Christina SitzmannAtemlos

Hinweis: Alle Personen in der Geschichte sind fiktiv und entsprechen keinen realen Menschen.

Ein teuflisches Lächeln zeichnet sich auf meinem Gesicht ab, als ich zufrieden zu meinen Händen blicke, die tief im Unterleib einer Frau stecken.

So fängt der Tag doch schon mal gut an und dabei haben wir noch nicht einmal 9 Uhr!

Schließlich spüre ich das Objekt der Begierde und löse es langsam aus der Gebärmutter der Frau, die willenlos auf meinem Tisch liegt.

Sobald es mit der Luft in Berührung kommt beginnt das kleine Etwas zu quengeln und ich reiche es schnell weiter.

Lia Thomas“, schallt es durch den Operationssaal, „Geburt um 8:42 Uhr“, eine Gänsehaut läuft über meinen Rücken. Wieder haben das Team und ich ein kleines Wesen auf die Welt gebracht, was Lia die Zukunft bringen würde wissen wir nicht, aber sie lebt.

Ich beeile mich damit alles wieder ordnungsgemäß zu vernähen, damit Frau Thomas zu ihrer kleinen Tochter kann, von der wir noch nicht mal wissen ob sie den Tag überleben würde.

Nachdem die Patientin wieder geschlossen ist und ich sie in die fachkundigen Hände der Krankenschwestern übergeben habe spaziere ich zu den kleinen Inkubatoren auf der Neonatologie. Tief sauge ich den Duft nach Babypuder und Desinfektionsmittel ein und öffne die Tür zum Stationszimmer.

Dr. Theo Sanders, die Kinderärztin wartet bereits auf sie.“, empfängt mich Schwester Gabi. Schwester Gabi gehört zu den Erfahrensten im Team, mit ihrem bereits graumelierten, kurzem Haar und ihrem gütigen Lächeln ist sie der Balsam auf der Seele der geschundenen Eltern und die Ansprechpartnerin aller Kollegen. Sie hat mehr Frühchen begleitet, als ich auf die Welt gebracht habe. In den letzten Jahren bin ich in vielen verschiedenen Kliniken gewesen, aber nirgendwo habe ich so eine gute Seele wie Gabi getroffen.

Ich nicke ihr kurz zu und bin schon fast aus der Tür, als sie mich aufhält: „Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen Geburt. Ich habe gehört, dass es dieses Mal besonders schwierig war.“

Sie lächelt mir aufmunternd entgegen und ihre grünen Augen leuchten vor Freude.

Ist es bei uns nicht immer besonders schwierig?“, zwinkere ich ihr zu, „Die kleine Lia wird uns alle noch für längere Zeit auf Trab halten.“, verspreche ich ihr und eile schließlich den Gang zum Besprechungszimmer am anderen Ende des Flures.

Die Neonatologie ist so freundlich eingerichtet wie es nunmal möglich ist. Das heißt, dass die Wände im vorderen Abteil in Rosa und Weiß gestrichen sind und in der hinteren Abteilung in Blau und Weiß. Vorne befindet sich das Stationszimmer und drei große Räume, in denen sich die Inkubatoren mit unseren kleinen Patienten befinden. Pro Zimmer können wir bis zu 5 Säuglinge beherbergen. Im hinteren Bereich befindet sich ein großer Untersuchungsraum, das Besprechungszimmer für die Gynäkologen und Pädiater und 3 Familienzimmer, in denen die Kinder, die bereits keinen Inkubator mehr brauchen mit ihren Eltern untergebracht werden können. Die Mütter der Inkubator-Kinder liegen direkt nach der Geburt auf der Gynäkologie und können, sobald sie entlassen wurden, entweder Zuhause schlafen oder, wenn sie eine zu lange Fahrtstrecke haben oder unter keinen Umständen zu weit vom Kind entfernt sein wollen, in einem separaten Gebäude neben dem Klinikum ein Zimmer beziehen. Wir nennen diesen Container liebevoll den Helikopter-Bunker, denn ganz gleich ob die Säuglinge unsere Station tot oder lebendig verlassen, die Zeit hier wird die Eltern so sehr geprägt haben, dass sie immer etwas besorgter um ihre Kinder sein werden als gewöhnliche Eltern.

