Mia VayfellBlaue Blicke

Ich musste mich beeilen. Das letzte Tier hatte mich doch mehr Zeit gekostet als gedacht und ich durfte nicht zu spät bei Leon sein. Mein Chef, der sich gerne als mein Kollege bezeichnete, hatte mir die Katze zugeteilt. Eine Impfung dauerte zwar nicht allzu lange, aber er wusste ganz genau, dass ich Leon heute früher abholen musste. Egal, ich hatte jetzt keine Zeit dafür, mich aufzuregen.

Schnell stieg ich aus der U-Bahn und lief die Treppe hoch. Ich hatte nur den Kindergarten im Kopf. Da spürte ich plötzlich einen Stoß. Ich stolperte einen Schritt rückwärts und hörte die flüchtige Entschuldigung eines Mannes. Ich sah mich um. Die Treppe war nicht sehr voll, aber niemand war stehengeblieben. Arschloch.

Ich wollte weitergehen, als ich auf dem Boden etwas leuchten sah. Es war ein Handy. Es war noch entsperrt, wahrscheinlich hatte er es verloren. Ich ging darauf zu und hob es auf. Dann sah ich mich noch einmal um. Niemand kam auf mich oder das Handy zu. Die nächste Bahn fuhr ab und der Bahnhof wurde leerer. Nur in etwa zehn Menschen waren noch zu sehen. Wahrscheinlich war der Besitzer nicht unter ihnen.

Ich entschied mich dafür, auf das Handy zu schauen. Von dem Gerät konnte ich irgendjemanden anrufen, der den Besitzer kannte.

Das Handy funktionierte noch, nur ein Riss zog sich quer über das Display. Ich tippte, um die Helligkeit wieder hochzufahren und fand mich in der geöffneten Foto – App wieder. Ich sah auf das Bild eines lächelnden Arztes, der mir beim genauen Hinsehen irgendwie bekannt vorkam. Er hatte eine Katze auf dem Arm. Im Hintergrund sah ich ein Schild. Tierarztpraxis Dr. med. vet. Der Name war von dem Mann verdeckt. Ich zog das Gesicht des Mannes größer. Er war älter geworden. Dennoch, diese blonden Haare und dazu diese Augen. So blau wie ein wolkenloser Himmel. Ich würde sie nie vergessen.

Aber das konnte nicht wahr sein. Ich hatte ihn sicherlich verwechselt. Ich hatte ihm nichts über mich erzählt. Nichts.

Ich wischte nach rechts und sah auf das vorherige Bild. Wir. Damals. Nein. Ich klickte noch eines weiter.

Erstarrt sah ich auf das Foto. Um mich herum liefen Menschen die Treppen hoch, aber ich bemerkte sie nicht. Ich war allein, nur das Foto strahlte mir von dem Display entgegen. Grell brannte es sich in mein Gehirn, während die Welt begann, sich unter meinen Füßen zu drehen. Ich stützte mich auf dem Geländer ab. Ich konnte mich nicht von dem Bild lösen. Verdammt. Was zur Hölle hatte er nur vor?

Während ich erstarrt auf das Display sah, begann meine Hand mit dem Handy darin, zu zittern. Sie vibrierte förmlich. Nein. Stopp. Nur das Handy vibrierte. Ich fokussierte mich auf den Bildschirm und erkannte eine Nummer. Darunter die Zeichen zum Annehmen oder Ablehnen des Anrufs. Einige Sekunden lang schwebte mein Daumen unentschlossen darüber, dann entschied ich mich für eine Seite.

Er kam schon wieder an. Mit zwei Drinks in der Hand, wie die Male davor. Ich war mir nicht sicher, ob er mich einfach nur abschleppen wollte oder ob mehr dahinter steckte. Aber er war nett und ich kannte ihn. Er studierte auch Tiermedizin und war mit hier im Auslandssemester. Außerdem bekam ich freie Getränke, weshalb ich einfach mitspielte. Es war inzwischen spät, die meisten Leute waren gegangen. Ich war betrunken.

