Laura33Besonders sein

 

Ich will gehen, aber ich werde zurückgehalten. Lass los, bist du verrückt geworden? Ein Tritt in die Magengrube versetzt mir einen Schlag. Ich sehe in emotionslose Augen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Noch nie habe ich solche Angst empfunden. Renn. So schnell du kannst. Mein Körper fleht mich quasi an, zu gehen. Aber ich kann mich nicht bewegen. Panik. Ein teuflisches Grinsen blickt mir entgegen. Ich will schreien, aber es regt sich einfach nichts. Wie gelähmt muss ich mit ansehen, wie sich der Stein langsam auf mich zu bewegt. Ich weiß genau was passieren wird. Mein Kopf weiß es, aber im Rest des Körpers ist es noch nicht angekommen. Ich kann nichts dagegen tun. Ein dumpfer Ton. Wie leblos falle ich zu Boden. Schmerz. Benommenheit. Alles was ich sehen kann, sind diese Augen. In meinen Leben werde ich sie nicht vergessen. Ich liege da, und warte darauf zu sterben. Lilly. Meine Schwester, sie liegt direkt neben mir. Lilly. Plötzlich sehe ich sie. Es sind ihre Augen, die dort sterbend auf dem Boden liegen. Ihr lebloser Körper. Nicht meiner. Sie schaut mich an. „Hilfe“ Als ich nach ihrer Hand greifen will, schreit sie. Laut. Lauter. Ich zucke zusammen. „Hör auf zu schreien“ Ich sehe neben mich. Lilly hör auf. Mein Blick wandert durch mein Zimmer. Lilly.  Es dauert ein paar Minuten bis ich realisiere, dass ich nicht dort draußen auf dem harten Boden liege, sondern in meinem Zimmer. Ein Alptraum. Bei weitem nicht der erste, seit mein Stiefvater wegen des Mordes an meiner Schwester im Gefängnis sitzt. Sicherlich auch nicht der Letzte. Vielleicht sollte ich ein Traumtagebuch führen? Wären sicher ein paar super gute Bonuskapitel in meinem nächsten Buch. Ich schnappe mir mein Notizbuch vom Nachttisch und halte ein paar erste Ideen fest. „In meinen Träumen werde ich noch immer damit konfrontiert, wie meine Schwester möglicherweise ihre letzten Minuten erlebt hat. Ob ich wohl jemals mit Gewissheit gesegnet sein werde. Auch wenn es eine traurige Gewissheit ist?“ Ich schlage das Buch wieder zu. Das einzig Traurige hier, ist das ein Traumtagebuch die erste Idee für ein zweites Buch ist, die ich seit Langem hatte. Nachdem „Lüge – Mein Leben nach dem Mord an meiner Schwester“ ein Besteller wurde, und in aller Munde war, erwartet natürlich jeder von mir, dass ich bereits fleißig am nächsten großen Hit schreibe. Jeder kennt mein Gesicht. Und die Geschichte die dieses Gesicht erzählt hat. Nachdem meine große Schwester herausgefunden hatte, dass unser Stiefvater in dubiose Geschäfte verwickelt war, hatte sie ihn damit unter Druck gesetzt. Wir wollten, dass er unsere Mutter verlässt. Nachdem Lilly dann verschwunden ist, ging alles ziemlich schnell. Die Beweislage war eindeutig. Lilly hatte in ihrem Tagebuch festgehalten, dass er sie immer wieder bedrohte. In seinem Auto fand man Haare und Blut von ihr. Und schließlich meine Aussage. Ich habe gesehen, wie er Lilly geschlagen, und ihr beteuert hat, sie würde bereuen, sich mit ihm angelegt zu haben. Ich musste es hunderte Male erzählen. In jeder bekannten Talkshow wurde ich Gast, nachdem ich mit der Veröffentlichung des Buches endlich allen ihre Heldin gegeben hatte. Die starke Frau, die für ihre tote Schwester weitergekämpft hat. Ich bin inzwischen ein Vorbild geworden. Aber trotzdem hasse ich diese Alpträume. Wenn ich wach bin, kann ich steuern woran ich denke. Beim Träumen hält mein Unterbewusstsein manchmal besonders schöne Foltermethoden für mich bereit. Aber das ist okay. Ich bin stark und selbstbestimmt. So ist das wohl, wenn man etwas Besonderes ist.

