SophieKAn alle

A: Hast du das Foto?

B: Ja. Schicke es dir sofort.

A: Muss es heute machen. Hab die perfekte Gelegenheit.

B: Ok. Meinst du, sie wird draufkommen?

A: Ne. Sie arbeitet mit Geheimnissen und Lügen. Ihr würde nicht mal im Traum einfallen, dass ich ihr Geheimnis kenne.

 

„Gib mal den Rotkohl, Opa!“ sagte Lucrezia laut und streckte ihre manikürten Finger nach ihrem Opa Johannes aus. Ungeduldig schnippte sie mit den Fingern und starrte ihn an. „Hör auf, mit den Fingern zu schnippen“, mahnte Martina, ihre Mutter. Lucrezias Vater Lorenzo aß schweigend.

Sie saßen zu sieben am Tisch. In der Ecke des geräumigen Wohnzimmers reflektierte die grüne Alokasie das schwindende Sonnenlicht, das durch die Terassentür hineinfiel.

Auf der anderen Seite des Glastisches saßen Johannes Sohn Bernard und dessen Frau Silvia. Zwischen ihnen hockte der 15-jährige Kevin.

„Haben wir den Ofen ausgeschaltet, Lorenzo?“ fragte Martina geistesabwesend, die Stirn in Falten gelegt. Lorenzo zuckte nur mit den Schultern. „Das wird Tamara schon gemacht haben“, sagte er.

„Tamara ist ein Trottel“, sagte Lucrezia und wandte sich dann wieder ihrem Opa zu.

Johannes ließ sich alle Zeit der Welt, um seinen Teller mit Rotkohl zu beladen. Es war kaum noch Platz neben dem Schweinebraten und dem Berg Bratkartoffeln, die über den Rand des Tellers zu rutschen drohten wie eine Kartoffellawine. Johannes hielt Lucrezias anklagendem Blick stand und häufte sich bedächtig einen Löffel Rotkohl auf den Teller. Lucrezia riss den Mund auf und warf ihre feuerroten Haare nach hinten. „Opa!“ kreischte sie gereizt.

„Schatz“, sagte ihre Mutter leise. Sie legte Lucrezia eine Hand auf den Oberarm und griff zu. „Es heißt Reich mir bitte mal den Rotkohl, Opa“!“ Ihre mattblauen Augen wurden von Lucrezias eisblauen Augen widergespiegelt. „Benimm dich am Esstisch etwas wohlerzogener“, sagte sie.

„Ihr habt mich schließlich nach einer Mörderin benannt,“ sagte Lucrezia schnippisch.

„Lucrezia Borgia war keine Mörderin, amore“, sagte ihr Vater. Verträumt schaute er im Zimmer, während seine langen Finger über sein Stoppelkinn strichen. „Sie war eine Fürstin!“ Stolz betrachtete er seine Tochter. Lucrezia verdrehte nur die Augen. „Kannst du jetzt mal den Rotkohl hergeben?“, fragte sie ihren Opa genervt. Ihr rot geschminkter Mund verzog sich zu einer Schnute. Johannes lächelte und reichte die Schüssel mit Rotkohl herüber. „Gerne, mein Liebling“, sagte er in Tonfall, süß wie Vanille. „Es ist so schön, euch hier zu haben. Ich möchte, dass alle miteinander auskommen und Spaß haben“. Er blickte in die Runde. Martina schenkte ihrem Vater ein gezwungenes Lächeln. Lucrezia verdrehte wieder die Augen. „Was könnte spaßiger sein, als mit euch Klöße und Rotkohl zu essen.  An einem Freitagabend. Während meine Freundinnen im Bellini feiern und Typen aufreißen.“

Ihr Opa wollte etwas sagen, doch Lucrezia hob ihre Hand. „Hauptsache, du hast deinen Spaß. “

Sonst kommt mich ja niemand besuchen“, murmelte Johannes und senkte den Blick auf seinen Teller.

Kevin hielt den Blick auf seinen spärlich bestückten Teller gerichtet und schob sich ein Stück Kartoffel mit einem Spritzer Soße in den Mund.

„Hast du deine Schulaufgaben erledigt, Kevin?“ fragte Bernard. Aus Anlass des Familienessens trug er das schwarzes Armani-Hemd, sein bestes Stück.

Hast du deine Schulaufgaben erledigt, Kevin?“ äffte Lucrezia Bernard nach. „Mein Gott, wie alt ist er? 10?“

Sie machte eine wütende Geste mit der Hand, in der sie die Gabel voll Rotkohl hielt. Der Rotkohl startete und landete gleich darauf auf ihrer zitronengelben Bluse. „Scheiße!“, schrie Lucrezia. „Scheiße! „Scheiße!“

„Sieht mir eher nach Rotkohl aus“, korrigierte Kevin.

Johannes warf seinem Enkel einen Blick zu und zwinkerte. Kevin schenkte seinem Opa ein schmales Lächeln.

„Also was, Kevin? Hast du?“ fragte Bernard mit erhobener Stimme, um über Lucrezias Gekreische hinwegzutönen.

