CaroBBlutsbruder

1 –

Er rannte ohne Ziel durch die Nacht. Der Regen peitschte ihm ins Gesicht und ließ alles um ihn herum gleich aussehen. Weder auf seine Augen noch auf seine Ohren konnte er sich bei diesem Wetter verlassen. Nico war auf sich alleine gestellt und seiner Umgebung machtlos ausgeliefert. Schützend hielt er seinen Arm vor sich, damit die vom Wind getriebenen Äste nicht noch mehr Wunden in sein Gesicht schlugen. Doch es war zu spät, der eiserne Geschmack seines eigenen Blutes lag in Nicos Mund. Das brachte ihn völlig aus der Bahn. Schon als Kind hatte Nico ein Problem mit Blut. Allein beim Anblick fing sein Körper an, verrückt zu spielen. Der Geschmack jedoch versetzte ihn in einen unberechenbaren Zustand. Was dabei genau geschah, konnte er nur ahnen, denn er selbst war danach immer ohne jegliche Erinnerung. Doch sein Körper vergaß nichts. Jedes Mal, wenn Nico sein Bewusstsein zurückerlangte, war er ausgezehrt und mit Wunden übersäht. Für die Leute, die nachhakten, erfand er jedes Mal eine neue Ausrede: Einmal habe er sich im Wald verlaufen, ein andermal sei er über einen Stein gestolpert oder von einem Mitschüler verprügelt worden. Doch heute brachten ihn die Ausreden nicht weiter. Er war ganz auf sich alleine gestellt und spürte zunehmend die Wirkung des Blutes. Von Schritt zu Schritt wurde er langsamer, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den kalten, vom Regen durchnässten Pfad.

2 –

Sein Körper sträubte sich, auch nur kleine Bewegungen umzusetzen. Lediglich ein stechender Schmerz in seiner linken Hand versicherte Nico, dass er noch am Leben war. Pulsierend nahm er ein immer größeres Ausmaß an, bis Nico aus der Unerträglichkeit seines Leidens heraus in ein gequältes Schreien überging. Nach einer Minute endete der Schmerz so abrupt, wie er begonnen hatte.

Was wird hier mit mir gespielt?!

Noch völlig benebelt von den Schmerzen, versuchte Nico, sich zu orientieren. Durch den Einbruch der Morgendämmerung wurde ihm wenigstens schemenhaft das Betrachten seiner Umgebung ermöglicht. Sein Aufenthaltsort war ein kleiner, spärlich eingerichteter Raum, ähnlich wie eine Ferienhütte. Er selbst lag leicht erhöht in der Mitte des Zimmers auf einer Art Trage. Wie er bereits vermutet hatte, waren seine Hände und Füße gefesselt, was die eingeschränkte Bewegungsfreiheit erklärte. Bevor sein Blick wieder von seinem Körper wegwanderte, zog etwas Anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. In seiner linken Hand erkannte Nico einen rechteckigen Gegenstand, der ein unverkennbares Blinken von sich gab. Er lag schwer in der Hand, füllte sie jedoch nur zur Hälfte aus. Das ist doch mein… Sein Gedankengang wurde jäh durchbrochen. Das gleiche unerträgliche Pulsieren wie nach seinem Erwachen durchfuhr Nicos Arm. Er wollte seine Gedanken vom Schmerz weglenken, sich auf etwas Anderes konzentrieren, doch es war ihm nicht möglich. All seine Sinne waren auf das Objekt und die dadurch bedingten Qualen fokussiert. Das einzig Gute an der Situation war die endgültige Gewissheit über die Identität des Gegenstandes. Nico erkannte ihn nicht nur an seinem nerdigen Bildschirmhintergrund mit Binärcode für „Lass mich in Ruhe!“. Auch die Form sprach für sich. Wer außer ihm besaß denn heutzutage noch ein Handy mit Tasten, vor allem eines mit Schiebefunktion?

