Dr. FaustBlumen für Peter

„Wissen Sie – meine Frau traut Ihnen nicht.“ Peter Grubers Vermieter sieht ihn mit Augen an, die Misstrauen versprühen. Peter weiß darauf keine Antwort. Er traut sich.

„Nein?“ Sein Ton trifft irgendwo in die Wüste zwischen Smalltalk und Ernst.

„Nein.“ Die Stille zwischen ihnen nährt das Unbehagen des anderen Mannes. Peter macht das keine Angst. Hinter dem Rücken faltet er die Hände, spürt das leichte Ziehen um seinen Mund, das ihm Kontrolle anzeigt und wird zu einem überlegenen Mann – nur steht er heute in dem undekorierten Flur eines Mehrparteienhauses.

„Wollen Sie das Geld für die Miete haben?“, fragt er, denn darauf kommt es an. Traut dieser Kerl, seine Frau, sein Hund, wer auch immer die Entscheidungen traf, ihm genug für ein Geschäftsverhältnis oder nicht. Mehr geht sie beide nicht an. Peter hebt den Umschlag – mit Kuli hat er „Miete“ darauf gekritzelt. Sein Mund bleibt streng, sonst hält er sein Gesicht in Ruhe.

„Nun.“ Der Mann hustet Schleim gewordenen Rauch. Seine Augen laufen bar jeder Kontrolle – er blickt zum Umschlag, zu Peter, zum Umschlag, zu Peter, seine adrige Hand nimmt den Umschlag. „Aber lassen Sie die Wohnung sauber.“ Der Umschlag schwenkt in engem Radius unter seiner Hand.

„Ich bin sauber“, sagt Peter, obwohl er es nicht muss. Die Wohnungstür ist beinahe geschlossen, da traut sich der Vermieter.

„Und besorgen Sie sich ein Konto.“ Sein Kopf ragt durch den Spalt. „Oder ziehen Sie nach Griechenland.“ Peter antwortet ihm mit keiner Regung – er wird sich kein Konto besorgen und aus.

Die Nase voran zieht er an dem Schimmelfleck vorbei, der seine Wohnungstür patroulliert. Seit vier Wochen nährt er sich, während Peter seine Gefühle sucht. Stetig kriechen neue Tupfen aus dem Rand. Neid flammt auf, ehe er in seine Wohnung schlüpft. Zuvor, das hat er sich angewöhnt, blickt er zurück in den Flur. Sobald er drinnen ist, schließt er ab, seine Schritte leiten ihn zum Fenster, Gardinen auf, Gardinen zu. Ein Blick auf die Uhr – er macht sich Essen, verspeist es vor dem Fernseher. Mit jedem Bissen stellt er die Lautstärke eine Stufe niedriger. Dann wäscht er sich und geht schlafen. Vier Wochen – vielleicht ist er sicher.

 