 

Ich beschließe meinem üblichen sonntäglichen Ritual nachzugehen. Wenn man mit dem Fahrrad etwa 30 Minuten einem Feldweg folgt, der fernab von der Hauptstraße liegt, die durch unser kleines Dorf führt, gelangt man zu einem „Hügel“. Von unten ist sie nicht zu erkennen, aber oben steht eine große Bank. Umgeben von Bäumen und Hügeln, ist sie dort ziemlich versteckt. Mir gefiel die Vorstellung, den Ort wahrscheinlich mit niemandem teilen zu müssen, da ihn vermutlich kein anderer kennt.

 

Ich steige aufs Fahrrad und fahre los. Die Sonne scheint, aber die Luft ist schwül. Auch wenn der Himmel noch nicht danach aussieht, spüre ich, dass etwas in der Luft liegt. Der Wind bläst in mein Gesicht. Ich schließe die Augen und genieße den Druck auf meinen Ohren. Seit ich die Hauptstraße verlassen habe, merke ich, wie es immer ruhiger um mich wird. Die Strecke ist mit dem Fahrrad wunderschön zu befahren, und trotzdem ist mir hier im Feld noch nie jemand begegnet. Entdeckt hatte ich diesen Ort gemeinsam mit Lilly. Als Kinder haben wir die Sommertage nur auf dem Fahrrad verbracht. Lilly bezeichnete die Bank und den ganzen Ort immer als unseren ganz eigenen kleinen Wald. Später haben wir dann auch Mama öfter mit auf Fahrradtour genommen. Wir haben uns Erdbeeren und Getränke eingepackt und dort gepicknickt. Früher. Vor meinem Stiefvater. Als Lutz Teil der Familie wurde, änderte sich alles. Kontrollier deine Gedanken. Das war früher. Früher. Ich erreiche die Bank. Während ich mein Fahrrad abstelle und meinen Helm ablege, nehme ich es zunächst überhaupt nicht wahr. Was ist das denn? Mitten auf der Bank liegt ein altes Handy. Ich muss an meine mobilen Anfänge denken. Jemand muss es hier vergessen haben. Aber wer bitte, kommt an diesen Ort außer mir? So viel zu meiner Annahme, keiner würde dieses kleine „Geheimversteck“ kennen. Vielleicht lasse ich das Handy einfach an seinem Platz. Wer auch immer es hier liegen gelassen hat, wird es doch sicherlich sehr bald vermissen und zurückfahren, um es zu holen, oder? Lange kann es eigentlich auch noch nicht her sein. Plötzlich fühle ich mich nicht mehr allein. Ich schaue mich um. Natürlich ist weit und breit niemand zu sehen. Und auch auf dem Weg war mir kein anderer Spaziergänger, Fahrradfahrer oder sonst jemand entgegengekommen. Die Sache fängt an, mir komisch vorzukommen. Außerdem reizt mich auch ein bisschen die Neugier. Ich schaltete das Handy an, und rechne mit der Aufforderung, einen PIN oder ein Passwort einzugeben. Was zum Teufel? Nächstes Bild. Nächstes Bild. Ich traue meinen eigenen Augen nicht. Was ich sehe kommt mir nicht real vor. Kurz habe ich das Gefühl verrückt zu werden. Fotos von mir. Von Lilly. Genau hier. Ich weiß ganz genau, an welchem Tag die Fotos aufgenommen wurden. Nur habe ich keine Ahnung wie das sein kann. Das kann nämlich gar nicht sein. Versteckte Kamera? Jemand will mich verarschen. Plötzlich habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich nehme eine Bewegung hinter mir wahr. Nur ein Ast. Wieso liegt hier ein Handy, auf dem diese Bilder sind. Die darf es doch gar nicht geben. Nein die darf es nicht geben. Sonst war alles umsonst. Keiner kennt diesen Ort. Meine Geschichte kennen zwar viele Menschen, um genau zu sein alle die mein Buch gelesen haben,  aber diese Aktion hier, macht keinen Sinn. Ist es Zufall, dass ich das Handy gefunden habe? Ja genau – zufällig hat hier oben auf meiner Bank jemand sein Handy vergessen, auf dem diese Bilder drauf sind, und das alles kurz bevor ich gekommen bin. Und selbst wenn – was eigentlich ausgeschlossen ist –wo kommen verdammt nochmal diese Bilder her? Diese Bilder. Dieser