leadirnbergerBlitzlicht

Ungeniert starrte sie mich an. Während ihr kalter Blick über jeden Kopf in der überfüllten Tram hinwegglitt, um sich schließlich mit dem Meinen zu treffen, schien es, als säße mein Herz nicht mehr dort, wo es hingehörte. Anstatt seinen Platz hinter dem Brustbein zu finden, rutschte es immer weiter hinab. Meinen ganzen Organismus durchquerte es, schüttelte sich und drehte sich um 180 Grad. Sie hatte mich gesehen. Sie hatte mich WIRKLICH gesehen. Und wenn dieser Moment auch nur wenige Sekunden andauerte, sie sich danach wieder ihrem Thriller zuwandte, so hätte ich sogleich meine Kamera gezückt, die fehlende Regung in ihren Augen festzuhalten. Sie war so anders, als Zoe es gewesen war. Und als dieser Gedanke mein Herz erreichte, wo auch immer es sich gerade befand, durchzog mich ein eiskalter Schmerz. Während die junge Frau über Körpermassen hinweg nahezu schamlos jeden Menschen mit Blicken durchbohrte, so hätte sich Zoe schüchtern abgewandt. Sie hätte sich die blond glänzenden Haare hinter ihre Elfenohren gestrichen und in eine andere Richtung gesehen, möglichst keinen meiner Blicke erwidert. Seit wir uns in eben dieser Tramlinie das erste Mal über den Weg gelaufen waren, war das auch nach vielen Jahren Ehe Zoes Art gewesen, mit mir zu flirten. Aufmerksamkeit hatte sie gehasst, selbst von mir. Und dennoch… die junge Frau mit den Rasterlocken und dem zerrissenen, pechschwarzen Mantel erinnerte mich an sie. Auf eine seltsame, schmerzhafte Art und Weise. Ich wusste nicht, was es war, doch irgendetwas zog mich zu ihr. Wie das auch bei Zoe der Fall gewesen war. Doch bevor ich mich weiter in düstere Gedanken verstricken, die starrende Frau mit meiner Zoe vergleichen und meinem Schmerz in einer nie enden wollenden Abwärtsspirale freien Lauf lassen konnte, unterbrach mich eine blecherne Stimme: „Alexanderplatz“. Schwungvoll glitten Türen auf, Sommerluft strömte zwischen schwitzende Leiber, die sich nun in Bewegung setzten. So auch die Frau in schwarz. Noch bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde auch ich in den sich bewegende Menschenfluss aufgenommen, kämpfte mich durch übelriechende Achselhöhlen, Parfuminseln und laute Musik durch die Tram. Verlor sie aus den Augen. Ich musste ihr nach, wollte Zoes Erinnerung noch ein Weilchen behalten, den emotionslosen Blick mit ihren weichen Augen vergleichen, meinem Schmerz vielleicht etwas Linderung verschaffen, sie auf einen Kaffee einladen und hoffen, sie würde dasselbe wählen, wie meine Frau es getan hatte. Vielleicht war es seltsam, aber ich wollte diese Fremde behalten. Nur eine kleine, kurze Weile noch. Doch die gelben Türen schlossen sich vor ihrem dunklen Wollmantel. Und vor meinen Augen. Ich kam zu spät. Stand noch in der Tram, während sie bereits vom Bahnsteig verschluckt wurde. Und wie immer, so war das Schicksal mein größter Feind. Frustriert schloss ich für einen Moment die Augen, doch wider Erwarten hatten sich ihr Blick nicht in mein Gedächtnis gebrannt. Nur ein leiser Schleier war mir von ihr geblieben. „Mehr, als mir Zoe hinterlassen hat“, dachte ich bitter. Ich öffnete meine Lider wieder, ließ warmes Licht meine Iris liebkosen. Zoe war fort. Und diese Frau war es auch. Ohne es zu merken, hatte ich mich zusammengekrümmt, eine Hand am Glasfenster der Bahntüre, die Andere um meinen Bauch geschlungen, als hätte ich Krämpfe. Mühselig richtete ich mich auf, atmete durch. Dann fiel mein Blick auf einen leeren Platz. Es war der, auf