„Kiara?“, fragte seine tiefe Stimme. Ich sah auf und in seine Augen. Sie waren interessant. Hellblau und irgendwie durchdringend. Schön.

„Jonas“, gab ich zurück. Ich lächelte. Er lächelte auch. Ich leerte mein Glas.

„So, jetzt muss ich aber wirklich los. Ich möchte doch eine grandiose Tierärztin werden und hier im Ausland nicht nur trinken!“, sagte ich so bestimmt wie möglich. Er lachte. „Du doch auch, Herr Doktor Kräms!“ Jonas nickte, wobei ihm eine Strähne seiner hellblonden Haare ins Gesicht fiel. Insgeheim verglich ich sie miteinander. Mathias war größer als er und hatte diese schönen braunen Augen. Jonas war zwar hübsch, aber irgendwie nicht interessant. Nein, mit ihm würde ich keine Beziehung eingehen.

Ich wandte mich zum Gehen. Er lief neben mir her. „Ich habe mich gefragt, ob du so spät abends in einem fremden Land noch allein nach Hause gehen solltest.“ „Wir müssen sowieso zum selben Haus.“ „Stimmt.“ Er lachte wieder. Dann berührte er meinen Arm.

Er lief nah bei mir. Ich ließ es zu. Mathias war schon abgereist, er würde davon nichts mitbekommen. Wir waren jetzt fast ein halbes Jahr zusammen und ich mochte ihn sehr. Trotzdem war ein wenig Spaß doch nicht verboten. Er würde es nie erfahren. Außerdem war ich selbst bald wieder in Deutschland. Dann war Jonas weit genug weg.

Ich schloss die Tür auf. Wir gingen die Treppe nach oben. „Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, dass du wirklich hübsch bist?“ Ich sah im in die Augen. „Nein, ich glaube nicht.“ Schöne Augen.

„Du hast auch schöne Augen“, sagte er. Oh, ich musste das ausgesprochen haben. Naja, egal.

Mittlerweile waren wir vor seiner Wohnung angekommen. „Du kannst reinkommen, es ist niemand da.“ Er sah mich verführerisch an. Ich zögerte noch kurz.

Ich betrachtete mein Spiegelbild in der Scheibe an der Tür. Ich sah ganz gut aus. Meine langen, dunkelbraunen Haare wirkten dank eines neuen Produkts wie gerade gekämmt. Es hatte gewirkt. Toll.

Ich wandte mich wieder ab und lächelte. Ich spürte schon die Berührungen. Nur ein Mal. Nein, da würde nicht mehr passieren, legte ich fest. Dann nickte ich und ging mit ihm in die Wohnung.

Ich drückte auf das grüne Zeichen. Mit zitternden Fingern hielt ich das Handy an mein Ohr. „Hallo, Kiara. Wie heißt du jetzt? Serfeld?“ Seine Stimme war ruhig. „Was willst du von mir, Jonas? Das alles ist fünf Jahre her!“ Ich klang hysterisch.

„Ich nehme an, du hast die Fotos gefunden?“ Ich schwieg. „Und du weißt doch sicherlich, was ich damit sagen will, nicht wahr, Kiara Serfeld?“ Ich antwortete noch immer nicht. Er lachte kurz. „Ich habe es testen lassen. Es ist wahr.“

„Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“ „Sonst was? Willst du dasselbe versuchen wie damals? Es hat nicht funktioniert. Ich lebe noch.“

Ich spürte, wie Tränen über meine Wangen liefen. „Wie hast du mich gefunden? Du wusstest nichts über mich. Nichts.“ „Ich wusste deinen Vornamen. Du hast mir wirklich wenig über dich erzählt, doch das können wir nun nachholen.“

Er stoppte kurz, dann sprach er weiter. „Willst du, dass ich deinem Mann die Fotos schicke? Willst du, dass er erfährt, wer du wirklich bist? Wer seine Familie wirklich ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Gut. Dann schlage ich vor, dass wir uns treffen.“ „Okay. Wo?“ Er lachte wieder.