Moment, in dem ich mich für immer von meinem alten Leben verabschiedet hatte, und die Person wurde, die ich heute bin. Ein Vorbild. Stark. Besonders. Ich will weg von hier. Sofort. Ich versuche die Sache rational anzugehen. Immer wieder bilde ich mir ein, jemanden zu hören. Am Rücken gestreift zu werden. Das Gefühl, das man hat, während man auf dem Sofa sitzt und einen Horrorfilm schaut oder einen Psychothriller von Fitzek liest. Eigentlich weiß man, dass keiner da sein kann, wenn man sich umdreht, aber es fühlt sich so an. Man bildet sich ein, am Bein gestreift zu werden. Genauso wie in der Ecke hinter dem Sofa niemand sitzen kann, wird auch hinter der Bank nicht plötzlich jemand hervorspringen, aber trotzdem fühle ich mich unwohl. Als könnte jeden Moment etwas passieren. Ich muss mich beruhigen. Die Gedanken an früher, die darf ich nicht zulassen. Was mache ich mit dem Handy? Zwei Optionen. Liegen lassen oder mitnehmen. Beides erscheint mir nicht richtig. Als das Handy plötzlich vibriert, lasse ich es vor Schreck fallen. Fast muss ich über mich selbst Lachen. Es ist eine Bombe. Es zerstört sich selbst. Aber stattdessen liegt es nur dort auf dem Boden und leuchtet auf. Als ich mich beruhigt habe, starre ich es noch eine Weile an und beschließe dann, nachzuschauen. Eine SMS. Ich hatte ewig keine verfasst. Jeder mit dem ich kommuniziere verfügt inzwischen über WhatsApp. Die wenigen Ausnahmen rufe ich einfach an. Meine Mutter zum Beispiel. Meine Mutter. Ich hatte sie ewig nicht mehr angerufen oder besucht. Aber es geht ihr gut in der Klinik. Sie wird versorgt. Sie wird eines Tages wieder klarkommen. Und dann wird sie bei mir leben. Ich kümmere mich um sie. Dafür werden mich die Menschen bewundern. Meine Mutter wird stolz sein. Es wird gut. Alles wird genauso, wie ich es geplant habe. Das wird es. Das muss es. Positiv denken. Ich öffne die SMS. Nicht schön, wenn man plötzlich Angst haben muss, um das schöne Leben, das man sich aufgebaut hat, oder? Es ist an der Zeit, dass du bereust mich geopfert zu haben. Nach einer Weile realisiere ich, dass die Nachricht sich definitiv direkt an mich richtet, was wiederum bedeutet, dass mich jemand definitiv beobachtet. Warum mache ich mir was vor? Er ist es. Nein er kann es nicht sein. Er muss es sein. Die Anspielung. Ganz ruhig. Versuch realistisch zu denken. Er sitzt im Gefängnis, noch viele Jahre. Er hat mir Rache geschworen, aber er kann nicht hier sein. Ist er ausgebrochen? Hat er jemanden beauftragt? Und wenn sich doch jemand einen blöden Scherz erlaubt? Irgendein Fan oder auch kein Fan? Aber der kann unmöglich an diese Bilder gekommen sein. Mit so etwas, wird wohl kaum jemand Witze machen. Ist es Zufall, dass das Handy ausgerechnet hier gelegen hat? Natürlich nicht. Wer auch immer diese Bilder geschossen hat, weiß um die Bedeutung des Ortes. Dieser Jemand weiß alles. Alles. Er weiß alles. Ich antworte einfach: Was willst du? Ich warte. Sekunden. Minuten. Keine Antwort. Immer wieder versuche ich um mich herum jemanden wahrzunehmen. Das Handy vibriert erneut. Du hast die Wahl. Sag die Wahrheit. Sonst tu ich es. Und dieses Mal wird dir keiner glauben. Oh Gott. Und die nächste Anspielung. Lutz. Er hat mir gedroht, damals als er verhaftet wurde. Bei jeder Gelegenheit, die er hatte, bekam ich zu spüren, dass er vorhat, sich an mir zu rächen. Er hat immer wieder beteuert, dass er unschuldig ist, dass er Lilly nie etwas angetan hat und wir Beide uns lediglich einen Plan ausgedacht hätten. Er verlangte von seinem Anwalt, zu beweisen, dass Lilly sich lediglich versteckte. Irgendwo. Dass wir gemeinsam über ihn Lachen würden. Es stimmt. Lilly