Nina WiegmannBruchstücke der Vergangenheit

Es war dunkel. Langsam wagte sie sich durch den schmalen Gang, ihre Schritte hallten leise von den kalten Steinwänden wider. Es roch modrig. Sie bewegte sich auf die Tür zu, hinter der ein schwacher Lichtschein flackerte. Sie spürte ihre Anspannung im ganzen Körper und hörte ihr eigenes Herz viel zu laut schlagen. Jetzt bloß kein Geräusch machen. Sie blieb stehen, wartete ab und hörte nur ihren eigenen Atem. Sie bemerkte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Langsam öffnete sie die kalte Holztür zu dem Kellerraum, der direkt vor ihr lag. Plötzlich verschwand der schwache Lichtschein vor ihr und sie sah eine Gestalt mit schnellen Schritten auf sie zu kommen. Das Letzte, was sie wahrnahm, waren die kalten blauen Augen, die sie anstarrten und der warme Atem in ihrem Gesicht.

Schreiend schreckte Anne aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Es war dunkel, doch ihr wurde bewusst, dass sie in ihrem eigenen Schlafzimmer war. Das alles war nur ein Traum gewesen. Doch das Gefühl der Erleichterung über diese Erkenntnis wollte sich nicht einstellen. Warum hatte sie in letzter Zeit immer denselben Traum und warum fühlte sich alles darin so real an? Jedes Mal wachte sie an der gleichen Stelle auf, manchmal schreiend, manchmal weinend. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine Person mit solchen Augen gesehen zu haben und doch kamen sie ihr so merkwürdig vertraut vor. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als sie an diese kalten blauen Augen dachte, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt zu haben schienen.

An Schlafen war nach so einem Traum nicht mehr zu denken, also schaltete sie das Licht ein, machte sich Musik an und stieg unter die Dusche. Erst als das heiße Wasser über ihre Haare den Rücken hinunterlief und ihre Haut benetzte, fühlte sich Anne etwas besser. Langsam ging draußen die Sonne über den Dächern der Stadt auf und färbte die Häuser rot. Mit einem großen Kaffee und ihrem Skizzenbuch setzte sie sich auf die Fensterbank. Das war ihre Lieblingsstelle in der ganzen Wohnung. Sie konnte sich selbst nicht recht erklären, warum, aber es gefiel Anne einfach, hier im Licht der Sonne zu sitzen, die Stadt im Blick zu haben und ganz in ihre Gedanken versunken zu malen.

„Heute wird ein guter Tag“ murmelte Anne lächelnd vor sich hin, während sie ein paar Stunden später auf ihrem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, sich nicht von Dingen herunterziehen zu lassen, auf die sie keine Antwort hatte oder die sie nicht beeinflussen konnte. Die milde Frühlingsluft wehte ihr durch die langen dunklen Haare und ließ sie ihren unschönen Start in den Tag vergessen. Sie schloss ihr Fahrrad an der Straßenlaterne an und schlenderte zu dem Café, welches in den letzten Jahren schon fast so etwas wie ihr zweites Zuhause geworden war. Miguel, ihr Chef, und inzwischen guter Freund, hatte bereits aufgeschlossen und begrüßte sie mit einem breiten Grinsen: „Buenos días Anne! Wie die Sonne lacht, wenn du durch die Tür kommst. Hier, sieh nur, ich habe mich an einem neuen Rezept für eine Zitronentorte probiert und schau dir an, wie frisch und lecker sie aussieht. Ich sage dir, die ist himmlisch, probier mal ein Stück!“ Mit diesen Worten schob er ihr, ohne ihre Antwort abzuwarten, ein Stück Torte in den Mund. „Oh ja, die ist wirklich traumhaft, aber vergiss nicht, dass unsere Kunden auch noch ein Stück abhaben möchten“, mahnte sie ihn lachend und zwinkerte ihm zu.