3-

Endlich frische Luft! Nico wusste nicht, wann er das letzte Mal so glücklich war, unter freiem Himmel zu stehen. Der Weg nach draußen stellte sich weniger beschwerlich dar als erwartet. Wer auch immer für Nicos Gefangenschaft verantwortlich war, konnte kein Profi gewesen sein. Die Knoten um seine Hand- und Fußgelenke waren nur schlampig festgezogen worden, sodass Nico seine rechte Hand ohne Probleme innerhalb weniger Minuten befreien konnte. Danach war es ein Kinderspiel, auch die restlichen Schlingen von Armen und Beinen zu entfernen.

Jetzt, da Nico sich wieder auf freiem Fuß bewegen konnte, war er auch den Gefahren machtlos ausgeliefert. Für seinen Schutz hielt Nico daher Ausschau nach einem versteckten Platz im Wald. Ein Platz, an dem er seinen ungeklärten Fragen auf den Grund gehen konnte. Hinter der Wurzel eines umgestürzten Baumes fand er, wonach er gesucht hatte – eine tiefe Kuhle, in der er sich verkriechen konnte und vor flüchtigen Blicken geschützt war. Doch die voranschreitende Morgendämmerung würde ihm nicht mehr viel Zeit lassen. Zeit, die er benötigte, um den gestrigen Tag Revue passieren zu lassen. Zeit, die er benötigte, um die Ursache seiner Lage zu ergründen. Und Zeit, die er benötigte, um seine immer größer werdende Angst zu bändigen.

4- Gestern

Sein Tag begann wie immer – Nico wurde von dem Duft nach frisch gebrühtem Kaffee geweckt. Gerne würde er behaupten, dass ihm seine wunderschöne Frau einen Cappuccino ans Bett gebracht hatte, doch das wäre gelogen. Er hatte weder eine Partnerin noch einen Vollautomaten. Seinen Wecker mit integrierter Kaffeemaschine liebte er aber mindestens genauso sehr. Nach dem Duschen setzte er sich mit Jogginghose und Hemd an den Schreibtisch. Nico arbeitete nun schon seit über einem Jahr im Home-Office. Die IT-Firma, bei der er angestellt war, möchte ihren Mitarbeitern flexible Arbeit und Zeit für die Familie ermöglichen. Insgeheim vermutete Nico jedoch, dass seine Firma damit lediglich das Geld für die Miete der Büroräume einsparen wollte. Zu Mittag gab es das aufgewärmte Essen von gestern. Bis dahin war es ein Tag wie jeder andere. Am frühen Abend stellte Nico jedoch mit Erstaunen fest, dass auf seinem Handy eine Mitteilung aufleuchtete. Neugierig drückte er die Taste unterhalb des gelben Briefumschlags, um seinen Posteingang zu öffnen:

Nico, ich bin‘s Sarah! Weißt du noch, von früher. Wollte mal wissen, wie es dir geht. Könnten ja mal ein Bierchen zusammen trinken. Melde dich einfach, wenn du Lust darauf hast!

Nico war völlig überrumpelt. Klar erinnerte er sich an Sarah! Sie war die einzige Person in seiner Kindheit, mit der er sich gut verstanden hatte. Alle anderen konnten mit seiner Art Humor nichts anfangen. Aber Sarah war anders, sie hat bei allem mitgemacht. Zu Beginn haben sie die Leute nur veräppelt und beleidigt. Dann haben sie angefangen, Gegenstände aus den Spinden ihrer Mitschüler zu klauen. Das hat bei beiden die Lust auf mehr geweckt – mehr zu klauen, aber insbesondere die Lust, mehr Schaden anzurichten. So war es zu ihrem Ziel geworden, durch möglichst wenig Aufwand, möglichst viel zu zerstören. Das Ganze hat abrupt ein Ende genommen, als Sarah einen Monat nach dem Tod von Nicos Mutter weggezogen ist. Seitdem hatte er nie wieder etwas von ihr gehört – also klar war er neugierig, was aus ihr geworden war! Es war Sarahs Idee, sich in der Nähe des Buchenwaldes zu treffen. Dort war eine Grillstelle mit einer kleinen Holzhütte, in der sie früher lange Zeit damit zugebracht haben, ihre Pläne zu schmieden. Für Nico war diese Art Sentimentalität überzogen, aber er wollte auch nicht diskutieren. Also machte er sich nach dem Abendbrot auf den Weg.

