Kameras überall. Kameras. Augen. Versteckte Augen. Sie beobachten dich. Jederzeit. Keine Chance zu fliehen.
„Guten Morgen, Frau Müller. Wie schön dass ich Sie erreiche. Haben Sie einen Moment Zeit für mich? Nicht? Schade! Wann kann ich Sie erreichen? Ich hätte ein tolles Angebot für Sie. Es tut uns sehr leid dass Sie gekündigt haben, aber ich kann Ihnen ein unschlagbares Angebot machen, dass aber leider leider nur heute gilt. Sie haben gerade keine Zeit? Sind Sie sicher? Das Angebot ist wirklich toll und es gilt nur heute. Morgen kostet alles wieder doppelt so viel. Nicht? Wirklich keine Zeit? Ich würde vorschlagen dass ….!“. Tut, tut, tut. Die Gesprächsteilnehmerin hatte das Gespräch verlassen. Schade. Aber das kannte ich ja. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Kunden meine zugegeben zuweilen aufdringliche Art nicht mochten und das Telefonat im Laufe des Gesprächs beendeten. Gespräch konnte man die meisten Telefonate auch eigentlich nicht nennen. Vielmehr bestanden sie häufig aus einem Monolog meinerseits und einer anschließend energischen Zurückweisung ihrerseits. Es war also ein normaler Tag.
Mittags beschloss ich, mir wie immer im Sandwichladen nebenan ein Sandwich mit Salat zu holen. Während ich in der Reihe stand und wartete, dachte ich bereits über das Abendessen nach. Ob ich gleich ein weiteres Sandwich für den Abend kaufen sollte? Als ich an der Reihe war, bestellte ich und bezahlte. Dann stellte ich mich an den Ausgabetresen. Die Person vor mir nahm gerade ihr Sandwich an sich und eilte in schnellem Schritt in Richtung Türe. Wow, er oder sie hatte es wirklich sehr eilig. Ich schaute ihm oder ihr hinterher und wandte mich dann wieder dem Tresen zu. Da bemerkte ich ein schwarzes Smartphone das direkt vor mir auf dem dunklen Holz der Theke lag. Es musste von der Person vor mir stammen. Ich packte das Handy und lief los. Vielleicht würde ich die Person noch erwischen. Als ich aus der Tür kam, blickte ich nach links und rechts. Von der Person war nichts zu sehen. Ich lief zurück in den Laden und wandte mich der Kassiererin zu: „Die Person vor mir hat ihr Handy hier liegen gelassen“
„Ja und?“, fragte sie genervt.
„Na ja, ich dachte sie würden es vielleicht verwahren bis er oder sie zurückkommt. Sicherlich wird derjenige oder diejenige es gleich bemerken und dann zurückkommen.“
„Ist nicht mein Problem. Wenns hier geklaut wird, bin ich verantwortlich. Da hab ich kein’ Bock drauf.“
„Okay, hmm, blöd. Dann warte ich einfach ein bisschen hier.“
„Ja klar. Keine Ahnung. Hier das Sandwich.“
„Danke“
Ich stellte mich ein Stück weiter links an den Tresen und wartete. Bestimmt würde die Person in einigen Minuten panisch in den Laden geeilt kommen und nach ihrem Handy fragen. Doch etwa 30 Minuten später stand ich immer noch allein mit dem fremden Handy am Tresen und wartete. Mein Sandwich war kalt. Meine Pause vorbei. Ich beschloss, das Handy mitzunehmen.
„Hey, Entschuldigung. Könnten Sie mir Zettel und Stift geben? Ich würde gerne meine Telefonnummer hinterlassen für die Person, deren Handy ich gefunden habe.“
Nachdem ich den Zettel bei der äußerst freundlichen und aufgeschlossenen Kassiererin hinterlassen hatte, verließ ich den Sandwichladen und ein weiterer normaler Nachmittag begann.