„Ja, Vater“, sagte Kevin leise.

Silvia legte ihre Gabel für einen Moment ab und streichelte Kevins Wange. „Natürlich hast du das, Mäuschen“, sagte sie und lächelte ihn an. Kevin wandte sich wieder seinen Kartoffeln zu.

Lorenzo hatte den obersten Hosenknopf bereits geöffnet. Sein Bauch wölbte sich unter dem schwarzen Hemd.

Lucrezia schimpfte immer noch.

„Mannaggia!“, fluchte Lorenzo. „Schluss jetzt, Signorina! Es ist nur eine Bluse, he?“ Er fuchtelte mit seiner rechten Hand herum; mit der linke versuchte er, einen ganzen Kloß aufzuspießen. „Ich kaufe dir eine neue.“

Lucrezia lächelte zufrieden und klatschte die dreckige Serviette auf den Tisch.

„Jedes Mal das gleiche mit meiner Schwester und ihrer Familie“, sagte Bernard leise zu seiner Frau.

„Möchtest du etwas sagen, Bruderherz?“ Martina richtete sich kerzengerade auf.

Lucrezia war verstummt und fummelte in ihrer Hosentasche herum. „Diese verdammten Handys immer“, murmelte Bernard, während er sie beobachtete.

Auch das hatte Martina gehört. „Sag schon! Du bist ja der Experte für alles.“

„Ich habe mich nur gefragt, warum du nicht dein Kind unter Kontrolle bringen kannst.“ Bernard lehnte sich in seinem Stuhl zurück und griff nach seinem Rotweinglas. Er leerte es in einem Zug. Heute Abend würde Silvia das Auto fahren müssen.

„Wie kannst du es wagen?“ fing Martina an und öffnete den Mund, um ihren Dampf abzulassen.

Lucrezia tippte derweil auf ihrem Smartphone herum und hob es ans Ohr. Dabei versetzte sie ihrer Mutter einen Seitenhieb mit dem Ellenbogen. Für einen kurzen Moment starrte Martina ihre Tochter ungläubig an.

Lucrezia sagte: „Annabelle? Ja, ich kann reden. Gib mir einen Moment, um diesem Höllenloch zu entkommen.“ Sie schob ihren Stuhl mit solcher Kraft zurück, dass er umfiel und mit einem lauten Krachen auf dem Marmorboden landete.

Johannes stand auf und humpelte zu der Stelle, wo der Stuhl lag. Martina war schon da, stellte ihn auf und betrachtete den Marmor. „Alles in Ordnung“, sagte sie erleichtert.

Johannes inspizierte den Boden etwas genauer, kam dann aber zu dem gleichen Schluss.

Lucrezia hatte sich nicht noch einmal umgedreht und war hoch erhobenen Hauptes aus dem Zimmer spaziert. Kevin sah ihr nach.

*

Johannes schloss die Tür hinter Bernard. Sein Rücken schmerzte mehr denn je. Er musste sich eingestehen, dass auch er nicht mehr der Jüngste war, weshalb er vor Kurzem sein Testament aufgesetzt hatte. Die Entscheidung darüber, wie er das Erbe verteilte, hatte Bernard ganz und gar nicht gefallen.

Seufzend ging Johannes zu seinem Ohrensessel und ließ sich hineinfallen. Er schaltete die Stehlampe an. Warmes Licht erleuchtete den Raum. Hinter ihm stand das große Bücherregal, in dem vorwiegend Krimiromane und Naturkundebücher zu finden waren. Poe, Doyle, Christie, Sayers, die ganze Kiste. Neben dem Sessel stand die große Alokasie in einem grünen Topf. Johannes streichelte ihre pfeilförmigen Blätter und lächelte. Er lehnte sich vor und sog den erdigen Duft ein. Seine Pflanzen schafften es immer wieder, ihn zu beruhigen. Seit seine Frau gestorben war, hatte er seine Leidenschaft für Pflanzen entdeckt. Die Alokasie war seine Lieblingspflanze. Groß, majestätisch und wunderschön. Genauso wie seine Frau es gewesen war. Er hatte die Pflanze insgeheim nach ihr benannt: Anna.

Dieses Geheimnis hatte er allerdings niemandem aus seiner Familie verraten. Er betaste die feuchte Topferde. Sein Lächeln erstarb, als er etwas Sonderbares spürte. Es war ein Zigarettenstummel. Er zog ihn heraus. Soweit er wusste, rauchte nur ein Familienmitglied und man sah es ihr an den hübschen, manikürten, aber völlig nikotinverfärbten Fingern an. Johannes krümmte seine Hand zur Faust und zerquetschte den Zigarettenstummel.

*

 

Auf der Fahrt nach Hause telefonierte Lucrezia im Auto unbeirrt weiter. „Du Schlampe!“ sagte sie gerade lachend ins Telefon, als sie in die Auffahrt zu ihrem Haus einbogen. „Ich wünschte, ich hätte dabei sein können. Aber du weißt ja, musste zu diesem Familienscheiß. Hatte Christina wieder dieses Nuttenkleid an, in dem sie so fett aussieht?“ Lucrezia lauschte ins Telefon und klopfte sich dann lachend auf die Schenkel. „Wie peinlich! Wenn ich diese Cellulite hätte, würde ich mich umbringen.“ Sie betrachtete ihre Nägel. Eine piepsige Stimme drang aus dem Handy und wieder lachte Lucrezia laut auf.