Eilig stoße ich die Tür zum Besprechungszimmer auf, in dem schon 4 weitere Personen auf mich warten, um die Situation von Lia besser einschätzen zu können. In der Mitte des Raumes steht ein großer runder Tisch, an den ich mich nun schließlich auch setzte, an diesem Tisch finden unsere wichtigen Besprechungen statt. Deswegen ist er immer übersät mit Akten und anderen Zetteln und einer großen Kanne Kaffee, aus der ich mir nun auch eine Tasse meines Lebenselexiers einschenke.

Entlang der Wand befindet sich eine kleine Küchenzeile, an der wir unseren Kaffee kochen. Ansonsten nutzen wir von ihr meist nur die Mikrowelle und den Kühlschrank, aber nur an guten Tagen. An den meisten Tagen ist schlichtweg nicht mal Zeit dafür, weshalb viele meiner Kollegen die Zeit während der Besprechung nutzen und da essen.

Dr. Sanders, das war heute wieder mal hervorragende Arbeit, aber etwas Anderes kennen wir ja nicht von Ihnen.“, lobt mich die Kinderärztin Dr. Lee.

Ich nicke nur, denn wir wissen alle, wenn wir unseren Job nicht gut machen und nicht besser als gewöhnliche Ärzte wären, wäre unsere Todesquote viel höher.

Lia Thomas, kam heute morgen um 8:42 Uhr per Notsectio auf die Welt.“, fasst Dr. Lee zusammen. Als Kinderärztin hat sie nach der Geburt den größten Anteil an Lias überleben. Die schöne Ärztin wurde damals extra aus China angefragt, weil ihr Ruf bereits überall bekannt ist. Sie ist mit ihren 32 Jahren noch wahnsinnig jung für eine gefragte Fachärztin, aber Dr. Lee hat schon viele Kinder gerettet. Die Stationsschwester Silke hört aufmerksam zu, denn sie ist es die dann ihr Team rund um Lia koordinieren wird. Sie ist Mitte 40 und die Sorgen, ich weiß nicht ob privat oder beruflich, haben ihr einige Falten und graue Haare beschert. Zusätzlich ist noch der Arzt, der Stationsdienst auf der Gynäkologie hat anwesend um Frau Thomas auf dem Laufenden zu halten und uns über ihren psychischen und körperlichen Zustand zu informieren. Den Namen des freundlichen Mannes kenne ich nicht, der Stationsdienst wechselt so häufig, dass ich mir gar nicht erst die Mühe mache mir ihre Namen zu merken.

Die Letzte im Bunde ist die leitende Physiotherapeutin Marie, die Lia mit gezielten Übungen das Atmen erleichtern will. Ich dachte immer, dass das völliger Quatsch ist, aber nachdem sie mich mal zu ihren Behandlungen mitgenommen hat, hat sie mich überzeugt.

Die Geburt erfolgte in der 25. Schwangerschaftswoche und Lia wiegt 670g und ist 33cm groß. Der APGAR Score liegt bei 4/6/7. Frau Thomas ist bereits vorstellig bei uns gewesen und seit 3 Wochen stationär bei uns.“, das ist ein Vorteil für mich gewesen, sodass ich den Eingriff besser planen konnte.

Grund für die frühe Geburt ist das HELLP-Syndrom, also eine schwere Form der Schwangerschaftsvergiftung. Heute Morgen wurde die Situation so kritisch, dass wir Lia holen mussten sonst hätten beide den Tag nicht überlebt. Lia ist das erste Kind von Frau Thomas. Den Surfactant-Factor hat man ihr bereits verabreicht, sie bekommt Sauerstoff über den CPAP, also die Atemmaske.“

Soweit alles gut, wie es weiter geht kann man bis dahin noch nicht sagen. Der Surfactant-Factor ist für die Lungenreife des Kindes wichtig und entwickelt sich bis zur 34.Schwangerschaftswoche, weshalb Lia normalerweise nicht oder kaum lebensfähig wäre. Er ist dazu da, dass die Alveolen, also die kleinsten Bläschen der Lunge offen gehalten werden und der Gasaustausch erfolgen kann. Mittlerweile ist die Medizin so weit, dass wir ihn künstlich herstellen und bei der Gefahr einer Frühgeburt der Mutter verabreichen können. Trotzdem bleibt die Situation so lange kritisch, bis Lia selbstständig Atmen und ihre Körperwärme halten kann.