Darum liebte sie ihre Arbeit. Miguel und ihre Kollegen in dem kleinen Café direkt in der Altstadt waren wie eine Familie – nein, sie waren ihre Familie, dachte Anne sich mit einem Lächeln. Und die außergewöhnlichen Kuchen und Torten, die sie ihren Kunden anboten, waren über die Stadtgrenze hinaus bekannt und genauso beliebt. Ursprünglich war Anne in das Café gekommen, um übergangsweise einen Job zu bekommen, bis sie wusste, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Doch sie hatte so viel Freude an der Bedienung der Gäste gefunden, hatte angefangen, sich gemeinsam mit Miguel neue Kuchenkreationen auszudenken und obendrein einen Barista-Kurs besucht, dass sie sich gar nicht mehr vorstellen konnte, irgendwo anders zu arbeiten.

„Na, wann siehst du Daniel eigentlich wieder?“ riss Miguel sie aus ihren Gedanken. Er war gerade dabei, sämtliche Kuchen und Torten in der Vitrine zu platzieren, während Anne den Kaffeeautomaten reinigte. Sie ließ den Milchaufschäumer laut zischen, sodass der Lärm ihr eine direkte Antwort ersparte. „Ach Anne meine Liebe, ich weiß, was du da versuchst, aber um eine Antwort kommst du nicht drum herum. Ich habe bemerkt, wie du ihn angesehen hast, als er letzte Woche hier war, um deine Cupcakes zu probieren“, grinste Miguel verschwörerisch. „War es wirklich so offensichtlich?“ Nun konnte sich Anne das Lächeln doch nicht verkneifen.

Sie hatte Daniel in dem Barista-Kurs kennengelernt, den er leitete und spätestens nach dem ersten kunstvoll kreierten Milchschaum-Herz, in dem von ihm für sie zubereiteten Cappuccino, war es um sie geschehen. Durch ihre ruhige und zurückhaltende Art hätte sie sich vermutlich niemals getraut, ihn anzusprechen, jedoch schien auch Daniel ein gewisses Interesse für sie zu haben, denn am letzten Tag des Kurses fragte er sie nach einem Date. Seitdem hatten sie sich nur auf einen Cupcake in ihrer Mittagspause getroffen, da Anne spontan die Wochenendschichten im Café übernommen hatte. Sie war heilfroh, dass er an diesem Tag keinen Kaffee bestellt hatte, denn ihre Hände zitterten vor Aufregung so sehr, dass sie wahrscheinlich nicht einmal den Milchschaum richtig hätte aufschlagen, geschweige denn kunstvoll drapieren können. Also blieben sie bei frisch gepresstem Orangensaft und einem ihrer hausgemachten Cupcake-Variationen und unterhielten sich über Gott und die Welt, während die Sonne durch das Fenster schien. Ihre Pause verging an diesem Tage viel zu schnell und so ließ Daniel Anne erst weiterarbeiten, als sie ihm das Versprechen gab, sich ein zweites Mal mit ihm zu treffen.

„Ich habe Daniel für heute Abend zum Essen zu mir eingeladen. Ich werde für ihn kochen“, erzählte sie Miguel nun doch ein wenig aufgeregt. „Ah, ein romantisches Dinner bei dir zu Hause. Na, dann pass mal lieber auf, dass er bis zum Dessert seine Finger von dir lassen kann“, neckte er sie. Sie schaute gespielt empört, musste dann aber lachen. „Nein, jetzt mal im Ernst. Ich wünsche dir, dass du endlich den Richtigen findest, denn du verdienst es mehr als jede andere, glücklich zu sein“, fügte Miguel ernst hinzu. „Danke Miguel, das weiß ich wirklich zu schätzen! Aber ich bin doch schon glücklich, weil ich euch habe“, entgegnete sie mit einem zaghaften Lächeln. „Warte mal, ich habe da noch etwas Kleines für dich“, sagte er, während er im Hinterzimmer verschwand. Kurz darauf kam er mit einer Flasche Rotwein und einem kleinen Gegenstand in der Hand zurück. „Hier. Ein echter spanischer Rotwein aus der Heimatregion meiner Großmutter. Diese Sorte hat mir schon bei meinem ersten Date mit meiner Frau Luisa Glück gebracht und soll auch dir heute Abend Glück bringen.“ „Oh Miguel, das ist so lieb von dir, vielen Dank! Und was ist das?“ Anne zeigte auf den kleinen länglichen Gegenstand, den er ihr hinhielt. „Das ist ein Taschenmesser mit einem integrierten Korkenzieher. Damit du den Wein auch öffnen kannst. Ich weiß doch, dass du sonst immer den aus dem Tetrapack kaufst“, sagte Miguel grinsend. Sie lachte, steckte es in die Vordertasche ihrer Hose und umarmte den Mann, der eine Art Vaterrolle in ihrem Leben eingenommen hatte. Er kümmerte sich so rührend um sie und sie konnte sich die Arbeit ohne ihn nicht mehr vorstellen. Als das eingespielte Team, das sie waren, machte die Arbeit jedes Mal so viel Spaß und fühlte sich eher wie Freizeit an, so schnell wie sie vorüberging.