Martina krampfte ihren Kiefer zusammen und drehte das Radio lauter. Es lief ein bekannter Pop-Song. Martina hasste Pop-Songs. Lorenzo trommelte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad herum und wippte vor und zurück. „Lorenzo! Du hättest mich fahren lassen sollen, du bist doch angetrunken“, sagte Martina hitzig. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten.

„Willst du mir wieder den Abend verderben, he. Porco dio, immer dieses Gemeckere!“ Martina seufzte innerlich und erinnerte sich daran, dass Lorenzo nächste Woche wieder nach Italien fahren musste für seinen Möbel Großhandel. Dann hatte sie wenigstens ihre Ruhe.

Sie hielten an und stiegen aus. Lorenzo warf Martina den Schlüssel zu. Dann ging er pfeifend neben Lucrezia ins Haus. Er stolperte über einen Stein und sah sich verwirrt um. Für einen Moment stand Martina nur neben dem Auto und beobachtete die Szene. Sie sah, wie Tamara, ihr Hausmädchen Lorenzo und Lucrezia begrüßte und zur Seite trat. Lorenzo wankte sofort zur Treppe und hinauf zum Schlafzimmer. Als Martina ihre Handtasche von der Rückbank nahm, sah sie etwas zwischen den Sitzen schimmern. Stirnrunzelnd zog sie ein kleines, schwarzes Telefon zwischen den Lederpolstern hervor. Das Handy musste Lucrezia vergessen haben, sie besaß insgesamt drei von diesen Dingern. Achselzuckend steckte Martina es ein und schloss die Tür ab. Sie steuerte auf das Haus zu. Als Tamara sie lächelnd begrüßte, bemerkte Martina den blauen Fleck an ihrem Oberarm. Tamara zupfte den Ärmel ihrer Uniform herunter und senkte den Blick. Unter ihrem braunen Haarschopf konnte Martina die Röte in ihrem Gesicht erkennen.

*

„Alles in Ordnung, Mäuschen?“ fragte Silvia von der Tür aus ihren Sohn, der sich nach dem Abendessen in sein Zimmer verkrochen hatte. Er saß in seinem dunklen Zimmer, das nur durch das schwache Licht des Computerbildschirms ein wenig erhellt wurde. Silvia trat einen Schritt vor und legte ihre Hand auf den Lichtschalter. „Mach dir doch Licht an, Kevin“, sagte sie, doch Kevin schüttelte nur den Kopf. „Nein, Mama“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Es tut mir leid, dass das Essen so ein Reinfall war“, sagte Silvia entschuldigend. Schon wieder wollte sie hinzufügen. „Deine Cousine …“

Doch Kevin unterbrach sie. „Die letzte Person, über die ich reden möchte, ist meine Cousine.“

„Sie ist dir gegenüber immer so gemein“, sagte Silvia traurig.

Kevin schnaubte. „Sie ist zu jedem gemein. Selbst zu ihrer eigenen Mutter.“

Silvia seufzte. Sie wollte sich nicht in das Leben von Bernards Schwester einmischen, doch sie musste zugeben, dass sie beim Abschied niedergeschlagen gewirkt hatte.

Silvia ging zu ihrem Sohn. „Was machst du denn da, Mäuschen?“ fragte sie stirnrunzelnd. Über den PC-Bildschirm ergoss sich eine Sintflut von Ziffern und Zeichen.

„Programmieren, Mama“, sagte Kevin ein wenig stolz und lächelte ihr kurz zu.

„Du bist so begabt“, sagte Silvia und gab Kevin einen Kuss auf den Kopf. Dann verließ sie lächelnd das Zimmer. Als sie das Schlafzimmer betrat, flog gerade ein Kissen quer durchs Zimmer.

Erschrocken hielt Silvia an. „Bernard!“ sagte sie erstaunt und beobachtete, wie ihr sonst so kontrollierter Mann ein Kissen nach dem anderen durchs Zimmer schmiss.

„Es reicht mir!“ Er raufte sich die Haare.

„Was reicht dir?“ fragte Silvia perplex. Sie stand wie angewurzelt im Raum. „Lucrezia. Wie konnte meine Schwester sie nur so verziehen? Sie ist ein Monster!“

Silvia räusperte sich unbehaglich.

Bernard sah sie wütend an. „Ach, Silvia, bei Gott, jetzt sag es doch endlich!“

Silvia senkte den Kopf und murmelte: „Was denn sagen?“

Bernard kam auf sie zu. „Was für ein elendes, dummes Pack diese Familie ist! Lucrezia ist ein Desaster und Papa möchte ihr genauso viel Geld vererben wie Kevin. Das hat er mir vorhin erzählt, als ihr schon zum Auto gegangen seid. Sag mir, wo das gerecht ist, Silvia.“

Silvia schreckte zurück. Noch nie hatten sie über das Erbe gesprochen. Ihr Kevin war ein viel besserer Junge, der so viel mehr verdient hatte als dieses Schreckensweib. „Sie ist schrecklich“, sagte Silvia leise. Ihre Stimme klang gepresst.

