so penibel auf Abstand und Einhaltung der Regeln bedacht. Sie wollte keinen unnötigen Ärger herauf beschwören. Ihr Begleiter setzte sich an das andere Ende.

„Sie wurden heute Nacht überfallen“, erzählte er. Aufmerksam betrachtete er sie.

Sie schaute ihn verblüfft an.

„Ich wurde Zeuge, wie sie eine dunkelgekleidete Person von hinten niederschlug. Sie klappten zusammen, er beugte sich über sie, wollte sie ausrauben. Da habe ich lauthals gebrüllt und bin von der Ampel auf der anderen Seite der Straße hierher geflitzt. Zu gern hätte ich ihn verdroschen. Doch der Feigling ist einfach davon gerannt. Also kümmerte ich mich um sie. Sie lagen wie leblos auf dem Asphalt. Erst nach einigen Minuten sind sie wieder zu sich gekommen. Sie waren ganz bleich, beharrten aber darauf, dass es ihnen gut gehe. Ich begleitete sie zu ihrem Hotelzimmer, bot ihnen an einen Arzt rufen, aber sie lehnten vehement ab.“ Er schaute sie besorgt an. „Eigentlich sehen sie immer noch nicht gut aus.“

„Das wird schon wieder“, murmelte sie.

„Vielleicht sollten sie einen Arzt aufsuchen. Ich übersetze für sie“, bot er an. Sie kam kurz ins Wanken, aber es war so ein schöner Herbsttag, die Luft war noch weich und warm vom Sommer, sie wollte keinen Arzt aufsuchen.

„Okay, sie sind selber Ärztin. Dann brauchen sie nicht notwendigerweise den Rat eines anderen“, mutmaßte er.

„Sie kennen mich?“, fragte sie.

„Na ja. Sie übernachten öfters in diesem Hotel. Zusammen mit dieser schmierigen blonden Dummsemmel, “ erklärte er ihr offen. Er blickte sie neugierig an. „Was finden sie nur an diesem Typ? Warum geben sie sich mit ihm ab, wenn sie doch mit mir zusammen sein könnten?“ Er lachte sie offenherzig an und enthüllte dabei strahlend weiße Zähne.

Das fragte sich Anne auch. „Weil er dein Sohn sein könnte“, tönte es in ihrem Kopf. Sohn, hatte sie einen Sohn? Aber der kleine Moment der Klarheit war schon wieder vorbei gezogen. Sie seufzte frustriert auf. „Ich habe eine dicke Beule am Hinterkopf.“

„Das kann ich mir vorstellen. Ich riet ihnen, ihren Kopf zu kühlen.“

Sie lächelte matt. Auch daran konnte sie sich nicht erinnern. „Ich habe leichte Aussetzer“, fing sie zögerlich an. „Ich kann mich nicht an alles erinnern. Aber das wird schon wieder“, erklärte sie zuversichtlich. Sie konnte seinen mitleidigen Blick nicht länger ertragen. „Doch sie könnten mir helfen.“ Er nickte eifrig. Er war zweifelsohne ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch. Sie holte ihr Handy aus der Tasche. „Wie bediene ich das Teil?“, fragte sie verdrossen.

„Ach, das muss ich meiner Maman auch ständig erklären.“ Er lachte beruhigt auf. „Sie schalten es hier an der Seite an und geben dann“, er schaute auf das Display, „nein, sie drücken dann ihre Fingerkuppe auf die Zeichnung des Fingerabdruckes.“ Galant nahm er ihren Zeigefinger und drückte ihn auf das Display. „Voilà, jetzt ist es entsperrt. Hier unter Kontakte sind die Daten ihrer Freunde und Bekannten hinterlegt. Sie können sie anrufen oder Nachrichten tippen.“ Er zeigte auf ein anderes Symbol. „Hiermit ist es möglich, in der ganzen Welt zu surfen.“ Sie schaute ihn unsicher an. „Alles, was sie nicht wissen, geben sie in dem Suchfeld ein und schon bekommen sie seitenlange Vorschläge zu ihrer Anfrage.“

Mit einem leichten Stirnrunzeln blickte er auf ihre Autoschlüssel, die in der Plastikhülle auf ihren Einsatz warteten.

„Sie sollten ihr Auto bald holen, sonst müssen sie wahrscheinlich noch einen weiteren Tag Parkplatzgebühren bezahlen.“

„Oh“, antwortete sie.

„Wissen sie was, ich hole ihnen das Auto. In der Zwischenzeit testen sie, ob sie mit dem Handy klarkommen. Sind sie damit einverstanden?“ Fragend schaute er sie an.

„Ja, das hört sich gut.“

„Dann bis gleich. Aber bitte nicht die Bank verlassen.“ Er schaute sie unruhig an, als ob er sich nicht sicher sein könnte, sie später in halb Paris suchen zu müssen.

„Versprochen ich werde hier sitzen bleiben und auf sie und mein Auto warten.“ Sie schaute ihm nach, wie er federnden Schrittes zum Hotel marschierte.