Die Hütte war ganz anders als in seinen Erinnerungen, viel kleiner. Bereits für ihn alleine war der Platz im Innern sehr knapp bemessen. Das Äußere der Hütte musste in der Zwischenzeit jedoch renoviert worden sein. Was früher noch naturbelassene Holzbalken waren, strahlte heute in einer Mischung aus grellen Grün und Sonnengelb. Man konnte fast meinen, dass man die Besucher durch den grässlichen Anstrich von diesem Ort fernhalten wollte. Von Sarah war noch nichts zu sehen. Um die Zeit zu überbrücken, machte er sich auf den Weg in den Wald. Schon nach ein paar Schritten, hatte er ein ungutes Gefühl. Überall um ihn herum waren Geräusche. Die meisten konnte Nico Tieren zuordnen, aber da war noch etwas Anderes. Es hörte sich an wie das Atmen eines Menschen. Eines Menschen, der sich schnellen Schrittes auf Nico zubewegte und keinen Anschein machte, langsamer zu werden. Sein Instinkt übermannte Nico und er begann zu rennen, so schnell, wie es ihm nur möglich war. Er konnte nur noch raten, wie weit sein Verfolger entfernt war oder ob es ihn überhaupt gab. Ein Risiko einzugehen, kam für Nico aber nicht in Frage. So sprintete er weiter durch die Nacht, bis seine Erinnerung aussetzte.

5-

Nico zitterte. Er konnte nicht sagen, ob die kühle Morgenluft oder das erneute Durchleben seines gestrigen Tages der Grund dafür war. Was er jedoch wusste, war, dass er so schnell wie möglich aus diesem Wald fliehen musste. Wenn sein Gegner gestern bei Dunkelheit keine Mühe hatte, ihn einzufangen, war es ihm bei der einsetzenden Helligkeit ein Kinderspiel, Nico ein weiteres Mal zu fassen. Nach einem eindringlichen Blick in die Dichte des Waldes, beschloss er, sich auf den Weg zu machen.

Nico kam besser voran als gedacht und erreichte seine Wohnung ohne weiteren Zwischenfall. Erst als er sich auf seinem alten Ohrensessel niederließ und die ganze Anspannung abfiel, begannen seine Gedanken wieder um das Handy zu kreisen. Die Befestigung war einfach, aber effektiv – das ausgefahrene Tastenfeld war mit Hilfe von Klebeband an seiner Hand festgeklebt. Als er das Konstrukt mit der Hilfe einer Schere entfernt hatte, entdeckte er etwas Fürchterliches. Auf seiner Handfläche war eine tiefe, eiternde Fleischwunde, in der ein scharfes Stück Holz steckte. Das muss es gewesen sein! Es waren Anrufe! Sie mussten das Handy in Vibration und dadurch das Holzstück in seiner Verletzung in Bewegung versetzt haben! Kein Wunder hatte er so unerträgliche Schmerzen. Um sich zu vergewissern, warf Nico einen Blick in seine Anruferliste, wo er die bestätigenden Anrufe aufgelistet vor sich sah. Allesamt von einem unbekannten Gesprächspartner. Doch da fiel ihm wieder der ursprüngliche Auslöser für seinen nächtlichen Ausflug in den Wald ein – Sarah.

6-

Erwartungsvoll wartete Nico auf die Annahme des Gesprächs. Nach einer Minute wurde das regelmäßige Tuten des Freitons von einer künstlichen Stimme unterbrochen. Sprechen Sie Ihre Nachricht nach dem Signalton. Nico drückte verärgert den roten Knopf. Von dem Anruf bei Sarah hatte er sich mehr erhofft.