Zum ersten Mal an diesem Abend lachte Bernard. „Endlich ist es raus“, sagte er und blickte seine Frau amüsiert an. Dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder. „Sie ist ein Desaster für die ganze Familie.“

Für einen Moment sahen sich Bernard und Silvia nur an. Mit einem Seufzer begann Bernard schließlich, die herumliegenden Kissen wieder einzusammeln und aufs Bett zu legen. Silvia atmete tief durch und half ihm.

*

Lucrezia nahm die Schlafmaske ab und stand auf. Sie zog die seidenen Vorhänge, die ihr Bett umrahmten, zur Seite und blinzelte ins Sonnenlicht. Auf ihrem Nachttisch stand ein Glas mit frischem Zitronensaft. Zufrieden setzte sich Lucrezia das Glas an die Lippen. Da fiel ihr Blick auf einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf ihrem Nachttisch: ein schwarzes Mobiltelefon, dessen Oberfläche im Schein des Sonnenlichts glitzerte. Hatte Tamara ihr Handy hier liegenlassen?

Aber die Bediensteten durften während ihrer Arbeitszeit kein Telefon benutzen. Lucrezia öffnete das Telefon; es blinkte und zeigte den Empfang einer neuen Nachricht an. Lucrezia tippte verwirrt auf die Nachricht. Warum lag ein fremdes Handy hier in ihrem Zimmer? Sie sah sich um. Durch das geöffnete Fenster strömte die Luft herein und bauschte die Vorhänge auf. Einen Moment lang sah es aus, als würde jemand hinter den Vorhängen stehen. Lucrezia schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Handy zu. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen breitete sich immer weiter aus, während sie auf eine Foto-Datei starrte. Sie drückte auf das Bild, um das Foto herunterzuladen. Als sich ihr das Bild offenbarte, weiteten sich Lucrezias Augen. Ihre Hände begannen zu zittern und ihr Herz schlug bis zum Anschlag. „Nein“, flüsterte sie und wiederholte das Wort wie in Trance. „Nein, nein, nein, nein.“

Lucrezia rannte zu ihrem Kleiderschrank, die Hand fest um das Handy gepresst. Sie zog wahllos ein Outfit heraus, ein schwarzes Samtkleid, und rannte ins Badezimmer. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und versuchte ruhig zu atmen, doch es war unmöglich. Sekunden später rannte sie ins Foyer, die Treppe hinauf zum Schlafzimmer ihrer Eltern.

„Lucrezia, was redest du denn?“ fragte Martina bestürzt. Sie stand im Morgenmantel an ihrer Tür und betrachtete das rote Gesicht ihrer Tochter. „Ob. Du. Ein. Handy. In. Mein. Zimmer. Gelegt. Hast.“ sagte Lucrezia gefährlich leise. Sie umklammerte das kleine Telefon in ihrer Hand. „Ja“, sagte Martina verdutzt und starrte auf das Handy. „Ich dachte mir schon gestern, dass es gar nicht zu dir passt“, sagte sie nachdenklich.

Lucrezia schnaubte laut. Sie wedelte mit dem Handy vor Martinas Nase herum. „Es ist auch nicht meins. So ein scheiß Ding würde ich mir nicht im Traum kaufen. Wo hat du es gefunden?“ fragte sie.

„Im Auto“, sagte Martina und rieb sich die Augen. Sie war erst vor ein paar Minuten aufgestanden. Aus dem Schlafzimmer drang Lorenzos lautes Schnarchen. „Aber was ist denn los, Lucrezia?“ fragte sie.

„Irgendwer hat mir dieses Handy untergejubelt, um mir zu schaden“, schrie Lucrezia wütend.

„Schaden? Womit? Was ist denn darauf …“

„Nichts.“ Lucrezia ließ die Hand mit dem Handy sinken. „Nur etwas … Gemeines“, sagte sie schwach. Übelkeit stieg in ihr auf bei dem Gedanken an das Bild. Sie war sich sicher, dass Martina das Handy nicht im Auto platziert hatte. Auch ihren Vater schloss sie aus. Er hätte das Handy im Auto nicht einmal bemerkt, wenn er darauf gesessen hätte.

Lucrezia stürmte davon in ihr Zimmer. Auf ihrem Bett summte ihr iPhone. Lucrezia überlief ein Schauer. Eine kühle Brise wehte von draußen hinein und fuhr ihr durch die ungekämmten Haare. Das Fenster stand weit offen und Lucrezia war sich sicher, dass sie es nicht aufgemacht hatte. Niemand ist hier drin, versuchte sie sich zu beruhigen und konzentrierte sich auf das iPhone. Auf dem Display war der blonde Schopf von Annabelle zu sehen. Gerade wollte Lucrezia den Anruf beantworten, als ihre Hand in der Luft verharrte. Was, wenn …? Nein, Annabelle konnte nichts damit zu tun haben. Sie waren doch Freundinnen. Davon abgesehen wusste von dieser Sache niemand.