An diesem Tag war Miguel einverstanden gewesen, dass Anne etwas früher Feierabend machte, denn sie musste noch alles für das Date am Abend einkaufen. „Dieser Daniel ist ein echter Glückspilz, ich hoffe, das ist ihm klar“, rief Miguel Anne lächelnd nach, als sie das Café am späten Nachmittag verließ. Sie machte sich auf den Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, in Gedanken versunken und mit einem Lächeln auf den Lippen. Auf halbem Weg fiel ihr jedoch ein, dass sie vor lauter Vorfreude und Aufregung ganz vergessen hatte, dass ihr Fahrrad noch vor dem Café stand. Als sie sich abrupt umdrehte, um zurückzugehen, passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Sie stieß mit einem Mann zusammen, der unmittelbar hinter ihr gelaufen war, woraufhin sie vor Schreck ihre Tasche fallen ließ. Der Mann war stämmig und wirkte älter als sie. Das Gesicht des Mannes konnte sie jedoch nicht richtig erkennen, denn es war unter seiner dunklen Kapuze verborgen. Bei dem Zusammenstoß waren ihm sein Autoschlüssel und ein kleines Notizbuch heruntergefallen. Anne entschuldigte sich sofort mit hochrotem Kopf, bückte sich nach ihrer Tasche und wollte auch dem Mann seine heruntergefallenen Habseligkeiten wiedergeben. Dieser kam ihr jedoch zuvor und hob seinen Schlüssel und das Buch schnell wieder auf. Dabei rutschte seine Kapuze ein Stück nach hinten. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie sich in die Augen. Anne erstarrte, denn diese Augen kamen ihr merkwürdig bekannt vor. Noch während der Mann sich aufrichtete und losrannte, fiel es ihr ein: Es waren dieselben eisblauen Augen, wie aus ihren Träumen.

Bis sie realisierte, was gerade geschehen war, war der Mann bereits verschwunden und auch sonst war weit und breit kein Mensch auf der Straße zu sehen. Warum kamen ihr die Augen dieses Mannes so bekannt vor, wenn sie ihn doch gar nicht kannte? Sie bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper und ihr Atem ging schneller. Als sie ihre Tasche langsam wieder vom Boden aufheben wollte, entdeckte sie darunter etwas Kleines, Rechteckiges. Anne griff nach dem Gegenstand, der unter ihrer Tasche verborgen gewesen war. Ein altmodisches, zerkratztes Klapphandy in dunkelgrau. Es lag schwer in ihrer Hand und fühlte sich wärmer an, als sie erwartet hatte. Sie hörte ihren Herzschlag so laut pochen, dass sie dachte, ihr Herz wolle ihr aus der Brust springen.

Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, klappte sie das Handy auf. Mit einem leisen Piepen aktivierte sich das Display. Das Hintergrundbild flackerte auf, direkt danach wurde das Display wieder schwarz – Akku leer. Doch das Bild hatte sich in der einen Sekunde bereits auf Annes Netzhaut eingebrannt. Schlagartig wurde ihr übel. Auf dem Hintergrundbild des Handys war sie selbst zu sehen gewesen.

Sie konnte sich kaum daran erinnern, wie sie losgerannt war, um ihr Fahrrad zu holen und dann so schnell sie konnte nach Hause zu fahren. Panik stieg in ihr hoch und Angst machte sich breit. Ihr liefen Tränen die Wangen herunter und sie schaute sich ständig um, konnte jedoch niemanden ausmachen. Trotzdem blieb das ungute Gefühl, dass sie verfolgt wurde. Zu Hause schmiss sie die Wohnungstür hinter sich zu und zog die Kommode vor die Tür, um sie damit zu verbarrikadieren.