Aber irgendeine Spur muss doch auf dem verdammten Teil zu finden sein! Nico versuchte, sich gut zuzureden und begann mit neuer Motivation, das Handy zu durchsuchen. Es fühlte sich falsch an, sein eigenes Handy auf den Kopf zu stellen. Doch schon nach kurzer Zeit, stach ihm etwas ins Auge. Seit wann habe ich denn Kinderbilder auf meinem Handy? Unsicherheit stieg in ihm auf. Nico würde niemals Bilder seiner Kindheit auf sein Handy laden. Er hatte vor Jahren damit abgeschlossen und all seine verbliebenen Bilder verbrannt. Aber es waren unverkennbar die Gesichtszüge des kleinen Nicos, die hier in die Kamera starrten. Einmal auf dem Spielplatz in Buddelhose und einer etwas schräg geratenen Sandburg. Ein andermal mit einem Bierkrug in der Hand. Irgendjemand musste sich an seinem Handy zu schaffen gemacht haben! Das nächste Bild kannte Nico jedoch noch nicht. Man konnte erkennen, dass es von einem Versteck aus gemacht wurde. Am linken Rand waren die Seiten des Bücherregals in ihrem alten Wohnzimmer zu sehen, während im Hintergrund die Faust seines Vaters kurz vor Nicos Kinn ruhte. Das nächste Foto zeigte, wie Nico mit nach hinten geneigtem Kopf auf dem Boden saß und Blut aus seinem Mundwinkel tropfte. Das letzte Bild war gleichzeitig das erschreckendste Bild. Auf der verwackelten Fotografie war die Regalwand verschwunden. Stattdessen füllte das Gesicht seines Vaters den Hintergrund aus. Seine Augen waren geweitet, in seinen Augenwinkeln haben sich Tränen gebildet. Keine Tränen der Trauer, sondern Tränen des Zorns. Aber das Schrecklichste am gesamten Bild war der Lauf der Pistole, dessen Mündung direkt Auf den Menschen hinter der Kamera zielte.

7-

Mama! Nico zitterte am ganzen Körper. Er konnte sich nicht an die Szene erinnern und doch hatte er sein gesamtes Leben eine Ahnung. Seine Mutter war so plötzlich aus seinem Leben verschwunden und nie wurde ihm die Todesursache offenbart. Vielleicht hatte es sein Unterbewusstsein schon damals geahnt. Vielleicht hat es ihn deshalb zu der Entscheidung bewegt, den Kontakt zu seinem Vater einem Jahr nach dem Tod seiner Mutter abzubrechen. Seit diesen 10 Jahren hatte Nico zeitweise vergessen, dass Hans, wie er seinen Vater seit seiner frühen Kindheit nannte, überhaupt existierte. Umso erschreckender war es für Nico, plötzlich mit dessen Verbindung zum Tod seiner Mutter konfrontiert zu werden. Nicos Erschütterung über die neu erlangten Kenntnisse schlug schnell in abgrundtiefen Hass um. Mit beängstigender Entschlossenheit bereitete sich Nico auf ein Wiedersehen mit seinem Vater vor.

8-

Wirr griff er in seinen Schrank und zog heraus, was ihm in die Hände fiel. Nico war in seinem Wahn gefangen. Seinem Wahn, Rache auszuüben. Nur darauf fokussiert, so schnell wie möglich aufzubrechen. Erst als sein Blick auf das Handy wanderte, um nach der Uhrzeit zu schauen, entdeckte er das Symbol eines ungeöffneten Briefs auf seinem Display – schon die zweite SMS innerhalb eines Tages.

Das ist nicht möglich!