dem SIE gesessen hatte- auf dem niemand sonst Platz genommen hatte. Gab es doch nun, da dieser eine Knotenpunkt verlassen worden war, noch genug freie Sitze. Kraftlos hangelte ich mich von Stange zu Stange, strich den warmen Stoff entlang. Genau dort, wo eine kleine Kuhle erkennbar war, hatte ihre dunkle Jeans den Überzug berührt. Jetzt auch dort zu sitzen, die verbliebende Körperwärme durch meine gebügelten Stoffhosen dringen zu lassen, hatte beinahe etwas sakrales an sich. Ich legte die Hände rechts und links von meinem Schoß ab, als meine Finger etwas Kaltes berührten. Es war zwischen diesen Sitz und den meines Nachbarn gerutscht. Ein kleines, mit leichten Kratzern auf der Panzerglasfolie übersehenes iPhone 6. Vermutlich war es ihres, wessen sonst? Meine Finger zitterten auf der gleißenden Kälte des Touchbildschirmes. Vielleicht hatte es das Schicksal doch gut gemeint mit mir. Sah ich nur mein Handy an, so wusste ich, wie viel man über den Besitzer eines unbekannten Smartphones aussagen konnte. Während meines „alleinstehender Journalist mit Vorliebe für ABBA“ schrie, so schien ihres nur leise, unverständliche und verführende Worte zu wispern. Meine Finger schwebten auf dem An- Knopf. Ich musste es einfach wissen. Musste wissen, was für ein Mensch sie war, was sie zum Lachen und was zum Weinen brachte und was sie an ihre Kindheit erinnerte und was an ihre Träume. Der Bildschirm leuchtete auf. Beim Anblick des Sperrbildschirms wurde ich von einer Welle kaltheißer Gefühle erfasst, die ich nicht definieren konnte. Unglaube darüber, was sich meinen Augen bot, machte sich breit. Was ich sah, verschlug mir den Atem. Es war nicht das Telefon der jungen Frau im abgekämpften Mantel. Wer auch immer es im Spalt zwischen zwei Sitzen verloren hatte, schenkte mir einen der verblüffendsten Momente in meinem Leben. Zoe. Lebend und lachend und glücklich. Zoe. In den Armen einer jungen Frau, mit heller Haut und hellem Tshirt. Zoe. Wie sie sich lachend an sie schmiegte. Zoe. Mit diesem verlangenden Blick in ihren unschuldigen Augen. Zoe, wie sie diese Fremde, die breit grinsend die Kamera hielt, so verliebt anstarrte. Zoe. Die vor meinen Augen verschwamm.

Mein Kopf dröhnte, als mich raue Frauenhände aufrichteten. „Alles okay bei Ihnen?“, fragte die Unbekannte, deren Stimme noch androgyner klang als sich ihre Haut angefühlt hatte. Vor meinen Augen sah ich alles verschwommen, nicht einmal schemenhaft konnte ich ihre Gesichtszüge ausmachen. Verbissen nickte ich. „Mhmm. Sehr männlich von Ihnen, in Ohnmacht zu fallen und dann den Starken zu mimen.“, triefte sie vor Sarkasmus. Ich stöhnte. Männlich oder nicht, das Foto hatte mich schwer getroffen. In meinem Kopf tanzten nicht nur Sterne, sondern auch Zoe auf und ab. Meine Zoe, so verliebt in den Armen einer Anderen. Wann war dieses Bild entstanden? Vor, während, oder gar nach unserer Ehe? Ich war es gewesen, der sie fand, der sie begrub und der sie geliebt hatte. Sie immer noch liebte. War das nur eine Farce gewesen? War sie noch da draußen irgendwo, hatte ihren Sarg nur von außen gesehen? Wasser rann meine Kehle hinab. „Danke“, stöhnte ich und spürte, wie ich meine tonnenschwere Hand hob, um mir an die schmerzende Schläfe zu fassen. Ein leichtes Ruckeln verriet mir, dass wir noch immer in der fahrenden Bahn saßen, die soeben in die nächste Station einfuhr. Und mit dem Öffnen der Türe war auch die sanfte, raue Stimme meines unbekannten Samariters verschwunden. Und ich taumelte nach Hause.