„Du weißt noch nicht alles. Ich möchte mich mit dir und Leon treffen. Heute Abend.“ „Nein. Allein meinetwegen, aber du bekommst Leon nicht. Was willst du von mir?“

„Weißt du, was du mir damals angetan hast? Wie sehr du mich verletzt hast? Entweder sehe ich euch beide oder Herr Serfeld bekommt die schönen Fotos und alle Informationen.“

Ich war verzweifelt. „Lass mich in Ruhe!“

„Ich gebe dir ein wenig Bedenkzeit. Sagen wir, eine Stunde. Ruf mich zurück oder Mathias wird es erfahren. Der Code für das Handy ist 1234.“ Er legte auf.

Ich widerstand dem Verlangen, das Handy an die Wand zu schmettern und vergrub den Kopf in den Händen. Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Dann dachte ich an Leon. Ich stand auf, wischte die Tränen ab und rannte los in Richtung des Kindergartens.

Als ich dort ankam, erhielt ich enttäuschte Blicke der Kindergärtnerin, aber die waren mir egal. Ich hob Leon hoch und drückte ihn fest. Dann ließ ich ihn los, damit er seine Sachen holen konnte. Ich sah ihm hinterher. Fünf Jahre alt war er. Er war so groß geworden. Er hatte braunes Haar und blaue Augen. Ich liebte ihn über alles.

Jetzt kam er zurück. Ich nahm seine Hand und wir liefen nach Hause. Nein, ich würde ihn niemals zu dem Treffen mit Jonas mitnehmen.

Ich konnte sie vor mir sehen, zitternd, weinend.  Sie war älter geworden. Aber das waren wir beide. Sie war jetzt dreißig, ich vier Jahre älter. Sie hatte noch immer dieselben braunen Haare und braungrünen Augen. Sie war noch genauso schön wie damals. Und sie war glücklich. Mit ihm. Mathias. Er war Anwalt und ich hasste ihn. Aber noch mehr hasste ich sie. Sie hatte mein Leben zerstört. Sie hatte auch mich beinahe zerstört.

Ich legte das Handy auf den Tisch neben mir und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien. Es war ein perfekter Tag für das Vorhaben.
Wieder sah ich ihr Bild vor meinem inneren Auge. Sie fühlte Angst. Sie fühlte sich allein. Ich lächelte. Das hatte sie sich verdient. Sie sollte genau so fühlen wie ich damals. Und ich würde ihr Leben zerstören, weil sie nicht begriff, dass Mathias nicht gut genug für sie war. Das alles hatte sie sich selbst zuzuschreiben.

Damals. Die Bilder tauchten in meinem Kopf auf. Wir hatten miteinander geschlafen und es war unglaublich gewesen. Am nächsten Tag ging ich wieder auf sie zu. Sie musste dasselbe gefühlt haben wie ich. Sie musste.

Ich wollte sie küssen, doch sie ließ mich nicht. Ich weiß noch genau, wie sie mir in die Augen sah. Sie sah mir in die Augen und redete und begann, alles zu zerstören.

„Jonas. Es war wirklich schön mit dir gestern, aber ich möchte das nicht. Ich liebe Mathias und das wird auch immer so bleiben. Du bist nett, du findest sicherlich jemanden.“ Nett. Meine Welt brach zusammen.

Und bald würde das auch ihre tun. Denn ich wartete schon eine Stunde und sie hatte nicht angerufen.

Ich sah zu Leon, der mit seinen Dinosaurier – Figuren spielte. Dann sah ich auf das Handy. Es lag noch immer umgedreht auf dem Tisch. Die Uhr zeigte an, dass es zu spät war. Ich wollte hoffen, dass Jonas seine Drohung nicht wahr werden ließ, aber ich wusste, dass er es tun würde. Er würde nicht zögern.