Als ich auf dem Heimweg in der Ubahn saß, hatte ich das gefundene Mobiltelefon fast wieder vergessen. Erst als ich mein eigenes Handy aus der Tasche zog, fiel es mir wieder ein. Es hatte sich niemand gemeldet. Ich kramte das gefundene Telefon hervor und drückte den Entsperren-Knopf. Der Bildschirm erhellte sich und ein Foto erschien.
Atme! Atme! Bitte, atme! Ich kann nicht ohne dich. Verlass mich nicht. Atme! Atme doch! Bitte, atme!
Mein Atem setze für einige Sekunden aus. Dieses Bild. Diese Person auf dem Bild. Das war ich. Es war ein Bild von mir. Ganz sicher. Panik erfasste mich und ich sprang auf. Ich musste hier sofort raus.
Minuten später hatte ich die Oberfläche erreicht und konnte wieder Luft holen. Ich hatte mich wie ein Ertrinkender gefühlt. Doch jetzt musste ich erstmal Ruhe bewahren und nachdenken. Wie konnte das möglich sein? Wie kam mein Foto auf dieses Handy?
Zu Hause angekommen sah ich mir das Foto näher an. Ich kannte es. Es war ziemlich sicher ein Foto von meinem Facebook-Account. Ich öffnete meinen Laptop und rief die Webseite von Facebook auf. In meinen Fotos scrollte ich bis zu besagtem Foto. Das Bild hatte ich im letzten Sommer aufgenommen und am Tag der Aufnahme noch hochgeladen. Es war an einem unbeschwerten Tag im Biergarten entstanden. Der erste unbeschwerte Tag nach dieser Sache. Konnte das alles mit dieser Sache zusammenhängen? Aber das war nicht möglich. Wieso sollte ER mir ein Handy mit einem Foto von mir hinterlassen? Aus welchem Grund? Ich hatte ihm schließlich das Leben gerettet. Und ihn danach nie wieder gesehen und auch nicht besucht. War er vielleicht enttäuscht darüber, dass ich mich nie wieder nach ihm erkundigt hatte? Aber letztendlich kannten wir uns nicht. Es war reiner Zufall gewesen dass ich an diesem Tag an seiner Tür geklingelt hatte. Na ja, es war kein Zufall gewesen dass ich an SEINER Tür geklingelt hatte, aber Zufall, dass ich an diesem bestimmten Tag dort aufgetaucht war. Vielleicht auch eher Schicksal.
Ich versuchte mich abzulenken und setzte mich vor den Fernseher. Da ich doch kein zweites Sandwich mitgenommen hatte, wühlte ich nach etwa einer Stunde in meinem halb leeren Kühlschrank und fand ein Stück Käse. Als ich gerade eine Scheibe Brot in den Toaster stecken wollte, gab das gefundene Handy einen kurzen Ton von sich. Es war eine Nachricht eingegangen. Rasch drückte ich auf den Entsperren-Knopf und der Display mit der Nachricht leuchtete auf.
DU WARST DAS! DU SOLLST NICHT MEHR ATMEN! HÖR JETZT AUF ZU ATMEN!
Verwirrt blickte ich auf den Bildschirm. War diese Nachricht für mich? Oder für die Person, der das Handy gehörte? Erneut gab das Mobiltelefon einen Nachrichtenton von sich.
WENN DU DICH JETZT FRAGST OB DIESE NACHRICHTEN FÜR DICH SIND: DU WEIßT WAS DU GETAN HAST! 23.7.2019!
Der 23. Juli? Ich verstand nicht ganz. Verkrampft suchte ich in meinen Erinnerungen nach einer Verbindung. Der Tag sagte mir nichts. Ich holte mein eigenes Handy hervor und scrollte im Kalender zum Juli 2019 zurück. Der Tag war ein Dienstag gewesen. Ein normaler Arbeitstag. Ich hatte keinen Urlaub eingetragen und war mir sicher, dass ich an diesem Tag auch gearbeitet hatte. Im Sommer war ich nicht krank gewesen und meine Urlaube hatte ich im Mai und September gebucht. Die einzige Erklärung war, dass ich verwechselt wurde. Mit irgendwem wurde ich hier verwechselt. Verrückt! Doch dieses schlechte Gefühl, dass sich im Laufe der letzten Minuten ausgebreitet hatte, wollte nicht verschwinden. Irgendwie wollte ein Teil von mir wohl nicht glauben, dass es eine Verwechslung war.