„So jetzt sind wir allein“, sagte sie zu ihrem Handy. „Jetzt können wir loslegen.“ Als erstes gab sie ihren Namen ein. Doch es wimmelte an Einträgen mit ihrem Namen. Sie holte den Hotelbeleg aus ihrer Jackentasche. Neugierig las sie die Angaben. Anne Siemer, Heilpraktikerin & TCM. Sie war also wirklich Heilpraktikerin mit der zusätzlichen Ausbildung in der traditionellen chinesischen Medizin. Sie wollte noch mehr erfahren. Sie tippte die Berufsbezeichnung hinter ihren Namen ein und bekam interessante Treffer. Darunter mehrere Artikel über ihre Person. Anne Siemer, die kompetente Heilerin. Mit Akupunktur gegen Schmerzen. Anne Siemer setzt auf die heilende Kraft der Kräuter. Dazu gab es Hintergrundinformationen. Seit mehreren Jahren geschieden. Zwei Kinder, Adrien und Marie. Ihre Hobbys waren Nähen und Lesen. Sie prägte sich die Namen ihrer Kinder ein. Beim vierten Eintrag landete sie auf einer Seite, auf der sie mit ihrem Wissen, Erfolgen und Erfahrungen warb. Kontaktieren sie mich, wenn sie professionelle Hilfe benötigen. Daneben war ein kleines Porträt von ihr abgebildet. Sie lächelte kompetent und zuversichtlich. „Meine Liebe“, sie schmunzelte ihr Abbild an, „kannst du auch etwas zu dem Thema Amnesie beisteuern?“, fragte Anne. Sie tippte das Wort in das angebotene Suchfeld. Kein Treffer zu dieser Anfrage erschien als Antwort. „Dumme Nuss“, beklagte sie sich bei Anne Siemer, die sie immer noch beharrlich und zuversichtlich zulächelte.

Anne wechselte zurück in das andere Suchfeld, und tippte erneut das Wort ein. Hier überschlugen sich die Treffer zum Thema Amnesie. Unzählige Einträge wollten ihr etwas zu diesem Thema verraten. Sie überflog die Seiten.

„Ein Schädel-Hirn-Trauma kann eine Amnesie auslösen. Der Gedächtnisverlust dauert bis zu 48 Stunden. Oft können sich die Menschen nicht an zentrale Informationen über die eigene Person erinnern.“ „Aha!“ „… sind aber in der Lage komplexe, gewohnte Handlungen, wie zum Beispiel das Autofahren, auszuüben.“ Im Großen und Ganzen klang es vielversprechend. Mit etwas Zeit und Ruhe, würde sie bald schon wieder alles Wissen. Aber vielleicht wollte sie gar nicht alles wissen. Sie fühlte sich gerade glücklich und frei. Kein Wunder, schließlich war sie in Paris, der Stadt der Liebe. Sie tippte nach Lust und Laune Begriffe ein, die ihr einfielen, die sie aber nicht wirklich zu ordnen konnte. Unteranderem Corona-Virus. Oh, je. Erschüttert las sie vom Ausbruch der Pandemie im Frühjahr und der zweiten Welle im Hochsommer. Kein Wunder, dass die Menschen im Aufzug vorhin so entrüstet reagiert hatten.

Peu à peu vergrößerte sie ihr Wissen. Vieles lag unter einer leichten Wolkenschicht vergraben. Doch die persönlicheren Dinge, die wurden von vielen grauen Wolkenschichten überlagert. Ab und an blitzte ein helles Licht auf, gleich darauf war es im grauen Sumpf versunken.

Sie streckte sich. Langsam wurde sie unruhig. Gerade als sie anfing, sich Sorgen zu machen, ob ihr hilfsbereiter junger Mann, vielleicht mit ihrem Auto auf nimmer wiedersehen davon war, kam er angefahren. Er saß in einem champagnerfarbenen Cabriolet.

„Du musst natürlich der ganzen Welt zeigen, dass du erfolgreich bist“, murrte ihre Tochter, als sie ihr stolz das neue Auto zeigte. Diese Szene blitzte in ihrem Gehirn auf. „Ich will Vertrauen aufbauen“, hörte sie sich sagen. „Ich will zeigen, dass ich Patienten geholfen und diese mich bezahlt haben.“

„Du hast unseren Vater bei deiner Scheidung über den Tisch gezogen. Daher kannst du dir dieses Angeber Auto leisten“, hörte sie die höhnische Antwort ihrer Tochter. Die Anschuldigung tat ihr heute genauso weh wie damals. Sie wusste haarklein, was sie daraufhin erwidertet hatte. „Er hat mich betrogen. Das hat er sich selber zu zuschreiben.“ Ihre Stimme war laut und zornig gewesen. Sie spürte sogar die Wut, die sich damals wie heute in ihr aufbauschte. Na also, ihr verstecktes ICH kam langsam aber beständig an die Oberfläche.

„Toller Wagen“, meinte ihr galanter Helfer und stieg aus dem Auto. „Mit Freisprechanlage.“ Er nahm ihr das Handy ab und setzte es in die vorgesehene Halterung. „Wenn jemand anruft nehmen sie mit dieser Taste das Gespräch an. Außerdem gibt es ein Navi. Hier“, er drückte eine Taste. „Über die Pfeiltasten können sie eingegebene Ziele auswählen oder Neue eingeben. Eine Stimme sagt an, wie sie fahren müssen. Na was meinen sie, kommen sie klar?“

Sie nickte zuversichtlich. „Ja ich komme klar. Ohne Corona, würde ich ihnen ein Küsschen auf die Wange geben, aber so belasse ich es lieber bei einem Trinkgeld.“

„Ich habe es nicht wegen dem Geld gemacht“, wehrte er ab.

„Als kleines Dankeschön.“

„Ungern“, erklärte er. Aber sein sonniges Gemüt wusste sofort eine andere Lösung. „Wenn sie wieder in Paris sind, gehen wir gemeinsam aus. Okay?“

„Einverstanden“, stimmte sie zu.

Er verstaute ihr Gepäck, während Anne sich hinter das Lenkrad setzte. Sofort fühlte sie sich heimisch. Das war ihr kleines Reich, das hatte sie nicht vergessen. Radio an, ein bisschen Gas geben und schon fuhr sie davon. Sie winkte ihrem selbstlosen Retter zu.

„Bis bald“, rief er hinter ihr her.

„Wahrscheinlich nicht“, dachte sie mit leisem bedauern. Die Affäre mit dem blonden Typ, die war für immer beendet. Da war sie sich sicher. Amnesie hin oder her!