Als Anne sich schließlich hinsetzte, die Arme um die Knie geschlungen, versuchte sie, sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Wer war dieser Mann? Woher kannte sie seine Augen, wenn sie sich doch nicht an ihn erinnerte und warum hatte er ein Bild von ihr auf seinem Handy? Und noch schlimmer: Warum war sie auf dem Bild splitternackt? Je mehr sie über diese Fragen nachgrübelte, desto mehr tat ihr Kopf weh. Aber Antworten fand sie keine. Sie hatte das Foto nie zuvor gesehen und konnte sich auch nicht erinnern, dass jemals solch ein Foto von ihr gemacht worden war. Wenn sie doch bloß das Bild noch einmal ansehen konnte, vielleicht hatte sie sich ja auch verguckt? Oder etwas übersehen?

Kurzentschlossen stand sie auf und kramte aus ihrer Schublade den Schuhkarton mit alten Kabeln hervor, die ihr ehemaliger Mitbewohner damals in der Wohnung vergessen hatte. Nach der Entwirrung einiger Kabel fand sie, wonach sie gesucht hatte: Ein altmodisches Ladekabel. Sie zitterte, während sie versuchte, den Stecker in den Anschluss des Klapphandys zu stecken. Beim dritten Versuch konnte sie endlich ihre Hände beruhigen und schaffte es, das Handy an den Strom anzuschließen. Sie fühlte sich kraftlos und nervös, während sie wartete, dass das Handy genug Akku hatte, um sich wieder einzuschalten. Die Minuten vergingen quälend langsam, bis das Handy mit einem Piepen ankündigte, dass es wieder eingeschaltet war. Kurz darauf leuchtete das Display wieder auf. Auch wenn Anne auf das, was sie sehen würde gefasst gewesen war, verschlug es ihr erneut den Atem.

Das Bild, das sie erwartete, zeigte zwar sie selbst. Jedoch war es ein älteres Bild von ihr, eines, auf dem sie deutlich jünger war als heute. Sie lag nackt und zerbrechlich auf einer dunklen Matratze. Ihr Blick war emotionslos direkt in die Kamera gerichtet und ihre Lippen formten sich zu einem gezwungenen Lächeln. Aber was Anne am meisten verstörte, war die Tatsache, dass sie sich überhaupt nicht an diese Situation erinnern konnte. Sie fröstelte und musste an den Mann mit den eisblauen Augen denken. Wer war er und was war in der Vergangenheit geschehen, woran sie sich offensichtlich nicht mehr erinnern konnte?

Dass sich Anne an etwas nicht erinnern konnte, war grundsätzlich nicht ungewohnt für sie. Sie litt seit frühester Kindheit unter Gedächtnisverlust und wurde als 16-jähriges Mädchen ohne jegliche Erinnerungen an einem Waldrand von der Polizei gefunden. Zunächst hatte sie gehofft, dass ihr Gedächtnis zurückkehren würde oder ihre Familie oder Freunde nach ihr suchen würden. Nach mehreren Monaten ergebnisloser Ermittlungen, musste sie sich jedoch eingestehen, dass keiner kommen würde, um nach ihr zu suchen. Nach wie vor konnte sie sich weder an ihre Vergangenheit noch an ihre Familie oder gar ihren eigenen Namen erinnern. Darum wurde sie vorübergehend in einem Jugendheim untergebracht, wo ihr eine der Betreuerinnen den Namen Anne gab. Anne nach Anne Hathaway, da ihre großen, melancholisch wirkenden braunen Augen denen der hübschen Schauspielerin so ähnlich waren. Später zog Anne in eine Wohngruppe und konnte sich dann nach und nach ihr eigenes Leben aufbauen und allein wohnen. Die Therapie, die sie machte, brachte zwar keine alten Erinnerungen zurück, half ihr aber, mit der Ungewissheit klarzukommen und die Fragen, die sie hatte, als Teil ihrer Identität anzunehmen. Inzwischen hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass sie jemals etwas über ihre Vergangenheit erfahren oder gar ihre Familie finden würde. Die Kollegen in dem Café waren jetzt ihre Familie. Und ihr gefiel das Leben, das sie sich, über die letzten Jahre, mühsam aufgebaut hatte. Ihre Vergangenheit spielte keine Rolle in ihrer Gegenwart. Damit hatte sie sich arrangiert und abgefunden.