Ich erwachte von einem Tropfgeräusch. Das Tropfen wurde immer schneller und schneller. Schließlich kamen hektische Atemgeräusche hinzu. Woher kam das? Im ersten Moment hatte ich keine Orientierung. Es war dunkel im Zimmer. Ich sah nur ein Blinken auf dem Fensterbrett und war nach einigen Sekunden sicher, dass die Geräusche aus dieser Richtung kamen. Panisch suchte ich den Lichtschalter. Mein Herz schlug schneller und schneller. War jemand im Zimmer? Was geschah hier? Ich fand den Lichtschalter und das Licht durchflutete das Zimmer. Ich war allein. Jedenfalls hier in diesem Zimmer. Mein Herz hörte nicht auf zu klopfen. Ich spürte den Herzschlag im ganzen Körper. Mein Puls raste. Das zum Tropfgeräusch hinzugekommene Atemgeräusch wurde immer lauter und hektischer. Es ging in ein Stöhnen und dann in ein grausiges Schreien über. Plötzlich verstummte alles. Dann begann alles von vorn. Ich versuchte, wieder Herr der Lage zu werden.
„Alles okay. Alles gut. Es ist nichts. Langsam aufstehen und einfach nachsehen.“
Langsam stieg ich aus dem Bett und trat zum Fensterbrett. Dort lag das Handy. Der Wecker hatte sich eingeschaltet und soeben begann der Weckton von vorne. Tropf. Tropf. Tropf. Atme. Atme. Atme.
Am nächsten Morgen meldete ich mich krank. Nach dem Vorfall in der Nacht hatte ich vorsorglich die ganze Wohnung durchsucht und überprüft, ob noch abgesperrt war. Ich hatte nichts ungewöhnliches entdecken können, konnte aber nicht wieder richtig einschlafen. Der Wecker ging noch dreimal los. Jedes Mal variierte der Ton leicht. Doch jedes Mal war Wasser zu hören und Atem. Immer wieder Atem, der in Keuchen und Stöhnen überging. Fast hörte es sich an als würde jemand ertrinken.
Ich musste diesen Tag dringend nutzen um herauszufinden, was hier passierte. Doch ich wusste überhaupt nicht, wie. Ich hatte kein Ahnung, worum es hier ging und ob tatsächlich ich gemeint war. Meine einzigen Ansatzpunkte waren das Datum, das Foto auf dem Handy und der Weckton. Das musste ein Hinweis sein. Doch ein Hinweis worauf?
Ich setzte mich an den Laptop und scrollte erneut durch mein Facebook-Profil, in der Hoffnung, mich besser an den letzten Sommer erinnern zu können. Es gab einige Bilder im Biergarten, am See und auch Bilder von mir auf dem Fahrrad. Ich war viel mit Freunden unterwegs gewesen, hatte viel gearbeitet und abends gerne ein Bier am See getrunken. An dem angegebenen Datum hatte ich kein Foto gepostet und auch einige Tage danach nicht. Gegen 10 Uhr morgens ging wieder der Wecker los. Diesmal war es ein Gurgeln.
Ich beschloss, den Kopf frei zu machen und eine Runde joggen zu gehen. Während ich lief, dachte ich weiter angestrengt nach. Ich konnte meine Gedanken nicht von den seltsamen Vorfällen abwenden. Und als ich zurück in Richtung meines Wohnhauses ging, hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Schnell schloss ich die Wohnungstür auf und sperrte hinter mir mehrmals zu. Ich atmete zischend aus um mich zu beruhigen. In meiner Wohnung tropfte der Wasserhahn. Er tropfte. Tropf. Tropf. Und da fiel es mir ein.