hatte tatsächlich immer mit dem Gedanken gespielt, mit ihrem Freund durchzubrennen. Ihr Freund. Was wohl aus dem geworden ist? Keiner glaubte Lutz. Die Beweislage war einfach zu erdrückend. Ich muss sagen, nicht einmal ich hätte ihm geglaubt. Obwohl ich ja wusste, dass seine verzweifelten Unschuldsbekenntnisse echt waren. Dumm ist er nicht. Er hat erkannt, dass Lilly und ich einen Plan geschmiedet hatten, um ihn loszuwerden. Mehr oder weniger. Vieles musste improvisiert werden, aber alles in allem fand ich meine Idee schon ziemlich genial. Lilly wollte den Plan in die Tat umsetzen. So war sie. Einfach machen. Alles was Aufmerksamkeit und Drama gebracht hat, kam ihr gerade Recht. Als wäre es ihre perfekte Strategie gewesen, Lutz loszuwerden. Alle glauben lassen, er wäre ein schrecklicher Mensch. Ein Krimineller. Einer der eingesperrt gehört. Einer der seiner eigenen Familie etwas antut. Nachdem Lilly dann weg war, kam meine Zeit. Ich hatte gelogen. Beweise gefälscht. Alle hinters Licht geführt. Ich habe gegen ihn ausgesagt. Dass war unfassbar mutig, haben mir alle immer wieder gesagt. „Diese junge Frau hat geholfen den Mord an ihrer eigenen Schwester aufzuklären und dafür gesorgt, dass der Mörder im Gefängnis landet“, hieß es damals in dem Artikel, der in allen Tagesblättern der Region abgedruckt wurde. Lutz ist ein Arschloch. Möglicherweise stimmen nicht alle Fakten, die gegen ihn gesprochen haben. Aber er musste weg. Raus aus unserer Familie. Ich wollte unbedingt einen Neuanfang wagen. Mich befreien. Ich wollte ein neues Leben, genau wie ich es auch geschafft habe. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, dass im Schatten seiner großen Schwester steht, und sich von seinem Stiefvater unterdrücken und schlecht behandeln lässt. Ich bin etwas Besonderes. Eine Heldin. Ein Vorbild. Und das bleibt auch so. Lutz wird mir das nicht wegnehmen. Was soll ich jetzt machen? So eine Scheiße. Bleib ruhig. Du bist stark. Du wirst eine Lösung finden. Verdammt. Alles wird auffliegen. Wird es nicht. Nein. Nein. Nein! Ich muss herausfinden, ob Lutz aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Oder ob er zu Irgendjemandem hier draußen Kontakt hatte. Ich beschließe das Handy einzupacken. Liegen lassen kann ich es schlecht. Die Wahrheit sagen. Die Wahrheit. Wen interessiert schon die Wahrheit. Was ist überhaupt die Wahrheit? Dann habe ich eben gelogen. Lutz ist ein schlechter Mensch. Ein schlechter Mensch verdient das, was ihm zugestoßen ist. Das Ziel war es, ihn loszuwerden. Wie man dieses Ziel erreicht, spielt dabei doch keine große Rolle, oder? Und ich habe dieses neue Leben verdient. Ich habe es verdient, bewundert zu werden. Ich habe die Tyrannen aus meinem Leben vertrieben. Ich bin bewundernswert. Ich bin besonders. Und ich bin wütend. Er wird mir das nicht wegnehmen. Das kann er vergessen. Ich werde diese verdammten Bilder vernichten. Ich schäme mich nicht, sie anzusehen. Wer etwas Besonderes sein will, muss etwas dafür tun. Und das habe ich getan. Keiner kann mir vorwerfen, dass ich mein Leben in die Hand genommen habe. Ich wollte jemand sein, zu dem andere aufblicken. Die Welt kennt mich jetzt. Niemals wieder werde ich bloß irgendeine Frau sein. Ich bin kein Irgendjemand mehr. Das kannst du vergessen Lutz! Ich werde auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Auf keinen Fall. Ich werde eine Lösung finden. Ja das werde ich. Ich werde die Sache klären. Warum sehe ich denn niemanden. Irgendwo hier muss doch jemand herumschleichen. „Lutz! Lass mich in Ruhe!