Ohrenbetäubend laut fiel meine Wohnungstür ins Schloss. Ich zuckte zusammen. Fiel auf die Couch. Lichter tanzten, Zoe tanzte. Nur einmal hatte sie mir erlaubt, sie tanzen zu sehen. Ich hatte sie fotografiert, grazil hatte sie gelächelt, mit ihrem Blick knapp am Objektiv meiner Nikon vorbei. Genau dieses Bild hatte im schwarzen Rahmen neben ihrem Sarg gestanden. Der Herr habe sie von ihrem Leiden erlöst, hatte der Pfarrer geschwafelt. Ich, der es nicht ertragen konnte, mich neben ihre schluchzenden Eltern zu setzen, hatte hinten gestanden. Und geschnaubt. Dann war ich gegangen. „Ein toller Ehemann“, schien mir die ironische Stimme aus der Bahn ins Ohr zu flüstern. Ich wusste selbst nicht, warum mich dieses Handy so beunruhigte. War es dieser merkwürdige Zufall, dass gerade ich, der Witwer, dieses Handy in meine gierigen Finger bekommen hatte? Die Tatsache, dass ich viel weniger über meine Frau wusste, als ich gedacht hatte? Tausend Gedanken, die ich weder einordnen konnte, noch wollte, drehten sich schmerzend hin und her. Warum macht mich das so fertig? Sie ist vor einem Jahr gestorben. An Krebs. Sie hat ein einfaches, aber glückliches Leben geführt. Mit mir. Sie hatte Krebs. Sie ist gestorben. Mich hat sie geliebt, seit dem Studium. Schon zu Lebzeiten hatte sie mich gerne Dinge erraten lassen, sich zu einem Geheimnis gemacht. Das war unser Ding gewesen, doch jetzt schien es, als hätte ich sie nie gekannt. Ich drehte mich um, lag nun mit dem Gesicht zum gläsernen Couchtisch. Und dem glänzenden iPhone darauf. Hatte ich es denn eingesteckt? Ich erinnerte mich nicht mehr. Meine Finger zitterten, als sie sich ihren Weg zum An- Knopf bahnten. Mein Herz klopfte. Obwohl ich wusste, was mich erwartete, waren meine Nerven wie zum Zerreißen gespannt. Der Bildschirm blieb schwarz, nur das Ladesymbol brannte sich hell in meine Augäpfel. Erschöpft sackte ich zurück. Schloss die Augen. Und wachte erst wieder auf, als mich das Schrillen meines eigenen Telefons rüde aus meinen düsteren Träumen riss. Ich sei nicht zur Arbeit erschienen, warf mir mein Vorgesetzter vor. Ich bat um Entschuldigung, nahm mir einige Tage Urlaub und legte auf. Sollte er sich doch über mein Verhalten wundern, es war mir gleich. Sowieso war er schon einiges gewöhnt von mir. Doch jetzt hatte ich besseres zu tun, als an einem Artikel über rebellierende Hausbesetzer zu feilen. Denn ich musste mir ein Ladekabel suchen gehen.