Die Morgen verbringt Peter mit seinem Tagebuch, Kaffee und Müsli. Diese Angewohnheit ist älter als vier Wochen, sie fühlt sich an wie eine Linde, die nächstes Jahr 100 Jahre alt wird und die ganze Nachbarschaft wird Kuchen backen. Peter wäre gerne ein Mensch, der auf Straßenfeste geht. Vielleicht nach acht Wochen. Sein Tagebuch ist rissig am Rücken und schwer. Nie schüttet er Kaffee darauf. Peter streichelt eine Seite, dann legt er es weg und trinkt den ersten Schluck. Langsam wird er wach, dann riecht er an seinem Müsli, bevor er es isst. Was. Der Löffel macht Klonk, als er den Boden berührt. Erst die Laffe, dann der Stiel. Klonk klonk, lang dann kurz. Wie sein Herz. Peters Körpertemperatur fällt um mehrere Grad, gefriert ihn. Vates. Seine Ratio kämpft, überredet seinen Hals zur Bewegung. Sein Kopf schwebt nach links, seine Augen reichen noch zwei Meter weiter. Nichts. Nach rechts, in seinem hässlichen Wohnzimmer ist niemand außer Peter. Die gewohnten leeren Bücherregale, die IKEA-Tischchen, ein eingesessenes Sofa und ein Strauß bunter Blumen. Lila Gerbera. Drei Meter vor Peter zwischen Boden und Platte des Schreibtischs steht eine metallene Vase mit Peters Lieblingsblumen. Vates. Vat ist in seiner Wohnung gewesen. Zentimeter für Zentimeter bückt Peter sich zu seinem Löffel. Während er geschlafen hat. Keinen Millimeter rückt sein Blick von den Blumen ab. Sein Herz kräht, Gedanken erhitzen seine Stirn, bis eine Schweißperle in Peters Augenbrauen landet. Hat Vat seinem Schlaf zugesehen? Ihn berührt? Peter zieht seine Beine auf die Sofafläche und umarmt sich selbst. Ohne Tränen, nur mit Zuckungen weint er. Vat drängt in jeden Teil seines Bewusstseins und verbreitet Liebe und Angst. Das Gesicht in Krämpfen steht Peter auf. Er will die Blumen weniger anfassen als sie loswerden, also belässt er sie. Stattdessen blättert er sein Tagebuch auf und sucht die Nummer von Frau Schmidt-Lümmelhaus heraus. Ohne zweite Überlegungen wählt er und wartet.

„Martina Schmidt-Lummerhaus – hallo?“

„Hier spricht Peter Gruber. Sie hatten vergangenen Monat Kontakt zu mir aufgenommen.“

„Herr Gruber! Haben Sie es sich überlegt? Sind Sie zu einem Treffen bereit?“ Die Frage schießt wie die weiße Kugel zu Beginn eines Billardspiels auf Peters Sicherheit zu und stößt sie in 15 Richtungen, sein Kopf tobt. „Herr Gruber? Wir können gleich einen Termin ausmachen.“ Die Kugeln stoben, treiben die schwarze Kugel auf ein Loch zu – sie rollt sich an dessen Rand aus.

„Ich kann heute Nachmittag in die Redaktion kommen.“ Die schwarze Kugel wackelt, Peters Kreislauf knistert.

 

Ein beruhigend unsympathischer Mann dreht seine Zahnreihen von Peter weg, wird zu einem gut gelaunten Mann und spricht eine Willkommensfloskel. Die besser gelaunte Frau neben ihm geht unspontan spontan auf ihn ein. Peter schwitzt, was tut er hier.

„Das ist besser als bei mir zuhause.“ Beide lachen herzlich. „Jetzt kommen wir zu zwei Gästen, die es in sich haben. Martina Schmidt-Lummerhaus untersucht nun schon seit zwei Jahren die Sekte um den selbsternannten Guru Vates. Im Sommer wird ihr Buch Einbruch Ausbruch erscheinen, in dem unser zweiter Gast eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Peter Gruber war fünf Jahre Mitglied der Sekte, war als solches persönlich bekannt mit dem Guru“, Peter verbessert sie in seinem Kopf – Prophet – wird es aber nicht aussprechen, „und hat es schließlich geschafft, sich zu befreien und auszubrechen. Willkommen.“ Die Kamera würde nun auf sein Gesicht schwenken und dann alle vier die ganze Zeit über zeigen. Peters Hemdkragen drückt, er ist nicht zu eng. Peter weiß das und faltet die Hände in seinem Schoß. In Starre kommt er zu Ruhe. Die Entscheidung ist getroffen. Er bedankt sich. Martina bedankt sich ebenfalls. „Frau Schmidt-Lummerhaus, wie sind Sie auf die Vates-Sekte gestoßen und haben vielleicht auch Angst, die Geschehnisse der Sekte an die Öffentlichkeit zu bringen?“ Peter sieht zu den Studiogästen. Manche starren ihn an, haben vielleicht Angst vor ihm, aber das beleidigt ihn nicht. Es schreckt ihn nicht. Stattdessen genießt er das Rauschen in seinen Ohren und erst als eine Frage ihn persönlich anzielt, kommt er im Studio an.