Müde streife ich mir Arztkittel und Kassack ab, wieder ein Tag geschafft.

Sie sehen müde aus Dr. Sanders.“, bemerkt der Gynäkologe, der heute Stationsdienst hatte und dessen Namen ich immer noch nicht kenne.

Ja, war ein langer Tag .“, erkläre ich schlicht und ziehe einen Pullover in dem gleichen Blauton meiner Augen an. Ich sollte dringend mal wieder trainieren gehen. Ich habe das Gefühl, dass meine Hose heute enger sitzt als sonst. Kritisch betrachte ich mich im Spiegel. Nein, es sieht alles normal aus. Meine schwarzen Haare sind wie immer zurückgegeelt, um die wenigen grauen Strähnen zu kaschieren, die sich bereits bemerkbar machen. Hose und Pullover sitzen so wie sie sollen und meine Augen haben immer noch das gleiche eisige Blau wie an jedem anderen Tag.

Ich verschließe meinen Spind, als ich ein Handy bemerke, das auf der Bank zwischen den beiden Spindreihen liegt.

Entschuldigung ist das Ihr Smartphone?“, frage ich den netten Arzt.

Nein, ich hab schon eines.“, wie zum Beweis hält er seines hoch. „Aber vielleicht sollten Sie den Notfallkontakt anrufen, um herauszufinden wem es gehört.“, schlägt er vor und ist im nächsten Moment bereits verschwunden.

Irgendwie kommt mir das Handy vage bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Schließlich beschließe ich das Smartphone mit nach Hause zu nehmen und es dort genauer zu inspizieren.

Zuhause angekommen werfe ich erstmal die Post auf meinen Esstisch und durchstöbere den Kühlschrank nach etwas Essbarem. Man sollte meinen, dass ich mit 42 Jahren mein Leben soweit im Griff habe, dass ich es schaffe mir jeden Tag mindestens eine warme Mahlzeit zu kochen. Die traurige Wahrheit lautet, dass ich in einer kleinen Einzimmerwohnung lebe, mit einem Bad, indem ich mich kaum umdrehen kann. Jeder Student wäre stolz auf diese Wohnung für einen Arzt meines Stellungsgrades ist es ein Armutszeugnis.

Seufzend schließe ich die Tür meines Kühlschranks und beschließe, dass es mal wieder an der Zeit ist zu Bestellen. Ich krame nach meinem Handy in der Tasche und ziehe es hervor.

Erst als ich das fremde Smartphone in meiner Hand halte fällt mir wieder ein, dass es noch existiert. Ich lasse mich auf den Stuhl fallen und inspiziere es genauer. Äußerlich betrachtet ist es ein ganz normales Handy, aber irgendetwas kommt mir daran bekannt vor. Schließlich drücke ich auf den Homebutton und das Handy fordert mich auf die vierstellige PIN einzugeben oder mit meinem Fingerabdruck zu entsperren. Es gibt keine Anruffunktion ohne das Handy entsperren zu müssen. Wie seltsam. Probeweise lege ich meinen linken Daumen auf den Touchscreen und tatsächlich entsperrt sich das Handy, aber wie kann das sein? Ein leichtes Unbehagen macht sich in mir breit, aber meine Neugierde siegt und ich durchforste das Handy genauer. Es gibt keine Apps. Der komplette Bildschirm ist leer bis auf das Symbol für die Galerie. Das ungute Gefühl verstärkt sich und ich muss mich dazu zwingen auf die entsprechende Stelle zu tippen. Mittlerweile ist mir klar, dass ich dieses Handy finden sollte. Ob der namenlose Doc was damit zu tun hat?

In der Galerie befinden sich nur eine handvoll Bilder und mein Finger zittert, als ich auf das Erste klicke. Es ist der Screenshot einer Nachricht, die eindeutig für mich bestimmt ist:

Hallo Joshua Hillbert oder sollte ich dich lieber Dr. Theo Sanders nennen? Vermutlich erinnerst du dich nicht mehr an mich, aber ich mich schon noch an dich.