Eine halbe Stunde später wurde der Schlüssel im Schloss unserer Tür gedreht. Ich spielte gerade mit Leon. Er ließ seinen Dinosaurier durch die Luft fliegen und machte dabei süße Geräusche. Ich lächelte.

Mathias trat durch die Tür. Er schlug sie hinter sich zu und kam direkt zu mir. Meine Mundwinkel fielen nach unten. Ich stand auf und stellte mich vor Leon, als ich seinen Blick sah.

Mathias zog sein Handy hervor und zeigte mir die zwei Bilder, die ich schon gesehen hatte. Das von Jonas und mir. Das von Jonas und Leon. Und dann einen Vaterschaftstest. Er knallte das Handy auf den Tisch. Leon sah auf.
„Mathias, ich kann das erklären.“ Er schnitt mir das Wort ab. Er sprach so ruhig wie immer, aber seine Worte waren voller Enttäuschung und Wut. „Du hast mich betrogen. Du hast mich betrogen und das ist nicht mein Kind.“ Ich sah eine Träne in seinem Augenwinkel.

„Ich wusste es selbst bis heute nicht. Du bist sein Vater.“ Ich begann, zu weinen. „Bitte, Mathias.“

„Wie kannst du mir das nur antun? Du hast mich betrogen, als wir ein halbes Jahr zusammen waren. Ein halbes Jahr! Wie oft hast du es danach noch getan?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nie. Nur einmal und es tut mir leid. Ich liebe dich, Mathias.“ Er sah mir in die Augen. „Wie soll ich dir noch irgendetwas glauben? Wie soll ich dir etwas glauben, wenn das alles hier eine Lüge ist?“ „Das ist es nicht! Ich liebe dich. Du bist Leons Vater und das wird sich nie ändern.“

Er drehte sich um und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. „Ich habe dir vertraut, Kiara.“ „Ich liebe dich“, sagte ich wieder. Als wenn das irgendetwas ändern würde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. „Ich wusste es selbst nicht.“ „Das ändert nichts daran.“

„Mathias, bitte. Das ist Jonas‘ Schuld. Er ist gefährlich, verstehst du? Er wusste nichts über mich und trotzdem hat er mich irgendwie gefunden. Er ist ein Stalker, der denkt, dass ich zu ihm gehöre. Er will uns trennen. Jonas war bei Leon!“ „Nein.“ Mathias sah mich an.

„Das ist ganz allein deine Schuld, Kiara.“

Meine Schuld. Die Erinnerungen, die ich so erfolgreich verdrängt hatte, kamen zurück.

Ich rannte. Ich rannte so schnell ich konnte mit den Koffern in den Händen. Ich lief zum Bahnhof. Ich sah mich nicht noch einmal um.

Das Blut drängte sich immer wieder in meine Gedanken. So viel Blut. Doch ich musste gehen. Ich musste fliehen.

Ich stieg in den Zug. Er fuhr los und ich sah zurück zum Bahnhof. Dann sah ich nach vorn. Bald würde ich in einem Flugzeug nach Deutschland sitzen. Dann wäre das alles hier Vergangenheit und niemand würde jemals davon erfahren, das schwor ich mir. Niemals.

Ich spürte, wie Tränen meine Wangen hinabrannen. Jede einzelne war heiß, sie verbrannten mein Gesicht.

Hätte ich es anders machen sollen? Das Feuer auf meinen Wangen sagte ja. Doch ich schwor mir, nein zu sagen.

„Kiara?“ Ich fokussierte mich wieder auf Mathias. „Entschuldigung. Es ist vielleicht auch ein wenig meine Schuld. Aber Jonas ist gefährlich!“ Mathias schüttelte den Kopf.

„Jonas hat herausgefunden, dass er ein Kind hat. Er möchte natürlich, dass ich es erfahre!“ „Bitte, glaub mir doch. Er darf Leon nicht bekommen.“ „Er möchte ihn auch nicht bekommen. Er möchte nur reden. Mit dir.“

„Nein. Du musst mir glauben, Mathias. Bitte.“ Ich sah ihn verzweifelt an.