Ihr Hochgefühl verschwand rasch. Sie musste sich eingestehen, dass ihr so manche Verkehrsregel nicht eindeutig im Gedächtnis haftete. Es lag an der erst kürzlich zurückliegenden Corona Epidemie, dass die Pariser Straßen nicht so voll wie früher waren und ihre Patzer keine schlimmen Auswirkungen hatten.

Anne erschrak, als ein lautes „ta ta ta daa“ ertönte. Die Anfangsklänge der 5. Symphonie von Beethoven. Immer wieder ertönte das dramatische „ta ta ta daa.“ Dann dämmerte es ihr. Es war der Klingelton ihres Handys. Bluetooth hin oder her, Anne hielt es für sicherer kurz anzuhalten. Sie stellte sich an eine freie Stelle am Straßenrand und nahm den Anruf an.

„Dupont. Salut Madame Siemer. Kann es sein, dass sie den Termin um 11 Uhr nicht einhalten können?“, hörte sie einen tiefen Bass an ihrem Ohr.

Oh verflixt, dass sie auch heute Termine haben könnte, das hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes vergessen. Wie peinlich. „Es tut mir sehr leid, ich bin aufgehalten worden“, tastete sie sich vorsichtig vor.

„Das kann vorkommen“, meinte ihr Gesprächspartner entgegenkommend. „Können sie es vielleicht heute um 17 Uhr einrichten?“ Anne zögerte, sie wusste immer noch nicht, um was es sich genau handelte. „Meine Frau, sie kennen sie ja, ist immer so besorgt um mich. Ich möchte ihr diesen Gefallen tun.“

„Ja doch, das kann ich einrichten“, antwortete sie. Hoffentlich lehnte sie sich damit nicht zu weit aus dem Fenster. Aber sie vertraute ihrem verlorenen ICH, dass sie die vereinbarten Termine im Normalfall einhalten konnte. „Ich habe mit dem Hôtel Sonne telefoniert, das bei uns um die Ecke liegt. Es sind mehrere Zimmer frei. Dort könnten sie heute Abend übernachten. Dann müssten sie erst morgen wieder nach Deutschland fahren. Wenn es ihnen passt.“

„Das sehr vorausschauend von ihnen. Vielen Dank“, antwortete sie erfreut.

„Die Hotelrechnung übernehme ich. Ich möchte mich schon lange für ihre hilfreiche Betreuung bedanken. Aber meiner Frau sagen wir nichts von unserer Übereinkunft“, fügte er hinzu.

„Nein“, stimmte sie zu. „War ihr Patient gleichzeitig ein Liebhaber?“, fragte sie sich. Hoffentlich nicht. Irgendwie hinterließ diese Vorstellung bei ihr kein gutes Gefühl.

„Gut dann bis heute Nachmittag. Gute Fahrt“, wünschte er und legte auf. Sein Name und die Adresse wurden im Display angezeigt.

Nachdem sie ihr Ziel Frederic Dupont, Metz, ausgewählt hatte, lotste sie ihr Navi ohne Probleme aus Paris hinaus und führte sie zu ihrem Hotel. Sie checkte unter Wahrung sämtlicher Sicherheitsaspekte ein und gönnte sich ein kurzes Nickerchen. Nach dem Aufstehen legte sie sich ein nasses Tuch auf den Kopf und blickte nachdenklich auf ihren Laptop. Die Patientendaten waren vertraulich, geschützt mit einem Kennwort. Genau darin lag nun ihr Problem. Sie hatte partout keine Ahnung, wie dieses Passwort lautete. Vielleicht gab es handschriftliche Aufzeichnungen in ihrem Notizbuch? Sie blätterte es durch. Käse und Rotwein kaufen, Karl anrufen (wer war Karl?), Vortrag überarbeiten, Homepage aktualisieren, Versicherung verlängern, Schokolade kaufen. „Mist“, wütend warf sie den Block durch das Zimmer. Ein weiterer Wesenszug, den sie bis dato noch nicht an sich kannte. Ungeduldig und aggressiv. „Was würde sie noch entdecken? War sie wohl sehr verkorkst?“, fragte sie sich besorgt.

Ihr Handy klingelte. Marie zeigte ihr Display an. Wie schön ihre Tochter freute sich Anne.

„Mom“, hallte es ihr entgegen. „Kannst du mich bitte morgen früh abholen. Es ist furchtbar hier. Ich halte es keinen Tag länger aus. Bitte Mom, bitte, bitte hol mich morgen ab. Ich weiß, wir haben darüber geredet und du hältst nichts davon. Aber es ist schrecklich.“

Anne zögerte, wie sollte sie sich verhalten.

„Bitte, Mom. Von Paris aus, ist es doch gar kein Umweg für dich.“

„Ich bin aber schon in Metz.“

„Umso besser“, freute sich Marie.

„Wenn du das sagst“, gab Anne nach. „Gib mir bitte noch mal die Adresse.“

„Ich habe sie dir extra in dein Navi eingegeben“, erklärte Marie ungehalten. „Ich wohne bei den Maiers.“

„Das war mir entfallen“, murmelte Anne.

„Ja, weil du immer tausend andere Sachen im Kopf hast, nur nicht deine Tochter“, beschwerte sich Marie.

„Ich werde mich ändern. Versprochen“, entgegnete Anne enthusiastisch. Sie wollte eine zuverlässige Mutter sein!

„Das sagst du ständig“, antwortete Marie unbeeindruckt.

„Oh“, darauf wusste Anne keine passende Antwort.

„Weißt du das Passwort für meine Patientenakten?“, fragte sie ablenkend. Natürlich würde ihre Tochter, dass nie und nimmer wissen.

„999 Irre und Kranke. Alles zusammengeschrieben, ohne Leerzeichen“, kam die prompte Antwort. „Sorry, ich habe dir damals versprochen es wieder zu vergessen. Aber es ist nun mal in meinem Gehirn drin. Schließlich grübelten wir intensiv über ein einprägsames Passwort nach und amüsierten uns dabei. Dann bis morgen um 9 Uhr. Tschau“, beendete Marie das Gespräch, bevor ihre Mutter es sich anders überlegen konnte.