Mir läuft es eiskalt den Rücken runter, trotzdem wische ich eilig nach links. Woher kennt die Person meinen eigentlichen Vornamen, den habe ich bereits vor einiger Zeit abgelegt. Jeder kennt mich nur noch unter den Namen Theo Sanders.

Jetzt ist alles klar. Der anonyme Schreiber kennt mein dunkelstes Geheimnis, das ich über die Jahre erfolgreich verdrängt habe, aber wie ist das möglich?

Auf dem Bild bin ich zu sehen circa 18 Jahre jünger als heute. Ich befinde mich in einem Behandlungsraum und gebe einer schwangeren Frau eine Spritze, das ist bis hierhin noch nichts Ungewöhnliches. Aber auf dem nächsten Bild sieht man wie ich in die Spritze NaCl ziehe, was schlichtweg eine einfache Kochsalzlösung ist und keinen Effekt hat. Die Frau kommt mir hingegen überhaupt nicht bekannt vor, aber das liegt wohl an der Fülle an Patientinnen, ich ich in meinem Leben betreut habe. Die Verpackung des künstlichen Surfactant-Factors befindet sich im Müll.

Hastig scrolle ich weiter. Jetzt sehe ich ein Foto der zerbrochenen Ampulle im Waschbecken, das Emblem ist deutlich zu erkennen.

Scheiße!“, fluche ich und schlage mit der flachen Hand auf den Tisch.

Aber es geht noch weiter. Als nächstes sieht man das Bild eines Säuglings, das an den Monitoren hängt, seine Werte sind miserabel.

Das vorletzte Bild zeigt lediglich einen Grabstein der Familie Hillbert auf dem auch mein Name steht.

Ich spüre wie mir das ganze Blut aus dem Gesicht weicht und meine Hand heftig zittert, trotzdem muss ich das letzte Bild sehen, wieder ein Screenshot.

Na, hat dir der Ausflug in die Vergangenheit gefallen?

Wenn du nicht willst, dass jeder von deinen grausamen Taten erfährt, treffe mich an deinem Grab!

Die Zeit läuft!

Mist! Mist! Mist! Ich wusste es. Ich hätte nicht solange hier bleiben dürfen! Ich habe es provoziert. Wie konnte ich nur so dumm sein. Die Schatten der Vergangenheit würden einen immer verfolgen.

Und dann geh ich Vollidiot auch noch hierher zurück, ich habe mich geradezu auf dem Silbertablett serviert.

Mit zitternden Fingern streife ich mir meine Jacke wieder über und schlüpfe in meine Schuhe. Ich weiß, dass es purer Wahnsinn ist aber was bleibt mir für eine andere Wahl.

Ich hab mich zu sicher gefühlt, als würde eine gestohlene Identität einen Freifahrtschein gleichkommen.

Schnell haste ich die Treppe nach unten und höre nicht einmal mehr wie die Tür ins Schloss fällt. Die Person, die hinter mir her ist, ist mir um einige Schritte voraus. Sie kennt meine Identität, ich ihre nicht.

Fast schon automatisch schlage ich den Weg zu dem Familiengrab der Hillberts ein, zu oft bin ich diesen Weg schon entlanggegangen.

Mittlerweile ist es bereits so dunkel, dass ich die eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen kann und die Kälte kriecht bereits in meinen Mantel. Lediglich die ein oder anderen Grabkerzen helfen mir meine Orientierung zu behalten.

Über dem Friedhof liegt geradezu eine gespenstische Stille und ich kann niemanden sehen, als ich das Grab erreiche.

Hallo?“, frage ich, aber niemand antwortet. Ich weiß nicht ob ich darüber glücklich sein soll oder nicht.

Nachdenklich lese ich die Namen der Verstorbenen, auch wenn sie sich mir schon vor langer Zeit in mein Gedächtnis eingegraben haben.

Luise Hillbert geb. Scharoldt

Xaver Hillbert und

Joshua Hillbert

Die Namen sind auf keinen Fall ungewöhnlich, der Todestag jedoch schon. Alle drei sind am gleichen Tag verstorben und einer davon bin ich selbst.