Ich war an jenem Tag zu ihm gefahren, denn er war ein langjähriger Kunde. Ich hatte häufig mit ihm telefoniert und auch wenn das in meinem Job äußerst selten vorkam, so etwas wie eine Kundenbindung aufgebaut. Als ich von seinem Schicksal erfahren hatte, wollte ich unbedingt mein Beileid bekunden. Er hatte einen wichtigen Menschen verloren und ich fühlte mit ihm. Nachdem ich den Artikel in der Zeitung gelesen hatte, hatte ich beschlossen, ihm mein Beileid zu bekunden. Ich konnte selbst nicht erklären, warum ich auf diese -zugegeben etwas absurde – Idee kam, aber irgendwie fühlte es sich richtig an. Es war ein regnerischer Tag gewesen und die Wolken hingen am Himmel wie riesengroße Berge, die auf das Tal drückten. Ich klingelte. Es brannte Licht im Haus. Ein Radio lief. Oder auch ein Fernseher. Doch niemand kam um zu öffnen. Ich klingelte erneut. Nach ein paar Minuten klopfte ich an die Tür.
„Herr Bräuner? Sind Sie da?“
Nichts.
Fast wollte ich gehen, doch plötzlich hörte ich ein Stöhnen.
„Herr Bräuner? Hallo? Haaalloooo!!“
Erneut ein Stöhnen. Jemand war zu Hause. Und er war womöglich in Not. Ich rannte durch den Vorgarten und um das Haus herum. Die Terrassentüre war nur angelehnt.
„Herr Bräuner? Ich komme jetzt rein! Sind Sie in Not?“
Keine Antwort. Ich betrat vorsichtig das Haus. Niemand war zu sehen. Durch das Wohnzimmer konnte ich in die offene Wohnküche sehen. Niemand war dort. Dann musste er wohl oben sein. Erneutes Stöhnen. Ich rannte die Treppe nach oben in die Richtung, aus der das Stöhnen kam.
Tropf. Tropf. Tropf.
Hatte das Ganze wirklich etwas mit diesem Vorfall zu tun? Ich verstand das nicht. Wie konnte das sein. In meinem Kalender scrollte ich zurück in den letzten Sommer und versuchte, meine Erinnerung an dieses Ereignis mit einem Zeitraum in Einklang zu bringen. Konnte es an diesem Datum gewesen sein? Nein, das war es nicht. Es musste später gewesen sein. Etwa zwei oder drei Wochen später. Doch was hatte es dann mit diesem Datum auf sich? Das Gurgeln, das Stöhnen, der tropfende Wasserhahn. Das alles waren Hinweise auf diesen Tag.
Ich hatte Herrn Bräuner gefunden. Das Badezimmer war voller Blut. Das Wasser der Badewanne hatte einen rosa Farbton angenommen und war über den Rand geschwappt. So hatte es sich auf dem Boden ausgebreitet und der Schein des Lichts brachte die rosa Lake zum Schimmern. Wäre es nicht so tragisch, wäre es fast ein schöner Anblick. Herr Bräuner lag in der Wanne. Völlig bekleidet, wie es aussah. Er gab stöhnende Geräusche von sich, war jedoch scheinbar nicht bei vollem Bewusstsein. Sekundenlang befand ich mich in Schockstarre und konnte mich nicht bewegen. Mein Kopf versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Es dauerte, bis die Signale auch den Rest meines Körpers erreichten. Ich zerrte mein Handy aus der Tasche, während ich auf Herrn Bräuner zustürzte. Was muss ich zuerst tun?, dachte ich. Erst raus aus dem Wasser mit ihm. Ich zerrte an seinen Schultern, klemmte meine Arme unter seine Achseln und zog ihn mit großer Anstrengung aus der Wanne. Halb fiel er auf den Boden und ich konnte seinen Kopf im letzten Moment stützen. Blut. Pulsadern. Alles offen. Er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten.