„Die Sekte?“ Es widerstrebt ihm, das Wort zu benutzen. Aber das Wort ist richtig. „Man kann sagen, es gibt drei Ebenen.“ Er verwendet für das Folgende viele Finger-Anführungszeichen, ein Tipp von Martina. „Es gibt Ungetaufte, das sind die Neuen. Sie können aufsteigen, wenn sie zur Erkenntnis gelangen. Dann werden sie von Gott getestet.“

„Von Gott?“

„Er spricht über eine Spalte zu den Menschen.“ Er zwingt sich zu einem Lachen, es bricht sein Herz. Wie erwartet fragt die Moderatorin belustigt nach. „Aus der Erdspalte dringen Gase, die nur vom Propheten gedeutet werden können.“

„Die Gase sind das Wort Gottes?“ Es klingt so dumm aus ihrem Mund. Peter nickt. „Und der Prophet?“ Nun sagt er es doch.

„Der Prophet ist Vates – Sie haben Guru gesagt. Er bezeichnet sich aber als Prophet.“

„Und die dritte Ebene?“

„Das sind die Jünger.“ Martina hat viel gelesen, mit vielen Menschen gesprochen, ihr Wissen will an die Luft.

„Das ist die bedeutend kleinste Gruppe im Camp.“ Sie sieht kurz zu Peter, weil sie ihm das Wort nimmt. Er lässt sie, sein Körper ist voller Adrenalin. Vat wird das hier sehen. Er wird von dem Buch erfahren, das Martina schreibt. Peter kann nicht voraussagen, wie der Prophet reagieren wird, aber Befürchtungen rufen ihn. „Die Ungetauften“, Martina macht Anführungszeichen, „denken, sie können zu Jüngern aufsteigen. Aber fast alle Mitglieder der Sekte sind Ungetaufte. Sie müssen arbeiten und sich an viele Regeln halten. Ihr komplettes Leben wird bestimmt durch den Propheten.“ Die Moderatoren fixieren Peter, er soll es bestätigen.

„Die Jünger kontrollieren das – sie sind die persönliche Polizei von Vates“, sagt er und er sucht das Publikum ab, als würde der Prophet dort sitzen. Er erkennt niemanden.

„Welche Rolle haben Sie in der Sekte eingenommen?“ Er wird freundlich angelächelt, aber sie finden ihn komisch. Peter kann sich das denken.

„Ich war Ungetaufter. Deshalb bin ich schließlich geflohen.“ Die Lüge brennt wie Säure.

„Wie konnten Sie persönlichen Kontakt mit dem Propheten haben als Ungetaufter?“ Die Neugier des Moderators wirkt nicht gespielt, aber diese Frage wird Peter nicht beantworten.

„Tja, das müssen Sie wohl in meinem Buch nachlesen. Gemeinsam mit den illegalen Geheimnissen der Vates-Sekte. August 2020.“ Martina liebt die Kamera, sie grinst und macht alberne Gesten. Das Publikum ist erheitert, die Moderatoren auch. Peter zwingt seine Mundwinkel hoch. Vates wird den Inhalt des Buches ahnen. Nun weiß er auch, was Peter draußen anstellt. Peter hat Martina nicht die Wahrheit erzählt, sie kennt Grenzen auswendig – sie weiß, was er zu erzählen bereit ist. Peter ist froh um den Wahrheitssplitter, den er ihr geschenkt hat. Er denkt an Vat – an seinen nackten Körper, den nur Peter berühren durfte. Wärme strömt in sein Gesicht und zu Peters Ärger auch in seine Mitte. Er will nicht an Vat denken – er versucht Worte für die Haare der Moderatorin zu finden. Glanz, Einheit, Plastik, Stroh und Ästhetik. Endlich ist das Interview vorbei. Als er nach Hause geht, fühlt er sich frei – und in Angst gekettet.