Das schrille Klingeln des Smartphones in meiner Hand reißt mich zurück ins Hier und Jetzt. Ich wundere mich nicht mal mehr darüber, das man plötzlich doch damit telefonieren kann sondern hebe lediglich ab.

Joshua! Ich wusste du würdest auftauchen!“,entgegnet mir fast schon freudig eine schräg verzehrte Stimme am anderen Ende.

Wer sind Sie?“, entgegne ich lediglich.

Du erkennst mich nicht? Jetzt bin ich aber enttäuscht. Joshua verrate mir nur, wieso bist du zurückgekommen?“

Ich zucke lediglich mit den Schultern, so genau kann ich das selbst nicht sagen. Eine Anwandlung von Menschlichkeit vielleicht? Heimweh?

Die Sehnsucht meinen Bruder zu sehen?

Auch wenn er unter falschem Namen und längst zersetzt zu meinen Füßen liegt.

Lange Zeit habe ich geglaubt das einzige Kind der Familie Hillbert zu sein bis zu diesem Anruf.

Zufälligerweise ging ich an das Telefon, als eine Frau anrief um uns die freudige Botschaft mitzuteilen, dass sie meinen Bruder gefunden hat. Einen Bruder, von dem ich nicht einmal wusste, dass er überhaupt existierte.

Noch am gleichen Tag fuhren wir zu Irene Sanders, die meinen Bruder Theo bis zu diesem Tag wie eine Mutter war.

Bei Irene erzählte mir meine Mutter schließlich die ganze Geschichte. Ich wusste, dass meine Mutter gerade einmal 16 Jahre alt bei meiner Geburt war, was ich nicht wusste, dass sie an diesem Tag zwei Kinder auf die Welt brachte. Sie und mein Vater wussten bis dahin nicht mal wie sie ein Kind versorgen sollten, da sich die Eltern meiner Mutter von ihr abgewandt hatten und die Eltern meines Vaters bereits gestorben waren. Dass sie Zwillinge bekommen würden hatten sie auch nicht gewusst, weshalb sie beschlossen ein Kind, meinen Bruder Theo, zur Adoption freizugeben und ein Kind, meine Wenigkeit, selbst großzuziehen.

Soweit so gut, aber meine Mutter konnte es sich selbst nie verzeihen ihren anderen Sohn einfach weggegeben zu haben, deshalb machte sie sich auf die Suche nach ihm und fand ihn schließlich. Theo und ich sehen uns so ähnlich, dass uns selbst unsere Eltern kaum unterscheiden konnten. Der einzige Unterschied bestand aus einem Muttermal am rechten Handgelenk, das Theo hatte und ich nicht.

Zu Beginn genügte es meiner Mutter Theo bei Irene zu besuchen und Theo und ich machten uns einen Spaß daraus. Da wir uns so ähnlich sahen viel es unseren Eltern und Irene nicht auf, wenn ich bei Irene blieb und Theo mit zu ihnen kam. Am Anfang war es nur ein Spaß, aber als meine Eltern und Theo eines Tages auf der Heimfahrt von einem LKW erfasst wurden und sofort tot waren, machte ich mir nicht die Mühe Theos wahre Identität vor der Polizei und dem Notarzt aufzudecken.

Jetzt bin ich Theo Sanders.

Das kam mir zu dieser Zeit nicht ungelegen. Theo und ich studierten beide Medizin und machten unseren Facharzt in der Gynäkologie. Theo war ein geradezu mustergültiger Student und Mediziner, ich eher nicht.

Ich tat mir schwer und ging in der Schar an Studenten geradezu unter. Ich wusste, dass ich mich beweisen musste und fasste einen Plan. Ein Komillitone hatte es einmal geschafft erfolgreich einen Menschen zu reanimieren, das zog eine ganze Menge Aufmerksamkeit hinter sich her und er wurde bekannt wie ein bunter Hund, denn es war der erste Patient, den er in seiner Medizinerlaufbahn betreute. Das ging bei mir nicht mehr, denn mein Studium war schon weiter fortgeschritten, aber kein Problem, ein Baby zieht noch viel mehr Aufmerksamkeit auf mich.