„Ich brauche etwas zum Verbinden.“ Handtücher. Schnell rannte ich auf einen Stapel Handtücher zu, schnappte mir zwei davon und umwickelte seine Arme damit. Moment. Ich hatte das mal gelernt. Druckverband. Ja, ich muss noch etwas dazwischen klemmen um die Blutung zu stoppen. Ein T-Shirt war wohl besser geeignet. Ich packte scheinbar alte Wäsche, nahm eine Shampoo-Flasche vom Badewannenrand und umwickelte die Wunde. Erst T-Shirt, dann Shampoo-Flasche, dann wieder T-Shirt. Der zweite Arm war dran. Als ich alles verbunden hatte, wählte ich den Notruf.
„Hallo? Ja, ich bin hier im Haus von Herrn Bräuner! Guldenstraße 23. Bitte kommen Sie schnell. Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Er verblutet.“
Nach geschätzten 20 Minuten war der Notarzt gekommen und hatte Herrn Bräuner mitgenommen. Er war nicht wieder zu Bewusstsein gekommen, aber er würde es wahrscheinlich schaffen. Da ich nicht verwandt war, wollten sie mir bei meinem Anruf ein paar Stunden später im Krankenhaus keine Auskunft über den Zustand geben. Die Sache hatte mich noch einige Wochen verfolgt und ich hatte immer wieder darüber nachgedacht, ob er es wohl geschafft hatte, aber irgendwann hatte ich es vergessen. Oder wohl eher verdrängt. Und nicht mehr darüber nachgedacht. Bis jetzt. Bis gestern.
Ich fühlte mich beobachtet. Vorsichtshalber klebte ich die Kamera des gefundenen Mobiltelefons ab. Man konnte nie wissen. Vielleicht beobachtete mich der oder die Unbekannte durch diese Kamera, wenn ich auf das Handy schaute. Auch die Kamera meines Laptops klebte ich ab, bevor ich den Namen Klaus Bräuner in das Suchfeld der Suchmaschine eingab. Die Ergebnisse ergaben jedoch nichts nützliches. Es gab einige Männer mit diesem Namen, jedoch konnte ich den von mir gesuchten Klaus Bräuner unter den Bildergebnissen nicht finden. Ich klappte den Laptop zusammen und erhob mich. Gerade als ich im Begriff war, ins Badezimmer zu gehen, gab das Handy einen Ton von sich. Ich hatte eine neue Nachricht erhalten.
MORGEN. ZEHN UHR. ICH SEHE DICH.
Reflexartig blickte ich mich um. Die Vorhänge waren noch geöffnet. Ich schloss sie rasch. Morgen, 10 Uhr? Was war dann? Meine Füße waren eiskalt. Ein sicheres Zeichen für meine zunehmende Panik. Was, wenn der oder die Unbekannte mich tatsächlich sehen konnte. Und wusste, ob und wann ich zu Hause war. Sollte ich besser zu Hause bleiben morgen oder gleich früh aus dem Haus gehen? Verschwinden und hoffen dass der oder die Täter*in mich nicht sah. Vielleicht beobachtete er oder sie mich nur tagsüber. Irgendwann musste schließlich jeder mal schlafen. Einen Versuch war es wert.
Ich beschloss, ganz früh aufzustehen, meine Sachen zu packen und wegzufahren. Wohin, das wusste ich noch nicht. Erstmal zum Bahnhof. Nein, zum Flughafen. Das war sicherer. Da konnte man vor dem Abflug schlecht erkennen, wohin derjenige flog. Erst am Gate war das ersichtlich. Und da würde ich in der letzten Minute auftauchen. Mein Ticket würde ich an einem Last-Minute-Schalter kaufen. Wenn ich allein am Schalter war. Ja, so würde ich es machen. Und dann würde ich erstmal abtauchen. Irgendwann würde der oder die Unbekannte sicherlich aufgeben.