Lucrezia setzte sich aufs Bett und grübelte. Jemand, der gestern auf der Familienfeier gewesen war, musste das Handy ins Auto gelegt haben. Nur wer? Und viel wichtiger: Warum?

*

„Es ist Samstag, Mama! Warum müssen wir schon wieder zu einem Familientreffen? Ich hab echt keine Lust mehr“, sagte Kevin verärgert, während er auf dem Teppich seines Zimmers hockte. In der einen Hand hielt er einen Schraubschlüssel, in der anderen eine Festplatte. Neben ihm stand eine Kiste mit Elektroschrott. Martina lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen und beobachtete ihren Sohn. Sie hatte noch nie verstanden, was er an seinem Computer immer herumbastelte, doch es schien ihm Freude zu machen.

„Das habe ich dir doch schon gesagt, Kevin. Dein Vater und dein Opa haben etwas zu klären.“ Sie drehte an ihrem Ehering herum.

Kevin legte den Schraubschlüssel und die Festplatte beiseite und stand auf. „Was denn?“ fragte er und starrte seine Mutter an.

„Etwas wegen dir und … nun ja, Lucrezia.“

Kevins Blick verfinsterte sich. „Ich habe keinen Grund, die noch öfter zu sehen als sonst“, sagte er kühl.

„Es geht um etwas Wichtiges“, sagte Martina.

„Wenn schon“, sagte Kevin.

„Ist es wegen dem, was in der Schule passiert ist?“ fragte Martina vorsichtig. Sofort packte sich Kevin seinen Schreibtischstuhl und schmiss ihn mit aller Wucht um. Martina zuckte zurück.

„Das ist meine Sache!“, schrie Kevin. Martina schluckte und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

*

Tamara klopfte an Lucrezias Zimmertür. Ihre Haare waren wie gewohnt im Nacken zu einem Knoten gebunden. Sie wartete einige Sekunden, doch niemand antwortete, also trat sie ein. Der Anblick, der sich ihr bot, überraschte sie. Sie arbeitete nun schon seit fast einem Jahr für die Familie, doch hatte sie Lucrezia noch nie so gesehen. Lucrezia saß an ihrem Schreibtisch vor ihrem Computer, was sie sonst selten tat. Lieber lag sie auf ihrem Bett, sortierte Klamotten ein und aus oder hechtete auf ihrem Crosstrainer. Was Tamara am meisten überraschte, waren Lucrezias ungewaschenen Haare, ihr ungeschminktes Gesicht und das Handy, das am Rand des Bettes lag. Sie legt ihr Handy sonst nie weiter als zwei Zentimeter entfernt, dachte Tamara. Sie trug die gewaschene und gebügelte Wäsche ins Zimmer und legte sie leise in den Schrank. Bevor sie aus dem Zimmer ging, zögerte sie und sagte zu Lucrezia: „Alles in Ordnung, Lucrezia?“ Lucrezia schreckte auf. „Ja, ja“, sagte sie gereizt. „Verschwinde endlich.“

Tamara konnte nicht umhin, den leeren Teller auf Lucrezias Schreibtisch mit den Überresten eines Sandwiches zu sehen. Sie wollte den Teller nehmen, aber Lucrezia schlug ihr heftig gegen den Arm. Tamara hielt sich die getroffenen Stelle. Dann verließ sie wortlos das Zimmer.

*

Johannes öffnete die Tür. Als Bernard ihm mitgeteilt hatte, dass er mit ihm und Lucrezia etwas zu klären hätte, war ihm das nur gelegen gekommen. Auch er hatte etwas zu klären.

Silvia, Bernard und Kevin traten ein. Kevin grüßte seinen Opa mit einem Lächeln. Bernard wirkte angespannt, genau wie seine Frau. Nur wenige Minuten später kamen auch Martina, Lorenzo und Lucrezia. Lucrezia trug einen Oversize-Pulli und hatte die Hände in den Taschen verstaut. Erstaunt betrachtete Johannes sie. Er hatte nicht gewusst, dass sie überhaupt Pullover besaß. Ohne ein Wort zu sagen schob sich Lucrezia an ihrem Opa vorbei und stolzierte ins Esszimmer. Sie setzte sich und beobachtete, wie die restlichen Familienmitglieder Platz nahmen. Ihre Augen huschten unruhig hin und her.