2 Jahre lang kam mir niemand dahinter, sicher wunderte sich so mancher Kollege, dass in meinen Schichten so viele Säuglinge reanimiert werden mussten, aber niemand unterstellt einem freundlichen und jungen Assistenzarzt, der doch selbst so betroffen wirkte, wenn es ein Kind nicht schaffte, eine solch grausame Tat. Dabei war es ganz einfach, ich musste nur sorgfältig vorausplanen.

Immer wenn ich auf der Gynäkologie hospitierte spritze ich den Patientinnen, die ihre Kinder wohl zu früh bekommen würden, NaCl anstatt den Surfactant-Factor, ihre Namen trug ich anschließend in ein kleines Buch ein, das ich stets bei mir trug. Wenn die Frauen schließlich entbanden war es ein einfaches das herauszufinden, entweder war ich selbst bei der Geburt dabei oder ich betrachtete im Sationszimmer nur den Belegungsplan der Zimmer.

Wenn das geschehen war schickte ich mich an die nächsten Schichten auf der Neonatologie arbeiten zu dürfen, um zu sehen wie sich meine Sprösslinge entwickelten. Lange musste ich oft nicht warten bis die ersten Kinder Symptome der Atemnot zeigten und wenn eines doch genug Kampfeswille besaß reicht es oft einfach die Atemmaske abzunehmen während man das Kind „untersucht“. War die Reanimation erfolgreich wurde ich als Held gefeiert, wenn nicht spendeten mir meine Kollegen Trost. Sicher wäre es einfacher gewesen die Kinder zu ersticken, dann wäre die Planung mit weniger Aufwand verbunden gewesen, aber so warf das Ganze weniger Fragen auf und ich konnte ganz einfach mit den Säuglingen experimentieren.

Schließlich wurden die Leute misstrauischer und ich wusste, dass ich mit diesem Spielchen aufhören sollte bevor die Wahrheit ans Licht kam.

Tatsächlich überlegte ich am Wochenende des tödlichen Autounfalls ob ich nicht das Krankenhaus wechseln sollte. Aber mit welcher Begründung?

Deswegen ergriff ich die Chance, als sie sich mir bot und blieb einfach Theo Sanders und lies Joshua Hillbert sterben. Dadurch bekam ich Zeit und konnte mein Studium abschließen, viel mehr sogar. Ich wurde einer der besten Gynäkologen, meine Experimente stellte ich mit Joshua Hillberts Tod ein und immer wenn die Leute Fragen stellten wechselte ich das Krankenhaus.

Wer sind Sie?“, frage ich erneut.

Eigentlich hatte ich dir mehr Intelligenz zugetraut, Joshua.“, verwirrt blicke ich mich um,denn die Stimme hat nun keine Verzerrung mehr und kommt auch nicht mehr aus dem Smartphone.

Woher…?“, weiter komme ich nicht, denn jetzt tritt eine kleine rundliche Frau aus dem Schatten der Bäume.

Schwester Gabi!“, entsetzt blicke ich die freundliche Krankenschwester an, deren Augen mich nun wütend anfunkeln.

Jetzt weiß ich auch weshalb mir das Smartphone so bekannt vorgekommen ist, es ist Gabis Handy und das liegt natürlich immer mal wieder im Stationszimmer rum.

Aber wie?“

Wie? Das ist einfach, mein Lieber.“, so hat sie mich oft genannt, aber heute klingen die Worte bedrohlich und hart.

Erinnerst du dich an das kleine Mädchen auf den Fotos?“, ich nicke, denn diese Fotos werde ich niemals vergessen.

Das war meine Tochter Kim und du hast sie umgebracht! Seit Jahren sind mein Mann und ich dir auf der Spur, damit wir endlich Rache an dir nehmen können!“, sie tritt ganz nah an mich heran und bohrt ihren Zeigefinger schmerzhaft in meine Brust. Jetzt sehe ich das, was sie wirklich ist, eine gebrochene Mutter.