Entgegen Nicos Erwartung erschien nach dem Öffnen der Nachricht kein Textfeld, sondern ein Foto. Wieder war es Hans, der im Mittelpunkt des Bildes zu sehen war. Er sah zerstört aus, seelisch am Ende. Seine Augenringe glichen dunklen Seen, die sich bis zu seinen Nasenflügeln hinzogen. Seine Lider waren schwach und bildeten lediglich einen schmalen Schlitz für die Pupillen. Der Blick schien ins Leere zu gehen, gefangen in einer anderen Realität. Man konnte fast Mitleid mit ihm hegen. Wäre da nicht das Blut an seinen Händen und der Waffe gewesen. Die Waffe in seinem Schoß. Die gleiche Waffe, die auch auf dem letzten Bild zu sehen war. Die Waffe mit der Hans seine eigene Frau getötet hat. Mit diesem Wissen begab er sich auf den Weg nach Mannheim zu dem Mörder seiner Mutter. 

9-

Nach der sechsstündigen Bahnfahrt war er froh, das letzte Stück zur Neckarstadt-West zu Fuß gehen zu müssen. Je näher Nico seiner alten Wohngegend kam, desto unbehaglicher fühlte er sich. Die Hochhäuser schienen ihn mit ihrer Größe einschüchtern zu wollen. Einheimische schauten ihn misstrauisch an. Er fühlte sich fremd, obwohl er hier so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Sei kein Schlappschwanz!

Nico durfte so kurz vor seinem Ziel nicht einknicken. Nur noch wenige Meter war er von dem Turm entfernt, in dessen 17. Stockwerk sein ehemaliges Kinderzimmer lag – wobei Abstellkammer ein besseres Wort für das Loch gewesen wäre, in dem er ein Bett mit seinen nach Pisse stinkenden Kuscheltieren geteilt hatte. Die eingeschlagene Scheibe der Haustür scheint seit Nicos Verschwinden nicht ausgetauscht worden zu sein. Das Graffiti an der Hauswand wurde von noch hässlicheren Schriftzügen in noch schrilleren Farben übermalt. Und noch immer Stand der Nachname seines Vaters auf dem obersten Klingelschild der rechten Spalte.

10-

Bevor Nico einen Fuß in den Flur setzte, hatte der Aufzug bereits drei Versuche unternommen, die Türen zu schließen. Wie unter Schock nahm Nico nichts um sich herum wahr, während er sich Schritt für Schritt der Gewissheit näherte. Mittlerweile war er sich nicht mehr sicher, ob er sich für das Richtige entschieden hatte.

Was willst du hier?

Die Begrüßung fiel freundlicher aus als erwartet. Doch Nico war nicht in der Lage zu antworten – der Anblick versetzte ihm einen Schlag. Die Gesichtszüge seines Vaters waren noch gezeichneter als Nico sie in Erinnerung hatte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und über seinen eingefallenen Wangen spannte sich die Haut, als wäre sie kurz vor dem Zerbersten.

Willst du nur dumm glotzen oder kommst du rein?

Nico konnte sich nicht widersetzen. Der abwertende Blick seines Vaters versetzte ihn in seine Kindheit zurück. Sofort war die Angst zurück, welche er jeden Abend verspürt hatte. Die Angst vor der Unberechenbarkeit seines Vaters. Aber mit der Angst stieg auch die Wut in ihm auf. Und mit ihr das Verlangen nach der Wahrheit!

11-

Was hast du damals angestellt? Warum hast du das getan?

Der Blick von Hans verriet, dass er keine Ahnung hatte, worauf die Anschuldigungen seines Sohnes zielten. Doch er machte sich nicht die Mühe nachzuhaken. Mittlerweile konnte er das Verhalten von Menschen recht gut einschätzen – und wenn sie etwas wissen wollten, dann musste man sie nicht um ihren Redeschwall bitten.

WAS HAST DU MIT MAMA GETAN?!