Lächelnd legte Anne ihr Handy weg. Sie hätte sich ebenfalls so verhalten. Das konnte spannend werden, wenn sie ihre Tochter morgen traf. Sie gab das Passwort ein. „Halleluja“, freute sich Anne, als ihre Daten angezeigt wurden. Sie scrollte die Patientenliste entlang, bis sie auf den Namen Dupont stieß. Sie las sich ihre detaillierten Ausführungen durch. Ein vertrautes Gefühl von Wissen überkam sie.

„Ja“, dachte sie „Herrn Dupont konnte sie beruhigt heute Nachmittag aufsuchen.“ Sorgfältig las sie die beschriebenen Akupunkturpunkte durch, die am besten zur Gesundung von Herrn Dupont beitrugen. Die in ihrem Dossier notierten Pflanzentinkturen und Kräutertees befanden sich in einer dickbäuchigen Tasche ihres Kofferraums. Ebenso wie ihre Akupunkturnadeln in verschiedenen Größen. Diese Ausrüstung hatte sie entdeckt, als sie ihren Koffer nachdem einchecken, aus dem Wagen holte. Langsam ging es vorwärts. Bald würde ihr vertrautes ICH wieder ganz ihr gehören.

Am nächsten Morgen wurde sie durch das beständige Klingeln ihres Handys geweckt. „Ta ta ta daa, ta ta ta daa…“ Verschlafen wischte sie über das Display.

„Mom, wie gut das ich dich erwische. Du bist doch noch nicht in Lembach?“, fragte Marie besorgt. Sie wartete die Antwort ihrer Mutter gar nicht erst ab. „Ich habe es mir anders überlegt. Gestern Abend unterhielt ich mich lange mit Albert. Er meint, ich sei sehr begabt. Ich werde mein Praktikum durchziehen. Über die Hälfte habe ich schon absolviert. Es wäre dumm, alles hinzuwerfen.“

Anne hörte stumm zu. Sie fühlte sich wie erschlagen und war heilfroh, dass ihre Tochter nicht mitbekam, dass sie noch gar nicht unterwegs war.

„Mom, bist du noch dran?“

„Ja“, beeilte sich Anne zu sagen.

„Du bist doch nicht sauer?“, fragte Marie argwöhnisch.

„Nein, mein Schatz“, entgegnete Anne fest. „Kein bisschen.“

„Danke Mom. Du bist die beste Mom auf der ganzen Welt“, rief Marie enthusiastisch.

Anne legte das Handy neben sich auf das Laken. Sie blinzelte nach der Uhrzeit. Zehn nach neun. Anne musste lächeln. Im Normalfall wäre sie wahrscheinlich sauer auf ihre Tochter gewesen. Zehn Minuten nach der vereinbarten Zeit rief Marie an, um ihr mitzuteilen, dass sie nicht bei ihr vorbei fahren musste. „Ganz schön frech“, folgerte sie. Eine flaue Ahnung beschlich sie. „Diese Eigenschaft hat sie von mir.“

 

Anne fuhr in ihre Hofeinfahrt. Sie betrachte neugierig ihr Häuschen. Es war in einem hellen Gelbton verputzt. Fenster- und Türrahmen hoben sich in strahlendem Weiß ab.

„Da kannst du nichts machen, gelb scheint deine Lieblingsfarbe zu sein. Gewöhn dich dran!“

Der Hof war sauber gefegt, eine Designer-Bank aus Chrom und Stahl stand blitzblank unter einem der Fenster und ihr Klingelschild enthüllte in großer Schrift ihren Namen und Beruf.

Anne ging hinein und schaute sich neugierig um. Flur, Küche und Wohnzimmer. Alles sah perfekt eingerichtet aus. Praktisch, funktional, chic und teuer. „Das ist also mein Geschmack.“ Sie war enttäuscht. Die Einrichtung enthüllte nicht viel über ihr Wesen. Oder doch? Rational, nüchtern und effizient. Gefühle zeigte sie wohl eher bei ihren Liebschaften. Während der Fahrt von Metz hierher war ihr noch Karl-Heinz eingefallen. Es war wohl nur ein kurzes Intermezzo gewesen, aber ihr war bei der Erinnerung Leidenschaft und Feuer aufgefallen.

Zielsicher fanden ihre Füße den Weg ins Büro.

Anne checkte zuerst ihren aufgeschlagenen Terminkalender. Die Termine von gestern und heute waren durchgestrichen. Daneben ein gelber Klebezettel mit einer handschriftlichen Anmerkung: „Neue Termine mit Patienten vereinbart. Alle separat mit einem Stern versehen.“ Die Handschrift wirkte energisch. Geschwungene Bögen, mit dominierenden Punkten. Anne blätterte interessiert weiter. Ihre Praxis schien gut zu laufen. Sie entdeckte viele Termine. Kontinuierlich bis ins Frühjahr hinein. „Fein“, gratulierte sie sich selbst.