Und während sich die kleine Batterie so langsam zu füllen begann, lief ich unruhig auf und ab. Schließlich konnte ich es nicht mehr abwarten, nahm es in meine verschwitzte Hand und aktivierte den Startbildschirm erneut. Breit grinsend starrten die beiden Fremden mich an. Denn auch Zoe war mir unbekannt geworden. In der Erwartung, einen Code vorzufinden, entsperrte ich das Telefon. Ohne Widerrede öffnete sich der Startbildschirm, auf dem mir dasselbe Bild rasende Kopfschmerzen bereitete. Nur eine Kachel zu sehen. „Fotos“. Seltsamerweise löste der Anblick in mir Unbehagen aus. Ich öffnete sie, es erschienen Ordner. „Zoe und ich“, „Zoe und Christian“ und „Zoe“. Meine Verwunderung stieg mit jeder Sekunde. Ebenso, wie meine Neugierde. Was sollte das? Wer besaß ein solches Handy? Sollte ich es bekommen? Oder war das nur ein kranker, absurder Zufall? Doch je mehr Fragen ich mir selbst zu stellen versuchte, umso verzweifelter wurde ich, kannte doch am allerwenigsten ich die Hintergründe. Wie eine Marionette wurde ich nur gesteuert von den verhedderten Fäden meines Gefühlschaos. Mit zitternden Fingern öffnete ich „Zoe und ich“. Sah gemeinsame Urlaubsfotos, Pärchenbilder. Nicht von Zoe und mir, nein. Von Zoe und der Sperrbildschirm- Frau, wie sie sie frech anblitzte, auf die vollen, roten Lippen küsste, im Arm hielt. Und das alles vor Orten, an denen auch ich mit ihr gewesen war. „Das sind Geschäftsreisen. Du kannst da nicht mitkommen.“ Von wegen. Immer war ich doch mit, hatte ihr nachfliegen müssen. Sie wollte mich, doch ihre Arbeit nicht. Das hatte ich mir immer gesagt. Doch es schien, als hätte sie auch mich nie gewollt. Ihre Blicke waren so voller Liebe und Leidenschaft, wie ich es nie zuvor bei ihr gesehen hatte. In keinem verdammten Moment hatte sie mich so angesehen wie diese geisterhaft bleiche Frau. Wie Schneewittchen sah sie aus, mit ihren schwarzen Haaren. „Wie Ebenholz“, fuhr es mir durch den Kopf. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Und öffnete den zweiten Ordner. Meinen Ordner. „Zoe und Christian“. Serienaufnahmen, die ich so schnell durchging, dass die Szenarien, die sich mir boten, wie ein Stop-Motion Film wirkten. Ich, mit meiner Kamera in der Innenstadt. Fotografierte Zoe. Zoe, die auf mich zukam. Wütend. Riss die Nikon aus meinen Händen. Ich, der meiner Frau nachstellte wie ein Verrückter. Bilder von Zoe, auf denen ich im Hintergrund zu sehen war. Bilder von mir, wie ich Zoe hinterherlief und sie mir keines Blickes würdigte. Ich erinnerte mich doch an diese Tage! Zoe trug das Kleid in der Farbe ihrer Augen, das ich so sehr liebte an ihr. Wir teilten uns ein Eis, lachten. Auf den Bildern saß Zoe allein, ich hinter ihr. Lachte. Allein. Ich ging Datum für Datum durch, Ereignis um Ereignis. Ich kam ihr immer näher, lachte immer verstörender, schien Selbstgespräche zu führen. Sie wandte sich immer weiter ab, wirkte verwirrt, ängstlich. War teilweise nur noch in bunten Schlieren zu erkennen, so schnell war sie wohl gerannt. Ich erkannte mich selbst nicht wieder, wirkte wie die Karikatur eines Verrückten. Die Augen aufgerissen, mein Mund ständig zu einem breiten Grinsen verzogen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Immer schneller spulte ich jeden noch so kleinen Moment mit ihr durch. Und