“, ich weiß nicht worauf ich warte. Auf eine Antwort? Vielleicht steht hier irgendwo eine Kamera. Würde auf jeden Fall auch die Fotos erklären. Dann beobachtet er mich gerade. Wo? Wo könnte eine Kamera sein? Die hätte ich doch irgendwann gesehen. An einem der Bäume? Nach 20 Minuten intensiver Durchsuchung aller Pflanzen im Umkreis von 500 Meter war alles was ich gefunden hatte Brennnesseln. Leider aber auch erst, als ich schon mitten drinnen stand. Großartig. Ich mache mich hier noch zum Deppen. Hier ist keiner. Der würde sich schon verdammt gut verstecken, oder? Womit verschwende ich eigentlich noch meine Zeit? Ich muss herausfinden, ob Lutz noch in seiner Gefängniszelle ist. Es kann doch nicht so leicht sein, aus dem Gefängnis auszubrechen. Was eine Scheiße. Vielleicht träume ich wieder. Nein. Sobald man sich die Frage stellt, ob man bloß träumt, kann man sich sicher sein, dass man nicht träumt. Im Traum kommt man nicht auf die Idee, dass man bloß träumen könnte. Das wäre ein viel zu rationaler Lösungsansatz. In Träumen gibt es keine Rationalität. Ich schnappe mir mein Fahrrad und mache mich auf den Weg. Ich glaube ich war doppelt so schnell als auf dem Hinweg. Um mich herum nehme ich aber auch nichts mehr wahr. Ich genieße nichts. Die Luft wird immer unangenehmer. Ich schwitze. Mir ist heiß. Der Himmel hat sich mit grauen Wolken zugezogen. Gewitter. Heute wird es definitiv noch ein Gewitter geben. Wieder in meiner Wohnung angekommen rufe ich sofort dort an. Ich hatte gehofft, die Nummer niemals wählen zu müssen. Ich will ihn nicht wiedersehen. Ich muss. Ich weiß überhaupt nicht, warum mein Anwalt mir damals den Kontakt zum Gefängnis, in dem mein Stiefvater sitzt, weitergeleitet hat. Erwartet irgendjemand von mir, dass ich ihn besuche? Ich stelle mich dem Tyrann. Was fühle ich, wenn ich ihm nach langer Zeit wieder vor mir steht? Bin ich bereit, mich um Vergebung bitten zu lassen. So wie ich meine Leser einschätze, könnte sie sowas echt interessieren. Ja die Idee ist gut. Das sollte ich mir notieren. Aber erst bringe ich diesen Anruf hinter mich. Ich rufe da jetzt an, und finde heraus, ob Lutz die Möglichkeiten hat, um mich zu erpressen. Was die Frau am anderen Ende der Leitung versucht mir zu erklären, lässt mich fast an meinem Verstand zweifeln. Nie im Leben. Das passiert nicht wirklich. Alle haben sich hier gerade gegen mich verschworen. Es muss ein Irrtum sein. Bitte lass das alles nur ein Irrtum sein. Ich bin aufgeflogen. Wer ist hinter mir her? Das ist doch alles nicht möglich. Okay stopp. Stopp. Ich versuche der Frau zu erklären, dass es mein Name ist, den sie da gerade genannt hat. Lutz darf das Gefängnis für einen Sonntag im Monat verlassen. Es wird kontrolliert wo er sich aufhält, aber er spaziert einfach durch die Gegend. Jemand muss ihn abholen, und die Verantwortung für ihn übernehmen. Jemand hat ihn anscheinend abgeholt, und die Verantwortung für ihn übernommen. Ich. Mein Name steht jetzt dort als Ansprechpartner auf der Liste. Du drehst durch. Du wirst aufliegen. Lutz hat Beweise. Jetzt hat er Beweise. Und er ist irgendwo da draußen. Ich muss mir irgendeine Geschichte ausdenken. Ich muss diese Bilder irgendwie erklären. Es klingelt an der Tür. Ich zucke zusammen. Meine Fresse, hast du die Klingel noch nie gehört oder was? Bleib ruhig. Bleib ruhig! Du musst ruhig bleiben! Was mich vor der Haustür erwartet, trägt allerdings nicht gerade zu meiner Entspannung bei. Die Auffahrt vor meinem Haus. Die Hauswand. Mein Fahrrad. Alles ist zugeklebt mit den Fotos, die ich eben noch geglaubt hatte, nur auf dem Handy, das inzwischen in meiner Tasche liegt, vorzufinden. Nachbarn. Autos. Menschen. Hat schon jemand die Fotos wahrgenommen? Nein keiner schaut so genau