Kim starb ganz plötzlich ein paar Tage nach der Geburt an einem Atemnotsyndrom, das kann bei Frühchen schon mal passieren aber mein Mann hat recherchiert und festgestellt, dass das in diesem Krankenhaus auffällig oft passiert ist. Also haben wir unsere Fotos durchforstet und zufälligerweise hat mein Mann die Beweise für deine grausame Tat aufgenommen, was ihm zu dieser Zeit nicht bewusst war. Als wir die Sache schließlich aufdecken wollten wurdest du plötzlich als tot erklärt. Wir dachten, dass du deine gerechte Strafe wohl bekommen hast und wir endlich auch unseren Frieden finden können. Du hättest nie in diesem Krankenhaus anfangen sollen!“, bei dem letzten Satz spuckt sie mir verachtend ins Gesicht.

Als ich dich das erste Mal gesehen habe war mir sofort klar, dass du es bist. Ich habe in die Augen des Mörders meiner Tochter geblickt und ich hätte sie jederzeit erkannt. Ich fragte mich wie das denn funktionieren kann, also habe ich mich informiert und von der tragischen Geschichte deiner Familie erfahren.“, sie schnauft heftig.

Aber wie? Das Handy?“

Das Handy, das habe ich platziert.“, ich fahre herum und sehe den freundlichen Doc vor mir.

Deine Arroganz hat es uns leicht gemacht. Wir wussten, dass dir die Namen der Stationsärzte egal sind und deshalb würdest du auch nie meinen Mann erkennen.“

Gott! Wie kann man nur so dumm sein. Da inszeniere ich mir über Jahre das perfekte Leben und lasse mir so leicht in die Karten schauen.

Natürlich konnten wir nicht einen toten Mann wieder als lebendig erklären lassen, aber dadurch, dass du überhaupt hier aufgetaucht bist hast du gestanden.“, feierlich klatscht Schwester Gabi in ihre Hände.

Fred, zeigen wir ihm wie es sich anfühlt atemlos zu sein!“

Bevor ich überhaupt eine Chance habe zu reagieren wird mir etwas über den Kopf gezogen und Fred hinter mir tritt mir in die Kniekehlen, sodass ich auf den Boden falle. Schmerz schießt mir von den Knien hinauf bis zur Hüfte, aber ich kann noch nicht mal schreien, denn jetzt zurren sie die Tüte über meinen Kopf enger. Hektisch atme ich ein und aus, aber schon nach kurzer Zeit bekomme ich keine Luft mehr. Meine Atemmuskeln verkrampfen sich und mein letzter Gedanke vor der Ohnmacht ist nur ein einziger: Wie konnte ich nur so dumm sein.

Als ich das nächste Mal aufwache ist alles um mich herum stockdunkel. Ich versuche mich zu bewegen. Komisch, meine Hände und meine Beine sind frei? Hab ich diesen ganzen Wahnsinn nur geträumt. Tastend lasse ich meine Hände über den Untergrund gleiten. Holz? Ich taste weiter, schneller nun, weil sich eine böse Vorahnung in mir breit macht. Tatsächlich ich bin in einer Holzkiste. Ich schlage mit der Hand dagegen und beginne zu schreien, aber alles um mich herum bleibt still und so dunkel. Tränen der Wut und Verzweiflung laufen über meine Wangen und ich schreie und trete weiter bis ich mit der Hand durch Holz breche. Ich ignoriere den Schmerz und sehe mich schon fast als gerettet als ich die Hand zurückziehe, aber anstatt Licht fällt mir Erde entgegen.

Sie haben mich nicht nur in eine Kiste gesteckt. Nein, sie haben mich lebendig begraben.

Ich bin verloren. Es gibt keine Chance, dass ich mich noch befreien kann. Zudem kann ich mir nicht vorstellen, dass das was Draußen auf mich wartet besser als der Tod ist. Also hole ich das kleine Fläschchen aus meiner Hosentasche, dass ich immer bei mir trage.

Es enthält Cyanid, Blausäure, ich leere die Flasche und werde kurz darauf schon von heftigen Krämpfen geschüttelt.

Jetzt werde ich genauso elendig ersticken wie die Babys. Ich schließe die Augen und heiße den Tod wie einen alten Freund willkommen.