Bernard ergriff das Wort. Er richtete sich auf seinem Stuhl auf und blickte ernst in die Runde. „Ich wollte gerne etwas mit Vater besprechen, das mir sehr am Herzen liegt.“ Sein Blick zuckte zu Lucrezia, die ihn misstrauisch beäugte. „Es geht um Vaters Erbe.“ Martina und Lorenzo schnappten nach Luft; Silvia blickte zu Boden. „Was soll damit sein?“ fragte Martina. „Das sollte allein Papas Sache sein.“

„Ist es aber nicht“, sagte Bernard hitzig. „Ich bin nämlich nicht einverstanden mit seiner Entscheidung.“ Martina zog die Augenbrauen hoch. „Ach ja? Verteilt er das Erbe etwa gerecht?“ Bernard ließ seine Faust auf den Tisch knallen. „Es ist nicht gerecht!“ Alle zuckten zusammen. „Es ist nicht gerecht, dass eure Tochter genauso viel bekommen soll wie Kevin! Sie ist schrecklich zu allen in der Familie, ist euch das nicht aufgefallen?“ Seine Stimme war immer noch erhoben. Er funkelte Lucrezia böse an. Sie erwiderte seinen Blick aufmerksam. So hatte sie ihren Onkel noch nie erlebt. Ihre Finger drehten unablässig das Handy in der Tasche herum. Konnte es sein?, fragte sie sich. Bernard hatte sie noch nie gemocht und er wollte schon immer, dass Kevin etwas Besseres bekam als sie.

„Entschuldige mal, aber sie ist unsere Tochter“, sagte Martina aufgebracht, die Wangen fleckig vor Hitze.

Bernard stand ruckartig auf; der Stuhl quietschte über den Boden. „Wenn ihr Lucrezia mehr Aufmerksamkeit geschenkt hättet und nicht diese ganzen Nannys eingestellt hättet, wäre sie heute vielleicht nicht so ein Biest!“, sagte Bernard.

„Martina und ich arbeiten nun mal viel. Lucrezia hat immer das Beste bekommen in ihrer Kindheit“, sagte Lorenzo. Er strich sich die schwarzen Haare nach hinten.

Bernard lachte laut. „In ihrer Kindheit? Bis wann hatte Lucrezia denn Nannys? Soweit ich mich erinnere war das, bis sie 15 war. Also noch vor zwei Jahren.“

„Sie haben ihr nie geschadet“, sagte Martina schrill. „Es waren immer kompetente, ausgebildete Mädchen, die …“

„… es nie lange ausgehalten haben bei euch“, beendete Bernard den Satz für sie.

„Das ist so anmaßend von dir, Bernard! Sie haben ihr nie geschadet!“ wiederholte Martina.

„Sie hat aber ihnen geschadet“, sagte Kevin leise. Alle Augen richteten sich auf ihn. Kevins Blick war auf Lucrezia gerichtet und hart wie Stein.

„Mäuschen?“ fragte Silvia verwirrt. „Was soll das heißen?“ Sie betrachtete ihren Sohn, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sein Mund war zu einer Linie gepresst, seine Augen zusammengekniffen und voller Abscheu. Dann legte sich ein Lächeln auf seine Lippen, das seine Augen nicht erreichte. „Sind euch noch nie die blauen Flecken an den Armen der Bediensteten aufgefallen?“ fragte Kevin. Seine Eltern starrten ihn mit offenem Mund an.

Martina sah beschämt zu Boden und Lorenzos Gesicht lief rot an. „Das waren nur Unfälle.“ Sie vermied es, ihre Tochter anzusehen.

„Das ist wirklich kein Verhalten, Lucrezia. Genauso wenig, wie deine Zigarettenstummel in meinen Pflanzen zu vergraben“, sagte Johannes ruhig. „Meine Pflanzen bedeuten mir alles.“

Bernard schnaubte. „Ja, deine Pflanzen bedeuten dir scheinbar mehr als deine eigene Familie. Du weißt, dass Kevin mehr vom Erbe verdient als Lucrezia“, sagte er.

Johannes setzte zu seiner Antwort an, doch er verstummte, als Martina aufsprang. „Warum sollte Kevin mehr bekommen als unsere Lucrezia? Was macht er denn schon den ganzen Tag? Er hockt zu Hause und schraubt an Handys und Computern rum.“

Lucrezias Kopf schnellte hoch. Sie blickte Kevin an, der ihren Blick kühl erwiderte. Dann streckte er sein Kinn raus und sah Lucrezia herausfordernd an. Ihr blieb beinahe die Luft weg. „Du warst es,“ flüsterte sie.

Kevin erhob sich langsam von seinem Stuhl, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Ja. Ich war es. Ich habe dir das Foto geschickt“, sagte er tonlos. Lucrezia schreckte zurück, während alle sie anstarrten. Ihre Hände wühlten in ihrer Tasche herum.

Martina fragte: „Was für ein Foto meint er denn?“

Bernard blickte genervt zwischen Lucrezia und Kevin hin und her. „Was tut das jetzt zur Sache? Wir sind aus einem wichtigeren Grund hier.“

Kevin stand immer noch und starrte Lucrezia an.

„Setz dich wieder hin, Kevin“, sagte seine Mutter flehend; Kevin ignorierte sie.

„Warum tust du das?“ fragte Lucrezia leise.

Kevin ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. „Weil du ein Miststück bist.“

Silvia schlug sich die Hand vor den Mund und starrte ihren Sohn an. Bernard war blass geworden. Johannes wusste nicht, wie er reagieren sollte.