nach, was auf diesen Fotos zu sehen ist. Natürlich tun sie das. Hier ist alles zugeklebt. Jeder wird sich die Bilder anschauen. Oh Gott. Was wenn schon jemand aus Sorge die Polizei innformiert hat? Die müssen weg. Sie müssen alle weg. Sofort. Wo entsorge ich sie? Es sind so viele. Wann hat dieser Mistkerl das alles geschafft? Vor 10 Minuten war hier noch nichts. Und wie hat er es geschafft, den Leuten im Gefängnis weiß zu machen, ich würde die Verantwortung für ihn übernehmen? Ich meine welchen Sinn haben diese Sonntage überhaupt? Warum bekommt jemand wie er einen Tag in Freiheit? Was soll der Scheiß? Denkt da denn keiner an mich? Wo zum Teufel hat er diese Bilder her? Er glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich jetzt zur Polizei gehe, und mich geschlagen gebe. Ich tausche den Platz doch nicht mit ihm. Ich habe geopfert, was geopfert werden musste. Ich stecke die Fotos in einen großen blauen Müllsack, den ich erst einmal im Keller verstecken will. Die Haustür steht weit offen. Hatte ich sie aufgelassen? Bin ich lebensmüde? In meiner Situation lasse ich einfach die Tür auf. Er wird wohl nicht…oder doch? Vorsichtig betrete ich das Haus. Stille. Würde ich es hören, wenn jemand hier wäre? Die Vorstellung nur wenige Meter von Lutz entfernt zu sein, macht mir Angst. „Lutz bist du hier? Du dürftest gar nicht hier draußen herumlaufen. Ich rufe die Polizei“, ich versuche selbstbewusst zu klingen, aber meine Stimme klingt unsicher. Die Polizei. Fantastische Idee. Er wird mich auffliegen lassen. Warum der ganze Aufwand, wenn er längst Beweise hat? Er will mich quälen keine Frage. Er will, dass ich zugebe was ich getan habe. Wieso? Damit die Blamage größer ist? Reichen diese Bilder überhaupt aus als Beweise? Das Handy. Es vibriert. Eine SMS. Kann er jetzt schon meine Gedanken lesen? Dieses Mal werden sie dir nicht glauben. Der wohl erdrückendste Beweis spricht gegen dich. Der erdrückendste Beweis. Was meint er? Hat er noch mehr Beweise? Das kann nicht sein. Woher? Nicht mal für die Existenz der Bilder gibt es eine logische Erklärung. Oh Gott. Ich bin so bescheuert. Wieso habe ich darüber nicht früher nachgedacht? Ich suche nach einem möglichen Versteck. Wenn Lutz hier ist, dann gibt es nicht viele Möglichkeiten. Meine Wohnung ist nicht groß. Er ist nicht hier. Er beobachtet mich möglicherweise. Aber er kann nicht im Haus sein. Unmöglich. Ich muss zu Lilly. Aber Lutz darf es nicht bemerken. Also muss ich mich beeilen. Es gibt nur noch eine Möglichkeit aus der Sache wieder raus zu kommen. Ich muss den wohl erdrückendsten Beweis vernichten. Als Erklärung für die Bilder wird mir schon irgendetwas einfallen. Ich gebe mein Leben nicht auf. Ich bin dazu berufen, es zu führen. Schon als Kind wusste ich, dass ich nicht gewöhnlich bin. Dass ich nicht gewöhnlich sein will. Dass ich nicht gewöhnlich sein werde. Ich bin mutig. Ich bin stark. Das ist es, was die Menschen da draußen über mich denken. Das ist es, was ich über mich denke. Das ist es, was ich bin. Beeil dich. Ich nehme mein Auto, um schneller zu sein. Ich bin Lutz einen Schritt voraus. Damit rechnet er nicht. Er wartet irgendwo darauf, dass ich bei der Polizei zusammenbreche und alles gestehe. Aber das wird nicht passieren. Da kennt er mich wohl viel zu schlecht. Tja Lutz, und wieder hast du dich überschätzt. Ich gewinne. Immer. Ich habe wohl einfach ein Gesicht, dem man alles abkauft. Und ich bin dir überlegen. Werde ich immer sein. Es dauert nicht lange, bis ich mein Ziel erreiche. Ich parke extra so, dass mein Auto von weiter weg nicht zu erkennen ist. Die Luft ist inzwischen kühl. Es nieselt. Wie ich vermutet