Der nächste Morgen ist Peters erste Ausnahme seit er sich erinnert – er bleibt liegen. Etwas wie Stolz bläht seine Brust und Trauer zieht an seinen Lidern. Das Gespräch im Frühstücksfernsehen hat Vat unwiderruflich in seinem Kopf eingepflanzt. Peter fühlt sich zu schwach, das zu ändern. Er erwacht mit steifem Glied und kraftlosen Armen, er liegt auf dem Bauch und reibt sich an der Matratze. Er merkt, was er tut – eben ist die Matratze noch Vat gewesen – und hört auf, obwohl er weitermachen will. Die Gerbera sind von Vat. Ein Friedensangebot. Sein Wunsch, Peter möge zurückkehren. Vats Liebe zu Peter lebt und macht Peter zum unglücklichsten Mann der Welt. Bevor er sich dem Tag ergibt, lässt Peter Gedanken zu. Gründlich vertriebene Gedanken dürfen nun hinein.

Vates steht vor ihm – ein Jünger hat Peter zu ihm gebracht. Vates Güte ist so groß, dass sie durch seine Haut schimmert und Peter berührt. Er streichelt seinen Kopf und Peter fühlt nur Liebe. Er kann die Ehre nicht tragen, also sacken seine Knie ein. Vates beendet den Kontakt dennoch nicht und mit jeder Sekunde wird Peter heiliger. Peter darf immer wieder kommen und die beiden werden ein Paar. Peter darf ihn Vat nennen, er liebt ihn und Vat ist so gut zu ihm. Er hat von niemandem gehört, der Vats Haut immerzu berühren durfte und für Peter gibt es bald keine Regeln mehr. Vat entzieht sich ihm nie. Sie vertrauen einander.

Das ist das Problem gewesen, denkt Peter und würgt, als ihm der bittere Geschmack seines Munds bewusst wird. Er steht auf, ignoriert dabei den Penis, dem Peters Gefühlschaos egal ist, und verlässt sein Schlafzimmer. Zähneputzen erscheint ihm wie ein hartes Los – bis er den Blumenstrauß sieht. Er steht noch unter seinem Schreibtisch. Und was liegt daneben? Peter ist sicher, dass dort gestern noch kein schwarzes Einmalhandy gelegen hat. Wer auch immer es dort platziert hat – Vates steckt dahinter. Erst jetzt senkt sich Peters Himmel hinab. Vates kann jederzeit in seine Wohnung kommen. Er kann ihn jederzeit töten. Lassen. Dass es nicht geschehen ist, lässt Peter das Handy aufheben. Dort sind Fotos gespeichert. Atem kitzelt in seinem Hals. In der Sekte sind Handys verboten, niemand macht Fotos. Und doch sind die Fotos unverkennbar im Camp aufgenommen. Peter sieht sich selbst. Das Handy fällt auf die Platte seines Schreibtischs, als seine Muskelkraft nachgibt. Auf dem Foto ist Peter, eine Hand liegt in Vats. Vat ist halbnackt, Peter sieht die Knochenstränge an seine Oberkörper. Er hat sie oft geküsst. Vats Haut kennt die Sonne nicht, seine Haare keinen Friseur. Seine heilige Aura wirkt selbst durch das Foto auf Peter. Er zwingt seine Augen, sich selbst anzusehen. Peter trägt die festen Stiefel mit den Stahlkappen. Unter seinem Fuß ist der Kopf eines Ungetauften. Peter steht mit seinem halben Gewicht auf ihm, Peter erinnert sich an das Gefühl. Der Ungetaufte hat halb so viele Rüben geerntet wie jeder andere Feldarbeiter. Und Peter hat ihn dafür bestraft. Der Ungetaufte ist nackt, nun kann Peter ihn wirklich sehen. Blutergüsse, Dreck, Knochen – es geht ihm nicht gut. Der Peter auf dem Bild sieht das nicht. Auf dem nächsten Bild tritt Peter in seinen Bauch und wie es weitergeht, weiß er – also schaltet er das Handy aus. Die Nachricht ist deutlich – Vates kann seine Geschichte zerstören. Und seine Person.