„Du hast der gesamten Schule erzählt, dass ich schwul bin und dass du mich mit einem Typ beim Knutschen in der Turnhalle erwischt hast“, sagte Kevin langsam. Er achtete nicht auf die bestürzten Reaktionen der anderen. „Seit du dieses Gerücht verbreitet hast, werde ich wie Scheiße behandelt. Von allen. Meine Freunde wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, Klassenkameraden meiden mich oder machen sich über mich lustig. Mir werden Schulsachen geklaut und ich werde verprügelt. Die aus der Oberstufe haben mir so lange in den Magen geboxt, bis ich gekotzt habe. Und du hast das noch nicht mal mitgekriegt“, sagte Kevin. Seine Stimme zitterte. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und lehnte sich über den Tisch zu Lucrezia.

Niemand sagte ein Wort. Silvia standen die Tränen in den Augen und sie hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. „Kevin, wir hatten ja keine Ahnung, dass es das war, was in der Schule los war“, flüsterte sie. Kevin reagierte nicht darauf, sondern fixierte Lucrezia immer noch. Dann ging er um den Tisch und griff in Lucrezias Tasche. Lucrezia reagierte zu langsam und ihr Kreischen nützte nichts mehr, denn Kevin hatte ihr bereits das Handy abgenommen. „Niemand weiß, wer du wirklich bist, Lucrezia. Du bist nicht nur ein Monster, du bist auch eine M…“

„Stopp!“ schrie Lucrezia so laut, dass Kevin innehielt. „Bitte“, sagte sie und eine Träne rann ihre Wange hinunter. „Ich tu alles, damit du niemandem das Bild zeigst. Ich sag allen die Wahrheit, dass ich mir das Gerücht über dich nur ausgedacht habe. Ich fand es witzig, es sollte ein Scherz sein.“

„Du hast alles ruiniert. Keiner glaubt mir. Ich bin nicht nur der Schwule, sondern auch der Lügner. Aber ich bin kein so großer Lügner wie du“, sagte Kevin und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Lucrezias Augen wurden groß. „Bitte nicht“, sagte sie. Einige Momente herrschte Stille. Kevin betrachtete sie abschätzig. Dann streckte er zaghaft die Hand mit dem Handy darin aus. „Ich lösche das Foto von meinem Handy, wenn du allen die Wahrheit gesagt hast“, sagte er.

Lucrezia riss das Handy an sich. Sie murmelte ihre Zustimmung. „Ich muss jetzt nach Hause“, sagte sie und hielt den Kopf gesenkt, während sie aus dem Zimmer stürmte. Martina versuchte, sie aufzuhalten. „Warte, Schatz“, rief sie, doch Lucrezia beschleunigte nur ihre Schritte.

*

Lucrezia beschloss zu laufen, da ihr Haus nicht weit entfernt lag und sie sich beruhigen musste. Sie hatte sich mächtig getäuscht in Kevin. Seine Spielereien mit Elektroschrott hatte er genutzt, um ihr ein Handy unterzujubeln. Sie erreichte die Auffahrt und blickte auf den Firmenwagen ihres Vaters. Ihre Schritte verlangsamten sich und in ihrem Kopf tauchte plötzlich ein Gedanke auf, während sie an dem Auto vorbeiging: Wie hatte Kevin am Abend des Familienessens das Handy ins Auto legen können? Er war doch die ganze Zeit über am Tisch gewesen und außerdem hatte Lorenzo seinen Wagenschlüssel immer in seiner Hosentasche. Woher wusste er überhaupt von dem Vorfall, mit dem er sie erpresst hatte? Lucrezia stand stocksteif vor ihrer Wohnungstür und fragte sich, warum ihr der Gedanke jetzt erst kam. Was den Autoschlüssel anging, konnte Kevin den Zweitschlüssel genommen haben. Aber der lag immer im Haus.

In der Dunkelheit ragte das Gebäude vor ihr auf, der Flur war beleuchtet. Kevin hatte von den blauen Flecken der Bediensteten gewusst. Woher? Das Wort spukte in ihrem Kopf herum, als sie die Tür aufschloss und hereintrat. Als sie die Tür hinter sich schloss, erstarrte sie. Oben auf der Treppe stand Tamara und sie hielt ein Handy in der Hand.

„Tamara?“ fragte Lucrezia verwirrt. „Was machst du da?“

„Oh, wenn es dir nichts ausmacht, würde ich die Fragen stellen“, sagte Tamara kühl. Sie trug ihre Uniform und hatte ihre Haare wie immer zu einem Knoten gesteckt. „Ich mochte Kevin schon immer, weißt du.“ Sie stieg langsam die Stufen hinunter.

Lucrezias Augen folgten ihr und sie schluckte.