hatte, wird wohl jeden Moment ein Gewitter über mich hereinbrechen. Der erdrückendste Beweis. Es lässt sich nicht hinausschieben. Ich muss es jetzt tun. „Lilly du musst wohl von hier verschwinden“. Ich schiebe die Bank beiseite. Zum Glück steht sie hier. So weiß ich genau, an welcher Stelle ich die Schaufel ansetzen muss. Lilly. Wie symbolisch. Ich muss schmunzeln. Ich stehe über ihr. Ich blicke nur noch auf sie hinab. Sie gehört eben einfach zu den Lastern meiner Vergangenheit. Bis ich das Laster abgeworfen habe. Ich fange an zu graben. Ich will mir gar nicht vorstellen, in welchem Zustand ich sie finde. Verbrennen? Ja das wird wohl das Beste sein. Und wenn Lutz dann die Stelle ausgraben lässt, wird er ziemlich dumm aus der Wäsche schauen. Ich bin mir wieder sicher, dass alles gut wird. Meine Zweifel sind weg. Ich habe wieder dasselbe Gefühl, wie an dem Tag, an dem ich mich für immer von Lilly verabschiedet habe. Sie fand, dass wir die Sache mit Lutz übertrieben hatten. Sie wollte alles richtigstellen. Wo auch immer so plötzlich ihr Gewissen herkam. Scheinheilig. So war sie immer. Sie hätte in ihrem Leben keine Sache richtig durchgezogen. Sie wollte mich mit dem Plan einfach im Stich lassen. Was sie nicht wusste war, dass ich den Plan schon längst zu Ende gedacht hatte. Sie hat ernsthaft geglaubt, mein Vorhaben wäre gescheitert, weil sie aussteigt. Naja, wenigstens ihren Willen hat sie irgendwie bekommen. Sie ist ausgestiegen. Aus allem. Sie war nie die Bemerkenswerte, also ist es irrelevant, wie alt sie jetzt geworden ist. Sie war unbedeutend. Das größte im ihrem Leben wird es immer sein, dass sie die Totgeglaubte ist. Das macht ihre Geschichte besonders. Sie kann mir dankbar sein. Habe ich so tief gegraben? Weiter. Weiter. Die falsche Stelle kann es kaum sein. Die Bank stand schon immer hier. Bin ich bescheuert? Ich muss weiter machen. Hier hatte ich meine Schwester vergraben, nachdem ich sie mit einem Stein erschlagen hatte. Es war genau hier. Sie hat mich angestarrt. Ihre Augen werde ich nie vergessen. Sie waren erfüllt von Angst, aber auch irgendwie leer. Besonders viel gab es nicht, woran sie in ihren Letzen Minuten gedacht haben kann. Ihr Leben war nicht einmal lebenswert. Die Leute dachten schlecht von ihr. Sie war nicht dazu berufen, einen Unterschied zu machen. Hilfe. Hilfe. Immer wieder versuchte sie zu schreien, während ich ihr Grab schaufelte. Ihr hilfesuchender Blick ist auf den Fotos nicht zu erkennen. Man sieht mich zwar graben und sie auf dem Boden liegend, aber man erkennt nicht einmal, dass sie verletzt ist. Ich finde eine Erklärung. Irgendeine die Lutz in den Dreck zieht. Lutz. Scheiße. Beeilung. Konzentrier dich. Muss ich noch tiefer? Unmöglich, so tief kann ich an diesem Abend niemals gegraben haben. Das hätte viel länger gedauert. Es ist unmöglich. Das kann einfach nicht sein. Falsche Stelle? Nein, kein Mensch hat diese Bank verrückt. Was wenn Lutz ihre Leiche vor mir ausgegraben hat. Mist. Moment. Eigentlich wäre das dumm von ihm. Dann stünde doch mein Wort gegen seines. Und er wäre dann der mit der Leiche. Ist er so dumm? Nein. Damals wollte ich ihre Leiche eigentlich in dem Kofferraum seines Autos verstecken, aber das Risiko war zu groß. Hätte jemand mich gesehen, oder Hinweise an ihrem Körper gefunden, die auf mich schließen lassen, wäre alles umsonst gewesen. Warum diese Gefahr eingehen? Eine vermisste Schwester, die aber ziemlich sicher tot ist, bringt noch einmal zusätzliche Sympathien. Das Gefühl der Ungewissheit konnte ich in meinem Buch über 10 Kapitel ausbreiten. Wäre sie einfach tot, wäre das doch langweilig gewesen. Die Leute dürfen die ganze