In der Nacht klingelten wieder die Wecker. Doch diesmal hatte ich das Handy in der Küche gelassen und in eine verschließbare Dose gepackt. So wachte ich nur kurz von einem leisen Vibrieren auf. Meinen eigenen Wecker hatte ich mir für drei Uhr gestellt. Da ich ohnehin nicht richtig schlafen konnte und mich ständig versichern musste, allein in der Wohnung zu sein, stand ich bereits fünfzehn Minuten vor dem Klingeln des Weckers auf, zog mich an, packte meine Sachen und verließ die Wohnung. Vorsichtshalber hatte ich kein Licht angemacht und vorher aus dem Fenster gesehen. Es war niemand auf der Straße. Ich atmete auf, als sich dies auch bei dem Blick durch die Haustüre bestätigte. Die Straße war leer. Alles war dunkel. Ich war allein. Schnell eilte ich nach rechts in Richtung Ubahnhof. Auf dem Weg durchquerte ich einen kleinen Park, der noch in Dunkelheit lag. Ich hatte den Weg durch die Bäume schon zur Hälfte geschafft, da vibrierte es in meiner Jackentasche.
DU WILLST VERSCHWINDEN? VOR EINEM GEIST KANN MAN NICHT FLIEHEN! WEIßT DU DAS NICHT?
Beim Blick auf das Handy erstarrte ich, meine Hände begannen zu zittern, mir wurde heiß und ich musste mich gegen den Drang wehren, haltlos loszulaufen. Okay. Atmen.
Er hatte nicht eine Sekunde wegsehen wollen und doch hatte er weggesehen. Er hatte nicht eine Sekunde weggehen wollen und doch war er weggegangen. Und nun durfte er nicht mehr weggehen. Man ließ ihn nicht. Dabei wollte er nichts mehr als verschwinden. Doch er hatte ihm diese Möglichkeit genommen. Die Möglichkeit zu verschwinden. Für immer. Und jetzt, jetzt war der Moment gekommen. Er sah ihn dort entlanggehen. Er beobachtete ihn. Und nun war der Moment gekommen. Der Moment war gekommen. Er würde sie beide endlich befreien.
Ich spürte den Atem in meinem Nacken und wusste dass der Moment gekommen war. Als ich mich umdrehte, erkannte ich ihn sofort. Klaus Bräuner stand vor mir. Er war dunkel gekleidet und grinste von einem Ohr zum anderen Ohr.
„Hallooooo!“, sagte er breit. „Mein Lebensretter. Endlich sehen wir uns wieder! Lass dich drücken.“ Er fiel mir um den Hals.
Ich war geschockt. Und verstand nichts. Der Mann, dem ich vor einiger Zeit das Leben gerettet hatte, stand in dunkler Montur morgens um 4 Uhr in einem dunklen Park vor mir und fiel mir grinsend um den Hals. Ich wollte loslachen aber mein Gefühl sagte mir, dass hier nichts Gutes passierte.
„Du hast mein Handy gefunden, nehme ich an?“, fragte er gut gelaunt.
„Ja stimmt. Das hab ich.“
„Suuuper. Wie schön. Dann weißt du es ja jetzt.“
„Es tut mir Leid, aber ich verstehe überhaupt nichts.“
„Nein? Du verstehst nichts? Na dann hör zu und ich erkläre es dir.“
Er zog ein langes Küchenmesser aus der Tasche und deutete damit auf mich.
„Lass uns gemütlich auf die Bank dort setzen. Ich hätte dir gern einen Kaffee mitgebracht, aber du warst früher dran als ich erwartet hatte. Da hatte ich einfach keine Zeit mehr.“
Ich gehorchte und setzte mich mit ihm auf die Bank. Die Situation erschien mir immer skurriler. Was zur Hölle war hier los?
„Du hast mich gefunden und gerettet. Und du dachtest bestimmt, ich wäre dir dafür sehr dankbar. Aber hast du dir mal überlegt, dass das nicht der Realität entspricht?
Ich setzte zu sprechen an aber er unterbrach mich harsch.
„HALT DIE FRESSE!“
Ich zuckte zusammen. So eine heftige Reaktion hatte ich nicht erwartet. Er grinste unverhohlen weiter. Dadurch erschien die Situation noch bedrohlicher.