In der nächsten Woche kann niemand Peter erreichen. Sein Vater, Martina, sogar sein Vermieter klopft – doch Peter öffnet niemandem. Er geht nicht ans Telefon – er versucht, nicht zu sein. Seine Vergangenheit ist sein einziger Gast – und Peter hasst, dass sie in hübschem Kleid vor ihm steht. Er sieht sie und kann sich nichts Schöneres ausmalen. Mit ihr war er ein anderer Mann, ein stärkerer, ein göttlicher. Dann fällt ihm Mal ums Mal ein, dass alles nur Lüge ist und mit jeder Wiederholung sinkt sein Wille. Irgendwann macht er sich ein Knäckebrot – es ist die aufwändigste Mahlzeit der Woche. Er bestreicht es mit Butter und salzt. Bei dem ersten Bissen riecht er schon, was geschehen wird. Er schafft es noch zum Sofa, ehe er einschlummert.

Als er wieder zu sich kommt, ist ihm schlecht. Als es ihm besser geht, ist er verwirrt. Als wüsste er, was ihm bevorsteht, sieht er unter seinen Schreibtisch. Die Gerbera sind fort – stattdessen stehen dort weiße Rosen, durchwebt von Dekoration. Der Trauerstrauß fordert ihn heraus. Peter spürt die Droge noch in seinen Zellen und fühlt sich nicht mehr hilflos. Seine Gefühle werden stärker – die Betäubung lässt nach. Der Anführer einer Sekte, ein verlassener Geliebter kann in seine Wohnung eindringen, wann immer er will, kann ihn betäuben, wenn er will und sagt ihm nun seinen Tod voraus. Die Aussichtslosigkeit nährt Peter und er stemmt sich von dem Sofa. Was er tun muss, ist eindeutig. Vates lässt ihn nicht leben – Peter schließt Frieden. Bis die Drogen seinen Körper verlassen, wartet er noch ab. Er überlegt, Martina anzurufen und ihr alles zu erzählen, nur für den Fall, dass Vat ihn tötet. Aber er will weiterleben – nach dem, was er tun wird, verdient er es. Also schärft Peter sein Tranchiermesser, mietet ein Hotelzimmer, bringt eine Tasche dorthin, lässt sein Handy zurück und geht endlich den Weg, der ihn fünf Wochen lang gejagt hat.

Die Wiese, die das Grundstück von Vates lostritt, ist Peter bekannt. Natürlich braucht es keinen Zaun. Ein Cocktail aus Liebe und Gottesfurcht – ein Angstrand am Glas – bannt Ungetaufte und Jünger sowieso. Was hat Vates wohl zu den anderen über Peter gesagt? Er hofft, dass Vat ihn noch liebt. Wenn er ihn wieder aufnehmen will, hat er eine Chance. Das lange Messer steckt in dem Bund seiner Jeans, es drückt gegen Peters Po. An die Wiese reihen sich Felder, auf denen Ungetaufte arbeiten. Hier und da wird die Landschaft von einem weiß gekleideten Jünger getupft. Peter hat viele Stunden seines Lebens auf diesen Feldern gestanden und jede davon genossen. Sehnsucht greift nach seinem Magen, aber Peter ignoriert sie.  Er stapft weiter – auf die Hütte zu, in der Vates zu leben vorgibt. Direkt neben der Hütte befindet sich die Erdspalte, bei dem Gedanken ziehen sich Peters Innereien zusammen. Vor der Hütte sitzt ein Jünger, er beobachtet Peter auf seinem Weg. Als Friedensangebot hat Peter sich weiße Kleidung angezogen – natürlich unterscheidet sie sich stark von den heiligen Kostümen der Jünger.