Nico konnte sich nicht mehr zurückhalten. Sein ganzer Hass, der sich über den Tag hinweg angestaut hatte, musste aus ihm herausbrechen. Doch was darauf folgte, war nichts Anderes als Stille. Nicos Vater schaute ihn mit einem traurigen, fast bemitleidenden Blick an. Das ließ Nico komplett aus der Haut fahren. Er stürmte auf Hans zu und packte ihm an den Seiten seines schmalen Schädels.

Jetzt wirf mir wenigstens deine wirren Verteidigungen an den Kopf und sag mir, dass ich falsch liege! Aber HERRGOTTNOCHMAL SAG ETWAS!

Bevor sein Vater reagieren konnte, sah Nico in seinen Augenwinkeln eine Bewegung. Ruckartig schnellte er herum und nahm eine Verteidigungsposition ein. Die sollte sich aber schnell als überflüssig herausstellen. Eine kleine, zerbrechliche Frau Anfang 60 schaute verängstigt hinter der Küchentür hervor.

Hans, wenn du es ihm nicht sagt, dann wenigstens mir. Was hast du damals getan?

Das brachte Nico vollkommen aus der Bahn. Hatte sie gerade tatsächlich AUCH nach der Tat seines Vaters gefragt?

Woher wissen Sie davon? Und wer sind Sie überhaupt? Was gibt Ihnen das Recht dazu, sich in unsere Familienangelegenheiten einzumischen?

Die Frau starrte Nico eingeschüchtert an und brachte kein Wort heraus. Hilfesuchend wandte sie ihren Blick zu Hans.

Nico, halt erstmal deinen Mund, bevor noch mehr Scheiße aus dir raussprudelt! Das ist Claudia, meine neue Frau, und du solltest sie verdammt nochmal nicht so herablassend behandeln!

Damit hatte Nico nicht gerechnet. Für ihn war sein Vater immer der alleinstehende, verbitterte Wittwer, der seinen inneren Hass an Allem und Jedem ausließ. Und irgendwie war Nico auch froh, dass er mit ihr eine Art Verbündete hatte. Jemanden, der scheinbar auch das Geheimnis seines Vaters lüften wollte. Doch Hans hatte offensichtlich keine Lust mit der Sprache rauszurücken. Und die Wut kochte immer weiter in Nico hoch.

12-

So machst du es doch auch nicht besser, Nico! Meinst du wirklich, er wird dir so die Wahrheit über die Bilder sagen?

Claudia versuchte ihn von seinem Vater zu zerren. Doch Nicos Finger krampften sich dadurch nur noch fester um dessen Hals, bis er die Worte von Claudia realisierte. Langsam drehte er sich zu ihr um.

Was weißt du von den Bildern? Was hast du damit zu tun?

Sie schaute ertappt aus dem Fenster und versuchte ihre erröteten Wangen zu verstecken. Aber auch Hans konnte nicht so tun, als hätte er das überhört. Er ging auf Claudia zu und packte sie an den Schultern.

Ich glaube, du musst mir da etwas erklären, und zwar zackig!

Unter dem Gewicht von Hans fiel Claudia wie ein Kartenhaus zusammen. Schluchzend kauerte sie in der Ecke des Zimmers…

Ja, Ich habe Bilder gefunden. Bilder von früher. Bilder mit dir und Nico und deiner ersten Frau. Und du hast sie umgebracht! Du hast sie eiskalt ermordet! Nur, weil sie dich beobachtet hat, wie du Hans geschlagen, misshandelt hast! Wie kann ich da still zu Hause sitzen? Ich hatte Angst! Angst, dass es mich als nächstes trifft! Ich habe gehofft mit der Hilfe von Nico, die Wahrheit zu erfahren. Doch der weiß anscheinend noch weniger davon, als ich.

Nico traute seinen Ohren nicht. SIE sollte für die ganze Aktion verantwortlich sein? SIE hat mich nach Mannheim gelockt? Er wollte Claudia zur Rede stellen, doch sie war in Ekstase.

JETZT SAG DOCH ENDLICH, WAS DU DAMALS GETAN HAST!!