„Entschuldigung, aber ich kann dir nicht mehr glauben. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“ „Ich doch auch nicht! Bitte, Leon muss in Sicherheit sein.“ Mathias sah auf. „Das wird er auch. Er wird hier bleiben. Bei mir.“

„Was soll das heißen?“ „Das soll heißen, dass ich ein wenig Zeit für mich brauche, Kiara.“ Ich trat einen Schritt vor. „Du kannst mich nicht einfach rauswerfen!“ „Doch, das kann ich. Genau genommen ist das nämlich meine Wohnung. Ich möchte, dass du für einige Tage gehst.“

„Nein, bitte nicht! Du kannst mir nicht einfach mein Kind wegnehmen! Das darfst du nicht!“ „Das tue ich auch nicht. Aber das hier ist sein Zuhause. Willst du nicht, dass er zuhause ist?“ Ich sah zu Leon, der uns fasziniert zusah. Zum Glück würde er das alles hier nicht verstehen.

Ich musste gehen, das wusste ich. Mathias musste das alles verarbeiten und ich auch. Ich war schuldig und Leon blieb hier.

„Aber Jonas ist da draußen. Er wird mir folgen.“ „Ich denke nicht, dass er das tun wird. Du reagierst über. Du bist paranoid! Ist es denn zu viel verlangt, dass du einfach gehst?“

Mathias war laut geworden beim letzten Satz. Ich sah auf den Boden und gab nach. „Ich komme morgen wieder.“ Er nickte.

Ich nahm meine Jacke und meine Tasche und verließ die Wohnung. Tränen rannen in Strömen aus meinen Augenwinkeln. Sie verbrannten wieder meine Wangen. Wenn das Feuer nicht mehr weiterkam, würde nur noch der Rest übrigbleiben. Dann würde nur noch die Wahrheit übrigbleiben. Und die würde alles zerstören.

Ich hatte Angst. Ich hatte Angst und fühlte mich allein, als ich ins Freie trat. Jonas hatte viel Aufwand betrieben. Er musste ein Ziel haben. Ich befürchtete, dass ich dieses Ziel war. Dass es ihm nicht um Leon oder Mathias ging, sondern nur um mich.

Ich telefonierte mit einer Freundin, die auch in der Stadt wohnte. Ich hätte einen Streit mit Mathias gehabt, sagte ich. Ich log ihr eine Geschichte vor und ich fühlte mich schlecht. Nicht so schlecht wie damals, aber schlecht. Wenigstens bekam ich ein Bett für die Nacht.

Ich nahm mein Fahrrad und fuhr in Richtung ihrer Wohnung. Sie lag außen am Stadtrand, ich hatte eine halbe Stunde Fahrt vor mir, in der ich viel nachdenken konnte. All das kam zurück, was ich verdrängt und vergessen hatte.

Ich sah Jonas wider Erwarten während der ganzen Fahrt nicht und beruhigte mich ein wenig. Wahrscheinlich war ich wirklich paranoid.

Ich kam bei meiner Freundin an und wir redeten über meinen Streit. Nach einer Weile war ich so tief in Lügen verstrickt, dass es mir den Hals abschnürte. Nach dem Abendessen ging ich nach draußen.

Ich lief in den dunklen Vorgarten. Wie sollte ich die Situation nur jemals retten? Es schien unmöglich.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich wandte mich um und sah eine Gestalt auf der Straße stehen. Ich ging einige Schritte rückwärts.

„Hallo, Kiara.“ Jonas. Scheiße. Ich wich noch weiter zurück. „Es besteht keine Gefahr. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden. Nichts weiter.“ Er hob seine Hände in die Höhe, als würde ich eine Pistole auf ihn richten. Ich ging vorsichtig auf ihn zu, blieb aber mit genügend Abstand im Garten. „Jonas. Was willst du von mir?“

„Das fragst du dich noch? Wirklich? Hast du es noch nicht herausgefunden?“ Ich schüttelte den Kopf. Im Licht der Straßenlaternen sah ich, wie er lächelte. Er sah auf und seine Augen blitzten.