irgendwann, da war ich an einem Punkt angekommen, an dem ich alles in Frage stellen musste. Von jetzt an zeigten die Fotografien Zoe nie mehr auf offener Straße. Durch die Fenster meiner Wohnung waren sie aufgenommen worden, verspiegelt und unscharf. Doch ich erkannte genug. Ich sah Zoe, kochend am Herd. Ich sah Zoe, vor dem Fernseher. Ich sah Zoe, nackt auf unserem Bett liegend. Und eine Flut der Erinnerungen stürzte auf mich ein. Zoe, kochend am Herd. Mit dem Handgelenk an eine Küchenschublade gefesselt. Zoe, vor dem Fernseher. Das flimmernde Licht betonte die Tränenflüsse, die über ihre verzweifelt- verzerrten Gesichtszüge rannen. Zoe, deren nackter Köper bebte vor Angst. Nein! Das konnte nicht sein! So war das nicht! Zoe kochte gern, sie mochte viel Knoblauch im Essen. Zoe sah sich gerne Sitcoms an. Zoe fand sich nackt nicht schön, daher hatte ich Aktbilder von ihr gemacht, sie ihr gezeigt und lächelnd gesagt: „Siehst du, du siehst schön aus. Bilder lügen nicht.“ Bilder lügen nicht. Und als ich nun die Augen schloss, da sah ich keine lebensfrohe, glückliche und verliebte Zoe. Ich sah eine Zoe, die mich aus ihren großen Augen flehend anstarrte, die sich die schmerzenden Handgelenke rieb, die nächtelang weinte. Doch das war unmöglich. Das war unmöglich! Was stimmte bei mir nicht? Hatte ich jahrelang in einer Scheinwelt gelebt, eine unschuldige Frau gestalkt? Hatte ich sie in Angst und Schrecken versetzt, sie entführt? Hatte ich sie belästigt, angefasst? Gott, hatte ich sie vergewaltigt? Nein. Nein, das konnte doch nicht sein. Niemals, niemals wäre ich zu so etwas imstande. „Bitte, Chris“, flüsterte mir Zoe zu. Tränenerstickt. Ich konnte kaum atmen. Mein Kopf dröhnte. Mein Trommelfell pfiff. Meine Glieder schmerzten. Mein Körper krümmte sich zusammen. Schlug auf. Wie im Mutterleib blieb ich so liegen, stundenlang. Und wie ich mich dann so aufrappelte, mit rasselnder Lunge, dröhnendem Kopf, pfeifendem Trommelfell und schmerzenden Gliedern, so fasste ich einen Entschluss. Und lies den Deckel meiner Mülltonne über jenem verhängnisvollen Handy zukrachen. Dann schleppte ich mich ins Schlafzimmer, wurde empfangen von wohliger Dunkelheit. Doch auch hier fand ich keine Ruhe. Denn ein lautes, ohrenbetäubendes „Pling!“ riss mich zurück in mein Elend. In der Erwartung, es sei mein altes Nokia, drehte ich mich stöhnend zum Nachttisch. Ich fühlte die kalte Oberfläche, stellte es an. Und Zoe, zusammen mit der Sperrbildschirm- Frau trafen mich wie ein Schlag ins Gesicht. Es war das iPhone 6, mit etwas mehr Kratzern, aber so lebendig vor mir, wie es ein technisches Gerät sein konnte. Wie konnte das sein? Hatte ich es wieder aus der Tonne gefischt? Aber wenn, warum konnte ich mich nicht daran erinnern? Der nächste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war der eines Einbruchs. Doch den hätte ich bestimmt bemerkt. Oder? Die Absurdität dieser Situation wurde nur durch die Nachricht, die auf dem Banner prangte, verschärft. Ich richtete mich auf, ungeachtet dessen, dass diese Situation mich hätte erschrecken sollen und sich um mich herum immer noch alles drehte. „Hallo Chris. Zweifelst du schon?“, fragte mich die unterdrückte Nummer gehässig. Und wie ich zweifelte. „Wer ist da?