„Peter?“ Peter senkt seinen Kopf als Geste des Respekts. „Was machst du hier?“ Der Jünger erkennt Peter und weiß offensichtlich nicht, wie er reagieren soll. Vielleicht hat Vat nicht alle eingeweiht, vielleicht steht Peters Name zumindest hier drinnen noch fest.

„Ich muss zu dem Propheten – er rief mich“, sagt Peter wahrheitsgetreu. Ihm wird eine Hand auf den oberen Rücken gelegt.

„Ich bring dich rein. Ich weiß nicht, ob er dich empfangen kann.“

„Der Prophet empfängt mich immer.“  Der Jünger schweigt – er weiß wohl, dass etwas nicht richtig ist. Peter ist fünf Wochen fort gewesen. Das kann niemand verheimlichen. Womöglich nicht einmal Vat. In der Hütte steht ein Bett, ein Schrank und ein Tisch – alles aus Holz, alles schlicht, alles bescheiden. Kein Fenster.

„Jünger Peter ist zurück“, ruft er in den Raum hinein. Stille ist die Antwort. Peter wünscht sich Lärm – Lärm lauter als sein Herz. Es klopft in ungesundem Takt. Ein ungleichmäßiges Stakkato. Vates gibt sein Zeichen nicht. „Entschuldige“, sagt der Jünger und fasst nach Peters Rücken. Doch dann hören sie Klopfen von Faust auf Holz. Der Jünger verneigt sich vor dem Raum und verlässt die Hütte rückwärts. Er ist nicht eingeweiht – er ist nicht wie Peter. Sobald die Tür verriegelt ist, öffnet sich die Falltür in der hinteren Ecke des Raums neben dem Tisch. Darunter offenbart sich Schwärze, in den unteren Räumlichkeiten scheint kein Licht wie sonst. Peter erinnert sich an die Pracht dort unten, wo Vates fern seiner Jünger lebt. Peter würde helfen, doch er wagt es nicht. Er wartet, bis die Falltür zu ihrer Gänze aufklappt – dann hört er Schritte. Vates besteigt die Treppe in die Hütte. Er hat so viele Geheimnisse – wie hat er Peter trotzdem schockiert? Wie kann er dazu fähig sein? Das Fleisch von Peters Po pocht als hätte das Messer einen Puls. Die Locken von Vates erscheinen zuerst – Peter überfallt Liebe. Die langen, lockigen Haare des Propheten sind berühmt. Sein Kopf, sein Hals, er trägt kein Oberteil, dann seine Hüfte und ein umgeschlungenes weißes Tuch. Er hebt sein knochiges Knie und verlässt den Schacht. Seine ruhigen Augen liegen in seinem Gesicht, saugen Peters Aufmerksamkeit an.

„Peter. Du bist zurück“, sagt er. Vat hat sich verschlossen. Seine heilige Hülle umgibt ihn und zeigt Peter nicht den Menschen darin.

„Deine Haare“, lächelt Peter. Vat kämmt und schneidet niemals seine Haare. Peter hat ihn überredet, Halbjahr für Halbjahr, bis Vat ihm die ehrenvolle Aufgabe übertragen hat. Dann hat Peter seine Haare ein wenig gekürzt. Vats Bart steht ungepflegt ab – der Anblick ist wunderschön. Seine dunklen Augen sehen, was sonst niemand sehen kann. Peter versucht sich an die Wahrheit zu erinnern. Es geht nicht. Vat reagiert nicht.

„Warum bist du hier, Peter?“, fragt er. Seine Stimme ist ein langsames Metronom, sie hilft Peters Herz in seinen Takt. Peter weiß es nicht mehr.

„Ich liebe dich“, sagt er. Seine Augen werden feucht, trotzdem brennen sie.

„Komm zu mir, Peter.“ Vates streckt seine Hand empor und Peter stellt sich so nah vor ihn wie er es wagt. Dann legt Vates ihm die Hand auf die Stirn. „Ich vergebe dir.“ Peter ist zuhause, er hat seinen Gott wieder. Vats Daumen streichelt ihn und setzt Erinnerung frei.