Geschichte doch nicht sofort wieder vergessen. Graben. Verdammt, das ist nicht möglich. Nach ungefähr weiteren 50 Zentimeter realisiere ich, dass Lilly weg ist. Ich stehe vor ihrem leeren Grab. Wie kann das sein? Sie kann nicht weg sein. Das geht nicht. Wer sollte sie ausgegraben haben? Ein Knacken. Direkt hinter mir. Bevor ich mich umdrehen kann spüre ich schon den Schmerz, der durch meinen Kopf zieht. Diesen dumpfen Ton, den kenne ich. Mir wird schwindelig. Ich kann mich nicht auf den Beinen halten. Ich versuche irgendetwas zu greifen. Beim Umdrehen falle ich zu Boden. Ich schlage mir den Kopf noch einmal an meiner Schaufel an. Ein grelles Lachen. Ich sehe zwar nicht mehr richtig, und die Geräusche um mich herum, nehme ich auch gerade nur noch so wahr, als wäre ich unter Wasser, aber ich kenne dieses Lachen. Und die Augen, die sich mir nun nähern. Niemals. Bin ich tot? Ich flehe dich an Gott, lass mich träumen. Lilly. Ich sehe Lilly. Aber sie ist nicht mehr die die stirbt, sondern ich. Wie einen Sack dreht sie mich um, und lässt mich in die Grube rollen, die ich gerade eben noch für ihr Grab gehalten hatte. Ich will etwas sagen. Wieso bist du am Leben? Verarscht mich jemand? Bin ich tot und das hier ist die Hölle? Ich habe dich umgebracht verdammt nochmal. Was machst du hier? Was mache ich hier? Sterbe ich jetzt? Wieso bewegt sich mein Körper nicht? Wieso kann ich nichts sagen? Ich spüre keinen Schmerz, aber trotzdem habe ich das Gefühl, als würde es gleich mit mir zu Ende gehen. Lilly. Sie redet mit jemandem. Was passiert hier bloß? Es fällt mir immer schwerer, die Augen irgendwie aufzuhalten. Was ist das? Sand? Erde. Meine Augen brennen. Ich versuche aufzustehen. Sobald ich meinen Kopf bewege, zuckt mein ganzer Körper zusammen. Tu irgendetwas. „Und Schwesterherz, willst du noch irgendetwas loswerden, bevor Lutz und ich dich begraben?“, Lilly lacht. Es klingt teuflisch. Mir wird schlecht. Ich will schreien, aber es geht nicht. Das ist also der Moment, in dem ich erfahre, wie Lilly sich gefühlt hat, in ihren letzten Minuten. Nur waren es nicht die Letzten. Jemand hat sie ausgegraben. Lutz? Wie lange haben die beiden diese kranke Aktion geplant? Ich muss kotzen. Ich kann nichts mehr sehen. „Falls es dich tröstet, ich erwähne dich sicherlich mal in meinem Buch. Wie findest du: „Wahrheit – Wie es sich anfühlt von der eigenen Schwester ermordet zu werden“, Lillys Stimme klingt so voller Boshaftigkeit. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, aber ich weiß das lacht. Lutz steht wahrscheinlich neben ihr. Wann hatten die beiden sich zusammengeschlossen? Was tun sie als nächstes? All das werde ich nie erfahren. Ich höre die beiden nicht mehr. Bin ich bewusstlos? Habe ich meine Sinne verloren? Oder stirbt man so schnell? Das fühlt sich nicht real an. Ein Teil von mir denkt immer noch, irgendwie würde sich alles zum Guten wenden. Aber ich werde nicht mehr aufwachen. Jetzt werden alle erfahren, dass die Geschichte, die ich erzählt habe, nur die Geschichte ist, die ich auch selbst geschrieben habe. Moment. Die Wahrheit wird aus mir zwar eine Mörderin machen, aber auch ein teuflisches Genie. Die Menschen werden mich eben auf eine andere Art bewundern. Aber diese Geschichte wird aus mir wahrscheinlich jemanden machen, an den sich die Leute noch viel länger erinnern. Bewunderung. Respekt. Sie werden an mich denken, weil ich besonders bin. Die Tatsache, dass das Genie tot ist, wird die Faszination um meine Person unsterblich machen. Kann mir etwas Besseres passieren?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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