Hans eiserne Fassade hielt dem Druck nicht mehr stand.

Warum hast du es nicht einfach ruhen lassen können? Ich wollte nie, dass dieser Teil meiner Vergangenheit jemals ans Licht kommt. Es war kein Selbstschutz, die Todesursache von Thea nie zu erwähnen… Es war zu deinem Schutz, Nico!

13-

Nico war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. ER solle durch das Verschweigen der Vergangenheit geschützt werden? Bevor Nico nachhaken konnte, sprach Hans schon weiter.

Nico, es geht um dein Problem mit Blut. Um deinen wahnartigen Zustand, in den du gelangst, wenn du es schmeckst. Sobald ich dich auf eine solche Phase ansprach, sagtest du mir, dass du dich an nichts erinnern konntest. Ich glaubte dir und ich glaube dir immer noch. An dem Tag, als die Bilder entstanden sind, kam ich von der Arbeit und du hast deine pubertären Späße mit mir getrieben. Ich hatte meine Gefühle nicht unter Kontrolle und wollte mal wieder mit Gewalt erreichen, dass du wenigstens für eine Weile deinen Mund hältst. Deine Mutter hatte das auf Bildern festgehalten. Auf den Bildern, die du zu Gesicht bekommen hast. Ich wollte sie mit der Waffe einschüchtern und ihr klarmachen, dass sie die Bilder vernichten soll, sobald sie entwickelt sind. Aber ich hätte niemals abgedrückt! Das Problem war, dass ich dich davor blutig geschlagen hatte und du in deinen Zustand übergegangen bist. Du hast die Waffe gesehen, sie mir aus der Hand gerissen und auf mich gezielt. Ich wusste, dass du unberechenbar warst. Dazu bereit, abzudrücken. Und dann habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen. Ich habe mich weggeduckt, in dem Moment als du abgefeuert hast. Ich habe das Leben von Thea geopfert und mich erbärmliche Seele gerettet…

14-

Und das soll ich dir glauben, du elendiger Lügner?!

Nico packte Hans und drückte ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Ich kann es dir beweisen, Nico. Sarah war an diesem Tag bei uns. Sie musste alles miterleben.

Nico war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Sarah! Sarah, von der er vor 2 Tagen das erste Mal seit Ewigkeiten gehört hatte. Weshalb wollte sie sich mit ihm treffen? Und sollte er wirklich die einzige Freundin, die er jemals hatte, in diese Geschichte mit reinziehen? Doch es blieb ihm nichts Anderes übrig. Er hatte noch die Hoffnung, dass das alles gelogen war. Eine dumme Geschichte seines Vaters, um einen Sündenbock für die grausame Tat zu bekommen.

15-

Nico, es tut mir so leid…

Wenn Sarah schon mit solchen Worten beginnt, hatte Nico keine Hoffnung mehr auf ein gutes Ende.

Ich wollte dich davor warnen, hier her zu kommen. Meine Mutter ist mit der Neuen deines Vaters befreundet und hat mir alles über Claudias Plan erzählt. Sie hatte Angst vor Hans, wegen der Bilder und wollte durch dich an die Wahrheit kommen. Sie dachte, dass du etwas über den Tod deiner Mutter weißt, da du es ja miterlebt hattest. Über deine Zustände wusste sie jedoch nichts. Erst heute Morgen habe ich erfahren, dass sich Claudia als mich ausgegeben hat, um dich in den Wald zu locken. Das mit unserer Hütte wusste sie von meiner Mutter. Ich habe versucht dich anzurufen, um dich zu warnen! Doch du hast nicht abgenommen. Sie war es, die dich dorthin gelockt und gefesselt hat. Durch das Telefon an deiner Hand wollte sie dich auf die Bilder stoßen. Anscheinend hat ihr Plan funktioniert. Ich wollte dich doch nur vor der Wahrheit retten. Vor der Wahrheit, dass du der Mörder deiner Mutter bist…

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