“, schrieb ich. Und hätte am liebsten noch tausend weitere Fragen folgen lassen. „Unwichtig. Wichtig ist nur, was du „deiner Frau“ angetan hast. Und dafür wirst du bezahlen.“ Ich schloss die Augen. „Deiner Frau“ in Anführungsstrichen bestätigte nur immer und immer weiter meine Vermutung. Doch ich musste sichergehen. Ich stieg aus meinem Bett, ließ das helle Licht der LED- Lampe meine Augäpfel verbrennen und griff unter mein Bett, fand meine kleine Kistensammlung. Dort, wo ich Andenken aufbewahrt hielt. Da es nichts gab, das ein Solches wert gewesen wäre, bevor ich meine Frau- meine Frau?- kennengelernt hatte, war es die „Zoe- Kiste“, nach der ich suchen wollte. Neben fünf weiteren, deren Bedeutung ich schon vergessen hatte, fand ich sie. Öffnete den braunen Pappdeckel. Eine Locke von ihr, Abzüge der Aktbilder, die wir einst lächelnd angestarrt hatten. Zoes reine, weiche, nackte Haut verunstaltet durch Fesselspuren und Tränenbäche. Unsere Heiratsurkunde. Gekritzel, von mir. Mit Filzstift. Auf einer Serviette. Und das dünne Papier, das das Dokument unserer Liebe hätte sein sollen, entglitt meinen Fingern. Und während ich es beobachtete, wie es federartig zu Boden fiel, so wusste ich: Ich war nie wirklich verheiratet gewesen mit Zoe. Ich war ein kranker, kaputter Mann. Diese Erkenntnis traf mich nicht so sehr, wie es so manches Foto getan hatte. Im Gegenteil schien sie eher zu bestärken, was ich schon gewusst hatte. Mein Puls beruhigte sich, ich musste sogar ein Lächeln unterdrücken. Das einzige, das sich mir noch nicht erschloss, war, wer sich hinter der unterdrückten Nummer verbarg. Das, sowie der Wunsch, herauszufinden, wer Zoe wirklich gewesen war. Und da ich irgendetwas tun musste, um mich von der Tatsache abzulenken, vielleicht ein gestörtes Individuum zu sein, rief ich einen alten Freund an. „Yoo, Chris?“ Saschas Fröhlichkeit war wie Musik in meinen Ohren. „Hey, du. Wie geht`s?“ „Das übliche, Man. Nur die Kunden werden unfreundlicher. Brauchst du was? Ne Info?“ „Ja.“ „Womit kann ich dem Herren Journalisten denn dienen?“ Ich räusperte mich. Stotterte etwas. „Dieses Mal musst du nicht Informant spielen. Es geht mehr um deine…anderen Fähigkeiten. Ist was privates.“ „Interessant.“, kam nur sarkastisch zurück. „Könntest du herausfinden, wer sich hinter einer unterdrückten Rufnummer verbirgt?“ „Aber klar kann ich das. Sonst noch was?“. Ich seufzte tief. Fragte ihn dann nach Informationen über „Zoe Schmid“ (ihr Mädchenname), nannte ihm ihre ehemalige Adresse, ihre Sozialversicherungsnummer und alles, was ich sonst noch wusste von ihr. „Okay, mach ich. Dauert aber bisschen.“ Und mit einem „See you later, Alligator“ war er aus der Leitung verschwunden. Und mein Lächeln wurde breiter. Es war so schön, Menschen, gegen die man etwas in der Hand hatte, dazu zu bringen, Gefallen einzulösen. Doch als mir Sascha einige Stunden später einen dicken Umschlag in den Briefkasten warf, war meine Heiterkeit verflogen. In einer Notiz erklärte er mir, „rein gar nichts“ über die unterdrückte Nummer herausgefunden zu haben, was „echt strange“ wäre. Dafür fand ich einige kopierte Akten zu Zoe. Die ihren Nachnamen nur einmal geändert hatte. Doch nicht sie und ich teilten ihn uns. Sie und Helena. Deren Name in meinen Ohren schon wie ein Schimpfwort klang. Hätte ich ihn laut aussprechen