Peter und Vat stehen bei der Erdspalte – es ist Nacht. „Ich liebe dich und vertraue dir“, sagen sie einander immer wieder. Vat lacht sogar, er wirkt so gelöst mit Peter. Er hält Peter im Arm, seine Bewegungen sind weich. Draußen sind sie steif und ruhig, bei Peter nicht, nicht nur. Sie küssen sich immer wieder, Peter krault Vats Bart und fühlt sich geborgen und heilig. „Mein Vertrauen und meine Liebe sind so groß, Peter.“ Peter erschauert. Diese Nacht ist bedeutsam, sie füllt Peter mit purer Schönheit. Vat legt ihm einen Finger auf die Lippen, Peter küsst sie und Vat lächelt. „Ich will alles mit dir teilen. Ich will gemeinsam mit dir sein.“ Seine Worte bannen Peters Lippen, er schweigt und lässt Vat die Reise bestimmen. Dämpfe steigen aus der Erdspalte und der Prophet deutet sie: „Wir werden für immer lieben und sein.“ Er nimmt Peters Hand und auch sein Herz und führt ihn in seine Hütte, von da in sein wahres Heim. Sie gehen in einen Raum, den Peter nie gesehen hat und er zeigt ihm die Maschine. „Wir sind unter der Erdspalte.“ Vat fährt einen Computer hoch. Es gibt keine Computer im Camp, ist alles was Peter denkt. Er versteht nicht, bis Vat ihm die Maschine erklärt. Ihm das Camp erklärt. Ihm sein ganzes Leben erklärt. Und es Peter anbietet.

Vat zieht Peters Lippen zu sich und Peter kann nicht mehr sehen, was er weiß. Seine Welt hält – er ignoriert Mullbinden und Verband, die sie zusammenhalten. Er küsst den Propheten seines Gotts. Sie steigen hinab in Vats Heim. Sie legen sich auf die Matten, auf die seidigen Matten und die Kissen und die zarten Tücher und Peters Ich findet sich ein. Sie lieben sich, Peter schiebt das Messer in sein Hosenbein und zieht sich umständlich aus, lässt den Stoff seine Waffe verbergen. Und flieht in die Arme seines Geliebten. Vats Berührungen sind mehr als Peter in den vergangenen fünf Wochen gefühlt hat – mit der Angst, der Enttäuschung. Vat ist so viel. Doch Peter bleibt nicht.

„Ich muss mein Leben beenden, mein Leben da draußen. Dann kann ich zurückkommen.“ Vat küsst Peters geschlossene Lippen.

„Du wirst wiedergeboren werden.“ Peter geht.

 

Schon auf dem Heimweg hat Peter geweint und als er ankommt, sind deine Gedanken klar. Er liebt Vates. Er ruft Martina an, er erzählt ihr seine Geschichte – Liebe, Sex, Gewalt, Verrat – er lässt nichts aus und es tut weh. Was er angetan hat, was er gelebt hat. Dann legt er sich schlafen – das Hotelbett riecht nach Hotelbett und auch sonst erinnert nichts an Peter. Am nächsten Morgen geht er zurück in seine Wohnung. Er empfängt eine Nachricht von Martina, er schreibt in sein Tagebuch, es sind keine neuen Blumen gekommen. Er wird nicht zu Vates zurückkehren. Im Gespräch mit ihm ist Peter nicht klar gewesen, ob er wahr oder falsch gesprochen hat. Nun weiß er, dass er umziehen muss. Mittags macht er sich ein Müsli und schmeckt, dass er sterben wird. Gift greift sein Herz und Peter schafft drei Schritte, ehe er auf dem Küchenboden einsinkt. Seine Organe mahlen, das Blut steht still.