„Gut. Wenn du dich jetzt wieder konzentrieren kannst, erzähle ich weiter.“ Er kicherte.
„Du dachtest, du rettest mich. Oh, du holder Held. Ein Ritter auf dem weißen Pferd kommt und rettet mich. Aber NEIN. Du hast mich in die verdammte HÖLLE geschickt.“
Einige Worte schrie er regelrecht und fuchtelte dabei mit dem Messer in meine Richtung. Die Bank war nicht lang und ich wurde immer panischer.
„Erinnerst du dich an den 23. Juli? Du hast mich angerufen.“
Ich erinnerte mich nicht. Natürlich, ich hatte im letzten Sommer häufiger mit ihm telefoniert. Er hatte gekündigt und die Angebote immer wieder abgelehnt. Ich selbst hatte ihm subtil dazu geraten, da ich wusste, dass ein noch besseres Angebot kommen würde. So hatten wir uns praktisch am Telefon „angefreundet“.
„DUUUUU warst das. Dieses BESCHISSENE Telefon.“ Wieder schrie er die Worte förmlich. Doch plötzlich erstarrte er und wurde ruhig.
„An diesem 23. Juli war ich zu Hause. Ich habe im Garten mit meiner kleinen Tochter gespielt als du angerufen hast. Das Telefon hat geklingelt und ich bin hineingelaufen um abzunehmen. Ich wollte sofort wieder hinaus zu meiner Tochter gehen aber an diesem Tag hast du irgendeine Nummer von mir gebraucht. Diese blöde Nummer hatte ich nicht im Kopf. Ich weiß nichtmal mehr, was für eine Nummer das war.“
Ich wusste es noch. Und es fiel mir alles wieder ein. Dieser Tag.
„Wir haben telefoniert und ich habe die Nummer gesucht. Es hat gedauert. Zwischendurch bin ich kurz ans Fenster gegangen um nach meiner Tochter zu sehen. Sie spielte im Garten. Ich suchte weiter nach der Nummer und fand sie. Wir haben alles geklärt und ich habe an diesem Tag den Vertrag neu abgeschlossen. Du warst zufrieden. Ich war zufrieden.“
Ja, er hatte recht. Wir hatten einen guten Deal für ihn gemacht und uns gegenseitig beglückwünscht. Ich hatte eine Rückholprovision bekommen und er zahlte nun weniger für seinen Vertrag.
„Als ich aufgelegt hatte, ging ich in den Garten. Meine kleine Tochter war weg. Ich wurde hektisch, habe nach ihr gerufen und gesehen dass das Tor zur Wiese hinter dem Garten geöffnet war.“
Seine Stimme wurde leise. Er räusperte sich und plötzlich verstand ich. Er weinte. Es war dieser Tag gewesen. Ich hatte es in der Zeitung gelesen. Die Überschrift war überall gewesen. Dreijährige ertrinkt in Teich. Sie war aus dem Garten auf die Wiese gelaufen und hatte wohl irgendetwas im Teich gesehen. Sie wollte hinlaufen. Und plötzlich war der Boden unter ihren Füßen verschwunden gewesen. Als ihr Vater zum Teich kam, war sie bereits blau. Die Ärzte würden später sagen, dass es wohl Minuten waren, die er zu spät kam. Nur ein paar Minuten. Sie konnten ihr Leben nicht mehr retten. Das kleine Mädchen war Hirntod. Und ihre Eltern hatten die Entscheidung fällen müssen, die Geräte abzuschalten. In den Medien war eine Debatte angestoßen worden über Organspende und über Sterbehilfe. Fanatiker hatten vor dem Haus kampiert und Schilder gebaut, die besagten, die Eltern hätten das Kind getötet. Der Vater geriet ins Kreuzfeuer der Ermittlungen. Er hatte nicht aufgepasst. Er hatte nicht nach ihr geschaut. Er hatte telefoniert. Er hatte mit mir telefoniert.