„Dann lass uns doch eine Geschichte erzählen, Kiara. Lass uns die ganze Geschichte durchgehen, Schritt für Schritt.“ Ich schüttelte wieder den Kopf.

„Gut, ich fange an. Ich verliebte mich in eine Frau, die ich nur flüchtig kannte. Eines Abends waren wir zusammen in einer Bar und dann hatten wir Sex. Danach hat sie mir die kalte Schulter gezeigt. Sie hat mich abgewiesen, wieder und wieder.“ „Ich habe Mathias geliebt! Du warst ein Ausrutscher!“ Das hätte ich nicht sagen sollen.

„Ausrutscher? Als Ausrutscher bezeichnest du mich? Soll ich dich daran erinnern, was dann passierte?“

„Du bist krank, Jonas! Siehst du das denn nicht? Ich wollte zurück nach Deutschland fliegen und du hast mir aufgelauert! Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht mehr sehen will und du bist mir hinterhergegangen! Du hast mich verfolgt!“

„Ich weiß es noch. Es war kalt und noch dunkel. Genauso wie du. Ein schöner Vergleich, findest du nicht?“

„Was willst du von mir?“, fragte ich wieder. Er bedeutete mir, still zu sein. „Sch. Lass uns die Geschichte weitererzählen. Es war kalt und dunkel und ich lief hinter dir her. Natürlich tat ich das. Ich war verliebt. Doch dann war da diese verdammte Brücke, nicht wahr, Kiara?“

Ich sah ihn hinter mir. Er wollte einfach nicht gehen. Auf der Brücke hatte ich angefangen, zu rennen. Er rannte auch und dann stolperte er und schlug hart auf dem Geländer auf.

„Ich habe nichts getan!“, rief ich. „Bist du dir da ganz sicher?“

Unter uns floss Wasser. Ich sah ihn vor mir, röchelnd. Blut floss aus seiner Brust, irgendein Knochen ragte durch die Haut. Einige Sekunden lang sahen wir uns in die Augen. Er legte verzweifelt seine Hände auf die Wunde. Die Blutung wurde immer stärker. Ich konnte ihn nicht so verlassen. Oder doch? Noch saß er aufrecht, doch sobald er bewusstlos werden würde, würde er rückwärts durch das Geländer fallen.

Kurz darauf sackte er zusammen. Doch er fiel nicht.

Ich sah in seine blauen Augen, als ich ihn trat. Ein leichter Tritt genügte. Jonas fiel über die Brücke ins tiefe Wasser. Ich drehte mich um und rannte los, begleitet vom Geräusch des Aufpralls auf der Wasseroberfläche.

Ich schüttelte die Schuld ab und nickte. „Ich habe nichts getan. Sonst hättest du mich anzeigen können.“ „Wie? Ich kannte nicht einmal deinen Nachnamen. Dort war niemand. Absolut niemand. Dein Wort gegen meins.“

Ich spürte, wie ich zitterte. „Aber du hast es doch geschafft. Du bist Tierarzt.“ „Ich bin ein verdammter Tierarzthelfer. Ich bin praktisch Schwester. Ich hasse es. Ich war lange im Krankenhaus und dann fiel ich in ein tiefes Loch. Ich kam nicht darüber hinweg, Kiara. Nie.“ Das klang nicht gut. Das klang sehr gefährlich.

„Ich muss wieder rein“, sagte ich. Jonas öffnete das Gartentor und kam auf mich zu. „Du willst es einfach nicht verstehen. Wir sind füreinander bestimmt.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Ich möchte auch etwas von deinem Leben. Wenn du weg bist, werde ich aufatmen können. Und…“ Er machte eine Pause und sah mir in die Augen. „Rate mal, zu wem Leon gehen wird, wenn seine Mutter verschwunden ist.“

Entsetzt wich ich zurück. „Zu Mathias. Nicht zu dir.“ „Denkst du nicht, dass er zu seinem leiblichen Vater kommt?“ Ich sah schreckliche Szenarien vor mir und war für einen kurzen Moment abgelenkt. Diesen Moment nutzte Jonas.