In der Mitte des Schreibtisches stand unübersehbar eine Tasse Tee. Daneben ein weiterer Klebezettel: „Ihr Lieblingstee. Heute frisch aufgesetzt, weil er Ihnen auch kalt schmeckt. Komme morgen Nachmittag wieder. Sie haben mal wieder nicht angerufen.“ Beendet mit drei fetten Ausrufezeichen in knallroter Farbe. Anne nahm einen Schluck ihres Kräutertees. Uh, sie verzog den Mund. Der schmeckte ziemlich grausig. Wie kam sie dazu, so etwas zu trinken? Missmutig schob sie ihn ans Ende des Tisches. Dort entdeckte sie einen zusammen geknüllten Papierstreifen. Sie glättete ihn und las die Prophezeiung des chinesischen Glückskekses. In den Tiefen des Gehirns findet sich Weisheit. „Ha, ha, wirklich lustig“, amüsierte sich Anne. Mit Schwung ließ sie sich auf ihre Couch fallen. Sie legte sich die Kissen zu Recht und kuschelte sich in die Kuhle. Ihre Hand fuhr über den weichen Stoff, stockte kurz, als sie in der Ritze auf etwas Hartes stieß. Ein Kugelschreiber dachte sie, aber ihre Fingerspitzen spürten eine andere Form. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Verblüfft schaute sie auf das Blackberry, das vor ihr lag. In ihrem Gehirn raste es. „Das lag draußen auf der Bank“, erinnerte sie sich. Einer ihrer Patienten musste es vergessen haben. Sie hatte es mit ins Haus genommen. Jedes andere Handy hätte sie einfach auf die Fensterbank gelegt, in der Annahme, bald schon würde sich der Eigentümer melden. Doch ein Blackberry erweckte ihre Neugier. So eins wollte sie schon immer haben, aber irgendwie war es nie dazu gekommen. Ihre Finger fuhren über die Miniatur Tastatur. Die fand sie hübsch und praktisch. Anne überkam ein Déjà-vu. Das hatte sie vor ein paar Tagen auch gemacht, erinnerte sie sich. Sie wusste noch, wie sie im Büro Buchstaben eingab. Sie tat nun dasselbe. Sie tippte die Tasten S, O, N, N, E. Sie blickte auf das Display. Doch zu ihrer Verblüffung wurde der Text nicht angezeigt, stattdessen sausten lauter Pixel über die Anzeige und setzten sich zu einem Foto zusammen. Eine attraktive Frau mit schulterlangen Haaren, im durchsichtigen Nachtgewand lächelte Anne, einladen an. „Oh la, la. Welcher ihrer Patienten hatte denn solch ein heißes Foto auf seinem Handy?“ Sie lächelte belustigt, bis das Foto vom nächsten überlagert wurde. Eine Spur frivoler als das Erste. Sie sollte sich die Bilder nicht weiter ansehen. Die waren nicht für sie bestimmt. Die waren privat. Die gleichen Bedenken waren ihr vor zwei Tagen gekommen. Diese Erkenntnis durchflutete Anne mit einem Mal. Sie erinnerte sich, sie wollte das Handy weglegen, doch dann war sie erstarrt vor Schreck. So wie in diesem Moment. Sie blickte auf das Foto. Diese kleine Narbe auf der rechten Pobacke, die kam ihr seltsam vertraut vor. Schon wurde das Nächste eingeblendet. Ein breites kokettes Lächeln, lud den Betrachter ein, den Körper an zu schauen. Annes Blick blieb am schiefen Eckzahn der Frau haften. Verblüfft sah Anne genauer hin. Diese Frau auf diesen Fotos, das war sie selbst. Nachdenklich schaute sie auf. Erlebnisse ihres Lebens überfluteten Anne. Stürzten auf sie ein. Setzten Vergessenes und Verlorenes in Bildern und Gefühlen an die eben noch kahlen und leeren Stellen. Aus vielen wichtigen und unwichtigen Einzelteilen. Angereichert mit den unterschiedlichsten Empfindungen. Von Freude, Hoffnung und Glück, über Liebe und Hass, bis hin zu Angst und Trauer. Mal überwog das eine, dann das andere. Die letzten dunklen Wolken des Vergessens lösten sich auf. Ihr ganzes Leben kehrte innerhalb von Sekunden zurück. Auch wenn ihr nicht alles Behagte, es war ein beruhigendes Gefühl, endlich wieder zu wissen, wer sie war. Sie war Anne Siemer, Mutter von zwei Kindern, vor fünf Jahren geschieden. Erfolgreiche Heilpraktikerin, die nach ihrer Scheidung bei ein paar Affären neues Glück suchte. Mit Männern, die immer demselben Typ entsprachen. Dieses Muster breitete sich glasklar vor ihrem inneren Auge auf. Blonde Haare, blaue Augen, verwegenes Lächeln. Ein strahle Mann, den augenscheinlich nichts umhauen konnte. Doch damit war ab sofort Schluss. Diesem Typ Mann wollte sie von nun an für immer aus dem Weg gehen. Der Nächste sollte ganz anders aussehen. „Grüne Augen mit roten Haaren oder schwarze Haare und dunkle Augen?“, spekulierte sie. „Dazu ein Rauschebart oder lieber ein Schnurrbärtchen?“ Anne musste schmunzeln bei ihren Überlegungen.

Auf dem nächsten Foto hielt Anne eine Flasche Champagner in der Hand. Sie grinste fröhlich, als ein Strahl der prickelnden Flüssigkeit sich über ihren Körper ergoss. Sie sah ausgelassen und glücklich aus. Anne blickte nachdenklich auf. Sie wusste, wer diese Fotos aufgenommen hatte. Es war Dominik Hirschbaum gewesen. Die Fotos waren kurz nach ihrem Kennenlernen entstanden. Himmel, sie war damals so verknallt in ihn gewesen. In den welterfahrenen Politiker Dominik Hirschbaum. Und natürlich, es war kurz nach ihrer Scheidung. Sie fühlte sich unattraktiv, nicht beachtenswert. Ein hässliches Entlein, das niemand wahrnahm. Da war er erschienen und verzauberte sie mit seinem Charme. Ihr Blick wanderte zurück zum Handy. Sie sah eindeutig glücklich aus. Ein weiteres Foto wurde eingeblendet. Da sah sie den Beweis. Am Rand des Fotos konnte sie eine Hand auf ihrem Oberschenkel erkennen. Mit dem unverwechselbaren dicken Goldreif am Ringfinger. Ein neues Bild erschien. SIMON HAUSER, gefolgt von einer Telefonnummer. Call me!