8 thoughts on “Atemlos

  1. Hallo Christian,

    vielen Dank für diese gruselige Geschichte!
    Am Anfang dachte ich noch, man erlebt einen Mord direkt mit, aber da habe ich mich wohl gut täuschen lassen! 🙂
    Deine Geschichte hat mir an sich gut gefallen und auch das Ende kam für mich ziemlich unerwartet.
    Ich glaube, die Geschichte würde sich viel flüssiger lesen lassen, wenn die medizinischen Beschreibungen kürzer wäre oder ohne Fachbegriffe auskommen würden. Zwischendurch habe ich mich oft gefragt, ob die Beschreibungen noch relevant sind. Und in den meisten Fällen waren sie das nicht, daher würde ich zum radikalen Kürzen raten.

    Viele Grüße,
    Josefine

    1. Liebe Josefine,
      vielen Dank für deine tolle Bewertung und auch für die konstruktive Kritik. Ich fand den Fachaspekt schon wichtig, um meine Figur als Arzt überzeugend zu machen. Aber es ist gut, dass du diese Kritik ausgesprochen hast, die durchaus berechtigt ist. Ich werde sie in Zukunft auf alle Fälle berücksichtigen.
      Liebe Grüße
      Christina

  2. Hallo Christina,
    Ich persönlich finde die Geschichte sehr gelungen und die Fachbegriffe stören mich nicht wirklich,liegt wohl aber an meinen Umfeld in dem ich groß geworden bin. 😉
    Ansonsten kann ich nur empfehlen schreib weiter so toll.
    Lg Christin

  3. Liebe Christina,

    huh, da hast Du aber wirklich harten Tobak verfasst. Ein Arzt, der über Kinderleichen geht und dann noch der wirklich überraschende Schluss – Du hast gleich mehrere Nerven bei mir getroffen – im positiven Sinn 🙂 Deine Geschichte hat mir trotz der nicht ganz einfachen Thematik gut gefallen!
    Nicht ganz verstanden habe ich den Anfangsszene – was genau geht in ihm vor? Er steckt mit einem teuflischen Grinsen im Unterleib einer Frau – beim ersten Lesen dachte ich natürlich an einen sexuell motivierten Täter, was er aber ja aber gar nicht ist – oder doch?
    Der Zusammenhang zum Rest der Geschichte dieses – sehr starken Beginns – nicht ganz klar. Vielleicht könntest Du das kurz erklären 🙂

    Ich wünsche Dir viel Erfolg für das Voting!

    Liebe Grüße
    Anita (“Räubertochter”)

    1. Hallo Anita,
      vielen Dank für diese tolle Bewertung!
      Ich wollte mit der Anfangsszene so ein bisschen auf die Brutalität eines Kaiserschnittes hinweisen und wie schnell man so eine Szene missverstehen kann, wenn man die entsprechenden Knöpfe drückt. Das teuflische Lächeln deutet schon hier den Ehrgeiz des Arztes an, der unbedingt die komplizierte Geburt glatt und schnell über die Bühne bringen will und zeigt auch schon, dass er nicht ganz koscher ist.
      Danke für die tolle Frage!
      Liebe Grüße
      Christina

  4. Moin Christina,

    eine tolle Geschichte die du da geschrieben hast.

    Für mich ne Reise in die Vergangenheit! Mein Sohn ist ein Frühchen, zehn Wochen zu früh geboren, zugedeckt mit einem Waschlappen lag er im Inkubator!
    Und auch deine Beschreibung bzgl der Lungreife konnte ich gut nachvollziehen! Alles erlebt…alles war wieder präsent!

    Aber nun zu deiner Geschichte…ein wirklich guter Plot, erzählt in einem lockeren, flüssigen Schreibstil.
    Hat Spaß gemacht zu lesen…

    Für diese Reise in die Vergangenheit lass ich dir gerne ein Lika da und sage DANKE! Danke das du deine Geschichte mit uns geteilt hast!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Hallo Frank,

      vielen lieben Dank, dass du gerade DEINE Geschichte mit mir geteilt hast. Ich freue mich, dass ich dich auf diese Reise mitnehmen konnte. Die Szenen, die man auf so einer Frühchenstation sieht wird man glaube ich auch nie vergessen. Ich hoffe, dass es deinem Sohn heute gut geht.😊

      Und Danke für das schöne Kompliment zu meiner Geschichte!

      Liebe Grüße Christina

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