„Er kam vor ein paar Wochen hierhin und wollte mit dir reden, er war sehr aufgebracht. Ich habe ihn hereingebeten und er hat mir erzählt, was du mit ihm gemacht hast. Er war auch der erste, der meine blauen Flecken bemerkt und sie nicht einfach ignoriert hat“, sagte Tamara und rieb sich den Arm. „Ich habe schon von den Haushaltshilfen vor mir gehört, dass du ein Biest bist, der gerne mal die Hand ausrutscht.“ Lucrezia trat einen Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Haustür stieß. Tamara erreichte den unteren Treppenabsatz. Lucrezia war noch nie aufgefallen, wie groß sie war. Mit langsamen Schritten, aber unaufhaltsam kam sie auf Lucrezia zu, das Handy noch immer in der Hand. „Mit einer Haushaltshilfe, Rabea, stand ich in sehr engem Kontakt. Sie hat mir erzählt, was mit dem Mädchen passiert ist, das vor ihr hier gearbeitet hat. Marie hieß sie, nicht wahr?“, fragte Tamara.

Lucrezia versuchte keine Reaktion zu zeigen. Doch ihr Herz wummerte schmerzhaft in ihrer Brust.

„Marie war ein liebes Mädchen, aber dir ist sie scheinbar auf die Nerven gegangen. Sie hatte auch ständig blaue Flecken, hat mir Rabea erzählt. Eines Tages habt ihr so heftig gestritten, dass du dich nicht mehr kontrollieren konntest. Was hast du noch gleich mit ihr gemacht?“ Tamara baute sich zu ihrer vollen Größe auf, als sie direkt vor Lucrezia stand. Ihre dunklen Augen blitzten.

„Nichts“, sagte Lucrezia leise. „Sie ist ausgerutscht.“ Ihre Stimme hörte sich dünn an und ihr wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht.

„Ja, das ist es, was du deinen Eltern erzählt hast. Dumm wie sie sind, haben sie dich gedeckt und niemand hat Marie ein Wort geglaubt. Aber Rabea hat kurz vorher ein Foto gemacht. Natürlich bevor sie gefeuert wurde.“

Tamara hielt ihr das Handy vor die Nase und packte Lucrezias Kinn. „Sieh es dir an, Lucrezia!“ Lucrezias Augen wanderten zu dem Foto. Sie sah sich selbst auf dem Treppenabsatz stehen, vor ihr Marie, die Hände zum Schutz erhoben. Lucrezias Gesicht war dunkelrot, die Hand zum Schlag ausgeholt. Marie hatte den Halt bereits verloren, unaufhaltsam; im nächsten Augenblick war sie gestürzt. Lucrezia konnte hören, wie die Knochen brachen, und den langen Schrei. Wie eine Glocke hallte er in ihr wider.

Tamara lächelte. „Rabea hat dein Geheimnis für immer festgehalten. Sie wollte eigentlich nur ein Beweisfoto dafür, dass du deine Bediensteten misshandelst. Und dann fotografiert sie gerade diesen Moment.“

 „Aber wie …“ Lucrezia starrte auf das Handy.

„Wie ich darangekommen bin?“ fragte Tamara. „Deine Eltern haben das Handy von Rabea konfisziert, nachdem sie sie rausgeschmissen haben. Und sie haben genau das gemacht, was sie mit deinen alten Handys auch immer machen: sie an Kevin gegeben, der gerne an Geräten herumbastelt.“

Lucrezia konnte es nicht glauben. Sie hatte ihm direkt in die Hände gespielt.

Tamara sagte: „Er hat das Foto erst Monate später entdeckt, aber als du angefangen hast, die Gerüchte über ihn zu verbreiten, hat er mich gefragt, was es mit dem Foto auf sich hat. Ich habe ihm alles erzählt.“

Einen Moment lang schwieg sie.

„Wusstest du es damals schon?“ fragte Tamara und ließ das Handy sinken.

„Was?“

„Du weißt schon.“

Lucrezia starrte zu Boden. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein“, sagte sie. „Ich wusste nicht, dass sie schwanger war.“

Lucrezia hockte sich auf den Boden.

Tamara betrachtete sie. „Ich habe den Zweitschlüssel Lorenzos genommen und bin zu deinem Opa hinübergelaufen, um das Handy auf dem Rücksitz zu platzieren. Ich wollte das unbedingt machen.“ Triumphierend sah sie auf Lucrezia hinunter.

„Du bist ein Miststück“, sagte Tamara ruhig. Dann hielt sie ihr das Handy noch einmal vor die Nase. Es dauerte einen Moment, bis Lucrezia etwas erkennen konnte. Das Bild von ihr und Marie war in einem Mailanhang zu sehen. Tamaras Daumen schwebte vor dem Kästchen, in dem Senden stand. Lucrezias Augen weiteten sich. „Nein! An wen willst du das schicken?“ Sie griff nach Tamaras Hand mit dem Handy, doch Tamara war schneller. Sie hielt Lucrezias Arm fest, sah ihr in die Augen und sagte: „An alle.“

2 thoughts on “An alle

  1. Lieber Unbekannte/r Auror/in,
    Du hast hier eine sehr spannende Geschichte abgeliefert. Das Ende hat mir besonders gut gefallen. Dein Schreibstil spricht mich persönlich als Leserin total an. Deine Fähigkeit, Lucrezias Charakter zu beschreiben, ist grandios! Mich hast du damit auf jeden Fall gefesselt!
    Weiter so! Dran bleiben!:)
    Herzlich – Lia 🌿

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