Vor zwei Tagen, nachdem lesen des Namens und der Aufforderung call me, hatte sie sofort gehandelt und angerufen. Aufgebracht, verwirrt, in Sorge darüber was sich nun ereignen würde. Wollte er sie erpressen? So wie sie ihn einst erpresste? Doch er wusste ja nicht, dass sie dahinter steckte. Trotzdem vor diesem Moment fürchtete sie sich seit Jahren, auch wenn alles schon weit zurücklag. Sie atmete tief ein und drückt die Nummer. Simon meldete sich sofort.

„Hallo Anne, schöne Fotos nicht wahr? Gefallen sie dir?“, fragte er süffisant. „Sie sind um einiges besser als deine. Die Qualität war damals wirklich nicht berauschend“, kam er sofort zu Sache.

„Was meinst du?“, versuchte sie zu bluffen.

„Anne, kleine Anne“, antwortete er amüsiert. „Ich wusste es schon damals.“

„Was wusstest du schon damals?“, fragte sie gereizt.

„Dein gelber Anorak. Er leuchtete wie ein Scheinwerferlicht durch den Wald. Natürlich habe dich gesehen.“

„Vermaledeites gelb“, murmelte Anne.

„Eigentlich waren es zwei gänzlich harmlose Fotos“, versuchte sie die Sache herunter zu spielen. Anne wusste noch genau, wie sie in diesem Frühling unruhig durch den Wald gelaufen war. Auf der Suche nach Fotomotiven. Irgendwie war es ein blöder Tag gewesen und beim Fotografieren konnte sie gut entspannen. Doch das Wetter war diesig, die Blätter noch nicht grün und nichts war wirklich eine Aufnahme wert gewesen. Schließlich hob sie ihr Handy und durchforstete den lichten Wald nach dem Zufallsprinzip. Sie hielt die Kamera nach links, nach oben, nach rechts. Vielleicht erhaschte sie ein Reh auf der Lichtung oder einen Hasen im kahlen Gebüsch. Doch stattdessen erblickte sie ein schmusendes Pärchen. Sie beobachtete die Zwei gelangweilt, bis sie merkte, dass sie den Mann und die junge Frau kannte. Bei dem Mann handelte es sich um den Bürgermeister Simon Hauser. Die junge Frau hieß Annette irgendwie. Sie sang oft Schlagersongs bei den örtlichen Festivitäten. Fast ohne es zu wollen, drückte sie zweimal auf den Auslöser. Da noch ohne jeglichen Hintergedanken. Die Idee zur Erpressung kam ihr, als sich herauskristallisierte, dass der Gemeinderat unter Führung des Bürgermeisters ein Nobelhotel bauen wollte. Direkt am Flussufer des beschaulichen Dorfbaches, der eigentlich schon seit Generationen als Erholungsort der Dorfbevölkerung diente. Das sollte alles zerstört werden. Das Nobelhotel würde nur den Auftakt bilden. Geplant waren ein Kulturzentrum, eine neue breite Schnellstraße, als Zubringer zur Autobahn und eine Sportanlage. Es tat Anne weh, dass die Pläne, die viele im Dorf ablehnten, nun doch umgesetzt werden sollten. Sie liebte diesen idyllischen Ort am Bach. Sie wollte nicht, dass er in Beton und Asphalt unterging. Sie war in die nächst gelegene Großstadt gefahren und druckte in einer Drogerie die Fotos des küssenden Pärchens aus. Sie legte einen Zettel dazu, auf dem stand: wenn sie nicht wollen, dass das im Dorf rumgeht, dann kippen sie das Hotelvorhaben bei der nächsten Sitzung. Beides steckte sie in einen Umschlag, den sie mit der linken Hand ungelenk beschriftete und warf ihn ein. Anne rechnete nicht wirklich damit, dass ihr Plan aufgehen würde. Doch es funktionierte. Der Bach plätscherte weiterhin durch grünes Tal.

„Eigentlich muss ich dir wegen der Fotos dankbar sein.“ Simons Stimme brachte Anne zurück in die Gegenwart.

„Ich war damals unglaublich in Annette verliebt. Ich dachte, sie sei meine große Liebe. Schließlich lief es mit meiner Frau schon lange nicht mehr gut.“

„Die alte Leier“, kam Anne nicht umhin zu denken.

„Doch als ich Annette die Fotos zeigte, und ihr vorschlug unsere Liaison öffentlich zu machen, war sie alles andere als begeistert. Langsam dämmerte mir, sie benutzte mich, um von meinen Kontakten zu Produzenten im Musikgeschäft zu profitieren. Ihr Plan ging auf. Sie hatte gerade ihre erste CD aufgenommen und der Verkauf lief gut. Da brauchte sie mich nicht mehr. Du weißt ja selbst, wie erfolgreich sie mittlerweile ist.“ Seine Stimme klang gepresst.

„Es tut mir leid“, flüsterte Anne.

„Ich habe diese Fotos gehasst. Wegen der Fotos musste ich mich mit einer neuen Realität auseinandersetzen. Annette war strikt gegen eine Veröffentlichung unserer Beziehung. Sie reagierte richtig panisch, als ich andeutete, ich wollte an den Hotelplänen festhalten. Also kippte ich die Stimmung im Gemeinderat. Das Hotel wurde nicht gebaut. Genauso wie du es wolltest“, seine Stimme triefte vor Hohn. „Ich entschied mich für einen Neuanfang. Lies mich scheiden, bin in den Süden gezogen und suchte nach neuen Aufgaben. Mittlerweile bin ich wieder glücklich.“

„So glücklich, dass du mir nun diese Fotos schicken musstest“, dachte Anne. Aber sie traute sich nicht, es auszusprechen.

„Ich arbeite in meinem gelernten Beruf. Softwareentwickler im Bereich Sicherheit. Oft teste ich zu meinem privaten Vergnügen, ob Handys sicher sind. Gerne bei Personen, die ich kenne. Das gibt mir einen bestimmten Kick. Es macht einfach Spaß, wenn man Sachen findet, zu denen man ein Bezug hat.“

Menschen auszuspionieren schien ihm zu gefallen. Sie hörte die Begeisterung in seiner Stimme.