müssen, so hätte ich ihn nur so ausgespien. Ich begutachtete das Dokument zur „Lebenspartnerschaft“. Ich sah mir Helenas Führerschein an. Das Bild darauf, das Sascha mir vergrößert hatte. Mit Haut, so weiß wie Schnee. Haaren, so schwarz wie Ebenholz. Und Lippen, so rot wie Blut. Ich starrte in das Gesicht der Sperrbildschirm- Frau. Der Frau, die Zoe wohl als einzige wahrhaft geliebt hatte. Heftig schluckend zwang ich mich, auch alles andere durchzulesen. Die meisten Kopien davon waren nun doch recht nutzlos, wusste ich doch schon alles über meine Frau. Doch einige wenige Kopien erregten meine Aufmerksamkeit. Eine Anzeige wegen Stalkings gegen einen Christian Lenz. Gegen mich. Eine einstweilige Verfügung. Zwei. Drei. Und ihr Autopsiebericht. Autopsie? Ihre Todesursache. Mein Trommelfell pfiff erneut. Und ich erbrach mein hastig zubereitetes Frühstück im Ausguss. Rizin? Im selben Moment, als diese Worte meine Gehirnwindungen erreicht hatten, war mein Blick auf die Pflanze gefallen, die sich seelenruhig gegen das Fenster lehnte. Der „Wunderbaum“. „Ist eigentlich keine Zimmerpflanze. Aber das Wilde zu zähmen mochte ich schon immer.“, hatte ich Zoe mal erklärt. Die Ruhe, die mich zuvor hatte lachen lassen, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Ich schwitze, rieb meine nassen Fingern an der Stoffhose, die ich immer noch trug. Schwitze stärker. Zitterte. Am ganzen Körper. Jetzt musste ich es wissen. Und öffnete den letzten Ordner des iPhones. Öffnete „Zoe“. Sah sie. Ich wusste, diese Fotografien waren kurz vor ihrem Tod entstanden. Durch die Chemotherapie hatte ich ihr die Haare scheren müssen, sie dann zu uns nach Hause genommen. Im Krankenhaus oder Hospiz zu sterben war nicht das, was sie sich gewünscht hatte. Oder war das nur etwas gewesen, das ich mir gewünscht hatte? Ich hielt inne. Spürte Galle in mir hochsteigen. Rannte zum Waschbecken. Übergab mich. Einmal, Zweimal, dreimal. Auch, als sich mein Magen leer anfühlte, wollte ich noch brechen. Diese Bilder…sie waren nicht vor, sondern nach ihrem Tod entstanden. Auf jedem Bild war die Leiche meiner Frau zu sehen, wie Tatortfotografien war jedes Detail ihres Körpers abgelichtet worden. Starr offene Augen, Medikamente um sie herum. Zoe, in ihrem Lieblingskleid in der Farbe ihrer Augen. Wir hatten es ihr angezogen, sie wolle nicht im Krankhauskittel sterben hatte sie gesagt. Das Krankenbett, das ich extra bestellt hatte. Eine leere Spritze auf dem Boden. Und dann…ihre Hand- und Fußgelenke. Bläuliche Fesselspuren, verkrampfte Gliedmaßen. Das hatte nichts von der lieblich im Schlaf sterbenden Frau, die ich im Gedächtnis behalten hatte. Ich starrte auf die Male. Mein Trommelfell vibrierte, pfiff. Und dumpf hörte ich uns streiten. „Mach mich los!“ „Du verletzt dich selbst!“ „Bitte, ich kann mich kaum bewegen.“ „Ich kann nicht, Du versuchst nur wieder, zu laufen. Du bist zu schwach dafür“ „Bitte…Chris? Mach mich los.“ „Nein!“. Nein. Das war doch nicht so passiert. Ich hatte sie doch nie fixieren müssen. Sie war freiwillig liegen geblieben, weil es das beste war, für sie. „Chris, bitte. Ich muss auf die Toilette.“ „Du warst doch schon.“ „Ich…ich muss nochmal.“ „Du kannst aber nicht, ich habe dich doch so schön festgebunden.“ „Bitte.