„Sie gaben mir alle die Schuld. Und ich bin schuld. Aber ich bin nicht allein schuld. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Hohn war? Du, ausgerechnet du bist in meinem Badezimmer aufgetaucht und hast mich vor dem Tod bewahrt. Was für eine spöttische Fügung des Schicksals. Als würde mir Gott den Mittelfinger zeigen. Wenn es überhaupt einen Gott gibt. Ich wollte sterben und du hast es mir verwehrt. Dabei warst du doch derjenige, dem ich das alles zu verdanken habe.“
Ich schluckte. Meine Gefühle spielten verrückt. Ich wusste nicht was ich denken sollte. Es war meine Ablenkung gewesen, die ihn davon abgehalten hatte, sich um seine Tochter zu kümmern. Das hatte ich selbstverständlich nicht gewusst als ich in der Zeitung gelesen hatte, dass sein Kind ertrunken war. Ich war von Mitgefühl überrollt worden und hatte mein Beileid ausdrücken wollen. Was musste das für ein Gefühl gewesen sein als ihm klar wurde, dass ich ihm das Leben gerettet hatte.
„Ich wollte so sehr sterben. Ich wollte dass es aufhört. Dieser unfassbare Schmerz. Ich hatte nichts mehr in der Hand. Nur über mein Leben und Sterben konnte ich noch bestimmen. Doch auch das hast du mir genommen. Sie haben mich eingewiesen in die geschlossene Psychiatrie. Ich war 24 Stunden von Kameras überwacht. Jeder Suizidversuch wurde unterbunden. Ich war dort allein. Allein mit mir und meiner Trauer und meinem Schmerz und meiner Wut. Diese bescheuerten Gruppenstunden in denen alle über ihre dummen kleinen Probleme sprachen und ich musste mir dieses Zeug anhören und nicken und Mitgefühl zeigen. Jeden Tag derselbe Trott. Irgendwann habe ich begriffen dass ich den Psychiatern erzählen muss was sie hören wollen. Ohhh jaaa, ich erkenne das Positive in der Situation. Ja ich will leben. Ja ich sehe eine Perspektive. Und ja, ich hatte eine Perspektive gefunden. Meine Rache an dir. Du sollst genauso leiden wie ich. Du willst leben, ich will sterben. Was für eine tolle Gelegenheit, dir alles zurückzuzahlen. Der Plan wuchs und wuchs und meine Entlassung kam näher und näher. Und dann war dieser Tag da. Als ich im Sandwichladen vor dir stand, hatte ich ein unsagbares Hochgefühl. Und tatsächlich bin ich geheilt. Ich will leben. Um dich sterben zu sehen!“
Mit einem Ruck zur Seite schnitt er mir die Kehle durch, ehe ich begriff was passierte. Das Blut lief meinen Hals hinunter und mein Kopf kippte nach vorn. Tropf, tropf, tropf. Gurgeln. Atme. Atme.
Ende
Ich finde den Plot erstaunlich gut. Ab dem letzten Drittel ist die Spannung aufgetaucht, dir mir vorher gefehlt hat. Es sind sehr viele plötzliche Sprünge drinnen, aber das kann auch deswegen sein, da wir ja eine ungefähre Länge vorgegeben bekommen hatten.
Gedanken und sprachliche Elemente würde ich irgendwie kennzeichnen. So trennt sich das vom Rest des Textes ab. Du kannst noch mit viel mehr sprachlichen Bildern arbeiten, das gibt der ganzen Story ein Gefühl. Aber im Großen und Ganzen gute Geschichte.
Hi, tolle Geschichte! Hat mich vom ersten bis zum letzten Satz gepackt! Kompliment!
Vielleicht hast Du ja auch Lust, meine Geschichte zu lesen. Über ein Feedback würde ich mich freuen :
https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge
Super Geschichte, schöner Schreibstil, sehr spannend und nachvollziehbar verfasst. Besonders mochte ich den roten Faden, der sich durch das “Tropf. Tropf. Atme…” bis zum Schluss durchzieht.
Ich bin begeistert! 🙂
Alles Liebe!