„Ich habe wirklich lange gesucht, bis ich etwas Adäquates über dich gefunden habe, um mich zu revanchieren. Es ist nämlich ein Scheiß Gefühl, sich wegen dämlicher Fotos so ausgeliefert zu fühlen.“

„Ja“, stimmte Anne ihm zu, „das ist es.“ Sie versuchte, ruhig und abgeklärt zu wirken. Aber sie registrierte ihre feuchten Handflächen und ein unangenehmes ziehen im Magen. Ihre persönlichen Stresssymptome.

„Doch stell dir vor, nachdem ich die Fotos entdeckte, mit denen ich dich endlich erpressen konnte …“

„Los sag es schon“, schrie es in Anne. „Sag was du willst.“ Doch ihre brennende Ungeduld verriet sie nicht durch ein einziges Wort.

Er räusperte sich bevor er weiter redete „… verlor ich das Interesse. Die Suche nach dem richtigen Material fand ich spannend. Forderte mich, erregte mich. Ebenso wie meine Überlegungen, wie ich dir das Ganze am besten präsentiere. Ausgedruckte Fotos sind so fantasielos“, kritisierte er.

„Sie haben ihren Zweck erfüllt“, stellte Anne klar.

Er ignorierte ihren Einwand. „Daher habe ich beschlossen die Fotos zu löschen.“

„Wirklich?“, fragte Anne oder bluffte er jetzt?

„Ich besitze Anstand“, antwortete er mit Stolz in der Stimme. „Ist doch schön, dass es so etwas in unserer heutigen Zeit noch gibt“, lobte er sich selbst. „Einen Menschen, der sein Wissen nicht zu Geld machen will oder andere Gefälligkeiten einfordert. Was hältst du davon?“

„Das hört sich edel und großzügig an“, bestätigte sie seine Meinung.

„Mein Ratschlag an dich. Du solltest die Fotos von Dominiks Privathandy löschen. Auch wenn du nicht die Einzige bist, die er fotografierte. Er schießt in seiner Freizeit gerne solche Aufnahmen. Aber wenn ich sie finden konnte, können das andere auch. Er ist eine im öffentlichen Leben bekannte Persönlichkeit. Da gibt es immer jemanden, der nach unveröffentlichten Sensationen sucht.“

„Sehr aufmerksam von dir. Danke.“ Eine seltsame Wendung nahm dieses Gespräch. Verwirrt setzte sich Anne.

„Das Blackberry kannst du behalten. Als kleines Andenken. Die Fotos werden in 12 Tagen automatisch gelöscht. Ebenso wie meine Nummer, die zu einem Prepaid Handy führt. Wenn du Fragen hast oder dich an der Schönheit der Fotos erfreuen möchtest, musst du dich ranhalten.“

„Warum nach zwölf Tagen?“, erkundigte sie sich.

„Das ist meine persönliche Glückszahl. Mehr steckt nicht dahinter“, beruhigte er sie.

Fast freundschaftlich verabschiedeten sie sich voneinander. Erleichtert schloss Anne die Augen. Genoss das Gefühl der Freude, einem drohenden Unheil entkommen zu sein. Mitten in die Ruhe und des Friedens hinein rief Dominik an.

„Ich habe mich schweren Herzens dazu entschlossen unsere Beziehung zu beenden“, eröffnete er das Gespräch. Einfach so, ohne Vorwarnung. Wieder überkam Anne ein Zittern, als sie an seine arrogante Art dachte, sich am Handy von ihr zu trennen. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihn unbedingt noch einmal treffen musste. Außerdem war sie wütend auf sich selbst. Warum hatte sie diese dämlichen Fotos nicht schon bei einem ihrer letzten Treffen gelöscht? Sie hatte es schon eine ganze Weile gespürt, dieser Beziehung stand keine Zukunft bevor. Anne tat so, als wäre sie sehr, sehr unglücklich. Schluchzte und jammerte, sie müsse ihn unbedingt noch mal treffen. Eine Nacht mit ihm verbringen. Das schmeichelte ihm, doch in Wirklichkeit kochte sie vor Wut. Aber sie musste ihn sehen, damit sie diese Fotos löschen konnte. „So eine Misere“, überlegte Anne, „diese Aktion in Paris war gründlich schief gelaufen.“

Sie war nach Paris gefahren, in das Hotel das in den letzten Jahren so oft ihr Domizil mit Dominik gewesen war. Dort wollten sie sich treffen. Aber durch den Überfall in der Nacht ihres Ankommens, der wuchtige Schlag auf ihren Hinterkopf, der Sturz auf den Asphalt, wurden ihre Erinnerungen gelöscht. „Verflixt“, erschüttert setzte sich Anne. Sie hatte das Handy von Dominik vorgestern in der Hand gehalten. Sie hatte instinktiv gespürt, dieses kleine Gerät war bedeutsam. Aber wirklich nicht der kleinste Hinweis hatte darauf hingedeutet, dass sie Fotos löschen sollte.

„Wie sollte sie weitervorgehen?“ Kurz entschlossen rief sie ihren Sohn an.

„Hallo.“

„Adrien, ich bin‘s Mom.“

Sie hörte lebhafte Hintergrundgeräusche.

„Augenblick Mom, ich suche mir ein ruhigeres Plätzchen.“ Sie hörte, wie der Lärmpegel abnahm.

„Hallo mein Schatz, wie geht es dir?“, begann sie lahm.

Sie hörte Adrien lachen. „Mom was willst du?“

„Woher weißt du, dass ich etwas will?“

„Du rufst mich immer an, wenn du etwas brauchst“, entgegnete er mit einem leisen Vorwurf in der Stimme.

„Das ist nicht wahr“, protestierte sie.