“ Tränenglänzende Augen. Urin, der an ihrem Bein entlanglief. Nein. So war das doch nicht gewesen! „Bitte, Chris“, wisperte Zoe. Und mir wurde abermals schlecht. Was hatte ich meiner Frau angetan? Ich war doch ein guter Mensch, ein liebevoller Ehemann, ein passabler Journalist. Das konnte nicht sein, nicht ich. Diese Erinnerungen mussten falsch sein! Irgendein Trigger hatte mich dazu gebracht, mir absurde Situationen zusammenzureimen. Anderes war doch nicht möglich! Oder etwa doch? Doch ich konnte nicht anders, ich konnte diese Bilder nicht verdrängen. Irgendetwas war passiert, von dem ich nichts wusste. Irgendetwas hatte ich verdrängt, vergessen müssen- vergessen wollen? Immer wieder schob ich Zoes tränennasses Gesicht, den lässig lehnenden Wunderbaum und die verkrampften Gliedmaßen der Frau, die ich liebte, aus der letzten Ecke meiner Gehirnwindungen. Und immer wieder kam sie zurück. Immer wieder. Und immer stärker pfiff mein Trommelfell, immer häufiger brach ich nur noch Speichel im Ausguss, immer stärker schmerzte mein Magen, mein Herz. Jedes Organ, jeder Knochen, jede Faser meines Körpers wurde durchzogen von eiskaltem Schmerz. „Bitte, Chris“, flehte Zoe. „Nein!“, hörte ich mich ohrenbetäubend laut schreien. Und sah mich. Seelenruhig pfeifend einen Samen der Ricinus communis, die ihren Platz lässig auf dem Fensterbrett eingenommen hatte, pflückend. Ihren Saft in eine Spritze füllend. „Bitte, Chris.“, hatte Zoe gewispert. Schwach hatte sie sich in den Schlaf weinen wollen, als ich das Zimmer betreten hatte. „Shh. Das ist nur deine Medizin. Danach geht es dir besser.“, hatte ich ihr erklärt. Und immer noch summend, mit ruhiger Hand eine Spritze injiziert. „Nein!“, schrie ich erneut. Ließ Katzen und Nachbarn aufschrecken. Ich hatte meine Frau umgebracht. Doch, so wurde mir in diesem Moment klar, nicht nur physisch. Sie war weg, tot. Ich konnte sie nie wirklich greifen. Hatte sie schon in dem Moment verloren, als sie das erste Mal meinen Blicken ausgewichen war. Sie hatte mich nie wirklich geliebt. Und ich? Ich hatte gerade damit aufgehört.

Als ich am nächsten Morgen mit der Tram zur Arbeit fuhr, genoss ich die Sonne auf meiner Haut. Fröhlich pfeifend wehte mir der warme Sommerwind meine Haare in die Augen. Ich muss unbedingt zum Friseur, schoss es mir durch den Kopf, als sich die Türen der Bahn hinter mir schlossen. Und da sah ich sie wieder. Einen neuen Thriller lesend, mit demselben Wollmantel auf demselben Platz. Unwillkürlich musste ich lächeln. Fuhr mir durch die zerzausten Haare. Die letzten Tage waren verwirrend gewesen, absurd. Doch schon allein, als mich ihre eiskalten Augen berechnend musterten, war der Schmerz in mir verschwunden. Ich starrte zurück. Und meinte, ihre Augen zurücklächeln zu sehen. Oh, sie war so viel besser, als es Zoe je gewesen war. Ich sollte sie wirklich auf einen Kaffee einladen. Oder ein Eis. Und während ich alles um mich herum vergaß, so schlossen sich, einige Meter entfernt von mir, zornige, schneeweiße Finger um ein brandneues iPhone 7. Glatt und weich lag es in den rauen, androgynen Händen, als ein neuer Ordner angelegt wurde. „Du wirst bezahlen“, zischten volle Lippen. Doch ich hörte die leise, raue Stimme nicht. Wusste nicht, dass das nur der Anfang gewesen war.

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