17 thoughts on “Blumen für Peter

  1. Die Geschichte hat mich von Anfang an so gefesselt, dass ich mich immer wieder dabei ertappte zu schnell zu lesen, weil ich ja wissen wollte wie es weitergeht. Ich musste mich bremsen um die bildreiche Sprache besser genießen zu können. Das Ende der Geschichte – absolut schlüssig. Wirklich Klasse!

  2. Richtig gute Geschichte!! Mir hat besonders gut gefallen, dass der Plot so so gut aufgebaut und durchdacht war. Insbesondere im Vergleich zu anderen Geschichten war es spannend, dass der Handyfund erst in der Mitte der Geschichte kam. Außerdem toll geschrieben, ich war so drin, hat mich echt mitgenommen!

  3. Hi, OMG was für eie spannende Story! Und der Schluss erst! Der Hammer. Ich mag deine ausdrucksstarken Sätze, war gleich mittendrin. Unbedingt ein Like von mir!
    Ich drück dir die Daumen fürs Ebook – oh Gott, bin noch total geflasht! Der arme Peter.

    Vielleicht hast du Lust, auch meine Geschichte zu lesen und mir Feedback zu geben, würde mich riesig freuen.
    Liebe Grüße Lotte
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-alte-mann-und-die-pflegerin

  4. Das ist eine Geschichte ganz nach meinem Geschmack! Ich finde die Welt der Sekten so faszinierend, weil ich mich dort so absolut gar nicht wieder finden kann. Kaum zu glauben, dass es echt so viele Menschen gibt, die sich derart manipulieren lassen. Besonders gefallen hat mir das realistische Ende. Zumindest denke ich, dass es genauso passieren könnte, wenn ein Anhänger aussteigen möchte. Besonders positiv ist mir auch dein Schreibstil aufgefallen. Es liest sich wirklich sehr gut. Insgesamt eine tolle Geschichte, die mich gut unterhalten hat.
    Liebe Grüße aus dem Maislabyrinth, Andrea

  5. Hallo Dr. Faust

    Nur am Rande:

    Vor 20 Jahren habe ich Goethes Faust einmal komplett auswendig gekannt.
    Für mich ist und bleibt Faust das größte Werk der Literatur.

    Nun zu dir:
    Was für eine großartige Geschichte.

    Ich bin komplett geflasht.

    Ich habe dieses Thema Sekten hier auf wirschreibenzuhause noch NIE gelesen.

    Du hast ein riesiges Potenzial.
    Dein Schreibstil ist genial und wirkt auf mich gereift und sicher.

    Deine Geschichte ist eine großartige Geschichte.
    Eine Kurzgeschichte, so wie sie sein sollte.

    Du hast die Parameter gut umgesetzt, die Grundidee ist gut gewählt und ordentlich dargestellt, die Protagonisten klar und toll angelegt.
    Und das Ende….. alle Achtung.

    Du hast einen neuen Fan.

    In dir schlummert noch sooo viel.

    Noch sooo viele bezaubernde Geschichten.

    Ich bin komplett begeistert.

    Ich lasse dir sehr gerne ein Like da.

    Oh Gott, dieser Peter, dieser Mord, dieses beinahe fulminante Finale.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.

    Du hast ein gegebenes Erzähltalent.

    Kämpfe weiter und gib niemals auf.
    Und schreibe noch viele bezaubernde Geschichten.

    Noch kannst du es definitiv ins EBook schaffen.

    Du kannst sehr stolz auf dich sein.

    Ganz liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir einen kleinen Kommentar zurück lassen würdest.

    Vielen Dank.
    Swen

  6. Hallo Dr. Faust,

    was für eine krasse Geschichte…. Ich bin begeistert von deiner Art zu schreiben, das hat mich richtig in einen Bann gezogen. Eine spannend erzählte Geschichte, ein mal ganz anderes Thema und dazu noch ein geniales Ende.

    Mein Like hast du, ich wünsche dir viel Glück fürs Voting!

    LG Yvonne / voll.kreativ (Der goldene Pokal)

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