Er sprang nach vorn, drückte mir irgendetwas in den Mund und verdrehte meinen Arm auf dem Rücken. Ich beugte mich nach unten, um dem Schmerz zu entkommen. Ich trat nach ihm, aber er hielt meinen Arm höher und ich wand mich unter Schmerzen. Dann spürte ich, wie er meine Arme zusammenband. Ich trat wieder nach ihm. Er zog an meinen Beinen und warf mich auf den Boden. Plötzlich war er über mir und band auch die Fußknöchel zusammen. Er war stark. Viel stärker als ich. Ich versuchte, mich zu befreien, aber es war zwecklos. Jonas sah mich an. „Na, wie fühlt sich das an?“

Er strich über meine Wange. Dann lächelte er. Ich weinte schon wieder. Ich konnte nicht sprechen und mich nicht bewegen. Jonas hob mich hoch und trug mich auf die Straße. Ich machte Geräusche, aber sie waren zu leise.

Auf der anderen Straßenseite sah ich ein Auto. Die Lichter waren noch angeschaltet. Er lief darauf zu. Ich wusste, dass ich niemals in dieses Auto gelangen durfte. Dann hätte ich verloren.

Ich trat mit aller Kraft in seinen Rücken. Er fluchte und ließ mich los. Ich schlug hart auf dem Boden auf, meine Rippen schmerzten und ich konnte für einen Moment nicht atmen. Trotzdem wollte ich aufstehen, aber er war schon wieder über mir. Er hielt etwas in der Hand. Eine Spritze. Ich bewegte mich und schüttelte panisch den Kopf, als ich den Namen des Mittels las, das er mir gab. Es war eine Betäubung für große Hunde. Ich wusste nicht, ob ich sie überleben würde.

„Ich wollte das eigentlich nicht machen, aber du lässt mir keine andere Wahl.“ Jonas hielt mich mit der einen Hand fest, die andere wanderte langsam zu meinem Hals. Ich versuchte, wegzurollen, aber sein Griff war eisern.

Dann spürte ich einen Stich in meinem Hals und kurz darauf, wie das Mittel in meine Adern floss. Mir wurde schwindlig und ich hörte ihn erleichtert ausatmen. „Gut.“ Er verstaute die Spritze in seiner Tasche und sah für einen Moment nicht zu mir.

Mein Blickfeld verschwamm, als ich mich aufrichtete. Dann stand ich auf. Jonas hatte mich noch immer nicht bemerkt. Meine Augen sahen nicht mehr richtig und meine Gedanken waren langsam. Trotzdem war ich wach. Ich hüpfte in Richtung des Hauses. Hinter mir hörte ich Jonas. Müdigkeit überkam mich, mir wurde immer schwindliger. Ich hüpfte weiter. Er war dicht hinter mir. Dann war ich am Zaun angekommen. Ich fiel auf die Knie und hob meine Hände. Meine Finger tasteten die Fläche ab, dann fühlte ich den Klingelknopf. Ich drückte ihn fest.

Jonas riss mich nach hinten. Ich sah in seine Augen. So blau wie ein wolkenloser Himmel. Schön. Ich lächelte.

Der Boden unter mir war kalt, alles drehte sich. Ich hob den Kopf und sah zum Haus. Im Flur war Licht angeschaltet worden, ich sah einen Schatten. Dann sank mein Kopf wieder auf den Boden und im nächsten Moment sah ich nichts mehr.

2 thoughts on “Blaue Blicke

  1. Ahhh… jetzt verstehe ich den Titel deiner Geschichte auch 👆🏻🙈
    Sehr nice!
    Auch die Idee, deiner Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich konnte flüssig bis zum Ende lesen und wurde dabei wirklich nett unterhalten. Danke dafür! 🙂
    Dran bleiben!
    Herzlich – Lia 🌿

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