„Na komm, erzähl. Du weißt doch, heute ist die Feier von Sabrinas Vater. Ich habe nicht ewig Zeit.“

Oh ja, dachte Anne unwirsch. Das wusste sie. Dominik war Sabrinas Vater. Seit knapp drei Monaten waren Sabrina und ihr Sohn eng befreundet. Anne unternahm nichts dagegen. Sie konnte Adrien doch nicht die Verbindung zu der wirklich sehr hübschen und gescheiten Sabrina verbieten. Es war schließlich nicht Adriens Schuld, dass sie im Geheimen mit Dominik zusammen war. Wenigstens existierte dieses Problem nun nicht mehr.

„Ich …“, sie stockte. Wie sollte sie es ihm erklären? Gar nicht entschied sie.

„Kannst du bitte das Handy von Sabrinas Vater mitbringen? Das mit dem er die Schnappschüsse macht. Das altmodische dicke Handy. Aber so, dass es niemand mitbekommt.“ Sie versuchte so zu klingen, als ob es sich um eine ganz alltägliche Bitte handle.

„Du weißt schon, dass dies etwas seltsam ist, was du da von mir verlangst?“, hakte Adrien nach.

„Ja.“

„Warum …?“

Anne unterbrach in schroff. „Der Empfang ist bald zu Ende. Verabschiede dich von Dominik, nimm das Handy an dich und dann fahr hierher. Das dauert nicht lange. Es wird niemanden auffallen, bei dem ganzen Trubel.“

„Geht es dir gut?“, fragte er argwöhnisch.

„Es ging mir nie besser“, versicherte sie ihm. „Adrien, bitte, es ist sehr, sehr wichtig.“ Sie setzte noch ein enthusiastisches vielen Dank mein Schatz hintendran, bevor sie auflegte. Sie überlegte, würde er es tun? Das Handy seines eventuellen Schwiegervaters entwenden? Entwenden hörte sich harmloser an als klauen. Und überhaupt, Dominik erhielt es in ein paar Stunden zurück. Somit war es eigentlich nur eine Leihgabe. Damit konnte sie ihr Gewissen beruhigen. Sie schaute auf die Uhr. Sie würde es bald erfahren. Unruhig ging sie auf und ab. Und wenn er es nicht tat? Musste sie Dominik wieder etwas am Telefon vorheulen, so wie vor zwei Tagen? Hoffentlich nicht, das wäre wirklich zu blöd!

Unruhig schaute sie auf die Uhr. Würde Adrien kommen? Er kam. Kurz nach drei Uhr brauste er in den Hof. Anne ging ihm entgegen.

„Hier“, er überreichte ihr das Handy.

Anne musterte ihn. Hatte er sich den Inhalt angeschaut? Doch Adrien besaß schon immer ein Pokerface. Was immer er dachte, er behielt es für sich.

Er streckte sich. „Ich bin müde. Ich lege mich auf die Couch im Wohnzimmer. Später fahre ich dann wieder zurück. Wahrscheinlich wird niemand meine Abwesenheit auffallen. Im Haus wimmelt es vor Menschen.“ Er umarmte sie kurz, dann stakste er auf langen Beinen ins Haus.

Anne verzog sich mit dem Handy in ihr Büro. Sie suchte unterhalb der Galerie nach ihren Fotos. Nach längeren Suchen, es war schließlich schon eine Weile her, fand sie die Bilder. Dabei stellte sie fest, dass Simons Aussage, Dominik mache gerne solche Fotos, durchaus zutraf. „So ein Mistkerl“, schimpfte Anne. Er hatte sie also schon eine ganze Weile mit anderen Frauen betrogen. Sie löschte ihre Fotos, suchte dann nochmals die Galerie ab, um ja keines zu übersehen. Dominiks Fotos zeichneten sich dadurch aus, dass er es vermied, mit auf dem Bild zu sein. Manchmal, aus Schusseligkeit, etwas Fuß, Knie oder wie bei ihrem Bild, etwas Hand, mehr war von ihm nicht zu sehen. Nur bei einem Anlass hatte er sich in Pose gesetzt. Dekorativ über drei nackten Frauen liegend, lachte er triumphierend in die Kamera.

„Dich habe ich mal geliebt, du Arsch.“ Fast hätte sie vor lauter Wut das Bild gelöscht. Sie wollte ihm seinen Triumph wegnehmen. Dann entschied sie sich anders. Sie steckte ein Übertragungskabel vom Handy zu ihrem PC und sicherte sich dieses eine Foto.

„Besitzt du keinen Anstand?“, fragte ihr erst vor wenigen Stunden neu aufgetauchtes altes ICH. „Doch natürlich“, protestierte sie. „Das mache ich nur zur Sicherheit“, rechtfertigte sie sich.

Sobald sie fertig war, bemerkte sie Adrien in der Tür. Wie lange stand er schon da? Hatte er etwas gesehen?

„Du bist ja schon wieder wach“, bemerkte sie. Er nickte. „Ich begleite dich zum Wagen.“

Im Hof gab sie ihm das Handy. „Ich danke dir sehr. Hoffentlich bekommst du keine Unannehmlichkeiten deswegen.“

„Iwo“, meinte er leichthin. Er nahm das Handy entgegen. Ein Glitzern tauchte in seinen Augen auf.

„Mach‘s gut. Bleib gesund, “ verabschiedete sich Anne von ihrem Sohn.

Adrien legte das Handy auf den Boden, stieg in sein Auto und startete.

„Ich wollte schon immer wissen, wie stabil ein Handy wirklich ist“, rief er ihr durch das geöffnete Fenster zu. Konzentriert fuhr er über das elektronische Gerät. Er lachte, als er es knacken hörte. Er winkte ihr zu und fuhr lachend vom Hof.

„Cool“, befand Anne. „Einfach cool.“ Sie erhob sich und schaute nach, was vom Handy noch übrig war.

 

 

ENDE

 

 

 

 

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