Auch wenn sie sich früher nichts sehnlicher gewünscht hatte, als ihre Erinnerungen zurück zu erlangen, war das, was sich jetzt als Nebelschleier ungenauer Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge zusammenfügte, ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte.

Ein schrilles Piepsen riss Anne aus ihrer Starre und sie zuckte zusammen. Das Handy zeigte nun nicht mehr das Bild von ihr. Dieses war in den Hintergrund gerückt, denn auf dem Handy war eine Nachricht von einer unbekannten Nummer eingegangen. Sie zögerte einen kurzen Moment und schluckte, bevor sie die Nachricht öffnete.

„Karo meine Süße, ich weiß, dass du mich nicht vergessen hast.
Glaube mir, ich wollte nicht, dass unser erstes Zusammentreffen so abläuft.
Aber ich werde meinen Fehler wiedergutmachen.
Ich werde dich finden und wenn es das Letzte ist, was ich tue.
Und dann wirst du deine gerechte Strafe für das bekommen, was du getan hast…“

Ihre Armhaare stellten sich auf, während Anne die Nachricht wieder und wieder las. Wer war Karo? Oder meinte der Unbekannte etwa sie? Sie vermochte sich kaum vorzustellen, wie er sich ihr Zusammentreffen ausgemalt hatte oder was er damit gemeint hatte. Anne musste an das Hintergrundbild denken und daran, wie hoffnungslos und zerbrechlich ihr jüngeres Ich darauf ausgesehen hatte. Angst durchströmte sie. Was hatte das alles zu bedeuten und wofür wollte der Unbekannte sich rächen? Der Gedanke, dass all das mit ihrer Vergangenheit zusammenhing, ließ sie erschaudern. Trotzdem wollte sie wissen, was passiert war, um herauszufinden, was der Unbekannte mit den eisblauen Augen von ihr wollte. „Und dann wirst du deine gerechte Strafe für das bekommen, was du getan hast“, murmelte sie leise vor sich hin. Aber je häufiger sie die Nachricht las, desto weniger Sinn ergab sie in ihren Augen. „Ich werde dich finden und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Erst langsam realisierte Anne, in welcher Gefahr sie sich befand. Was war, wenn der Mann ihr zu ihrer Wohnung gefolgt war? Wenn er gefährlich war? Sie musste hier sofort weg.

Kurzentschlossen stand sie auf, nahm sich ihren Rucksack und schmiss wahllos einige Dinge hinein. Einen dicken Pullover, eine Taschenlampe, eine Packung Reiswaffeln, eine Flasche Wasser und das Bargeld aus ihrem Schmuckkästchen, das sie für Notfälle angespart hatte. Noch bevor sich ein konkreter Plan in ihrem Kopf festigen konnte, war ihr Rucksack gepackt und sie überlegte, wo sie hingehen könnte. Sie wollte erstmal nur weg von hier, irgendwohin wo der Unbekannte sie nicht so leicht finden konnte. Dort könnte sie dann in Ruhe überlegen, wie es weitergehen sollte. Gerade als sie neuen Mut gefasst hatte, klingelte es an der Wohnungstür und ihr Enthusiasmus wich im Bruchteil einer Sekunde panischer Angst. Es war zu spät – er hatte sie bereits gefunden.

Wieder klingelte es und ihr wurde übel. Schnell sah sie sich in ihrer Wohnung um, nach einem Gegenstand, den sie als Waffe benutzen konnte. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie es dunkel geworden war, und so ging sie auf Zehenspitzen in die Küche und tastete im schwachen Licht der Dämmerung nach der Besteckschublade. Sie wagte kaum, zu atmen. Leise holte sie das größte Messer, das sie hatte, aus der Schublade.

Jetzt klopfte es an ihrer Wohnungstür. „Anne, bist du da?“ Sie atmete erleichtert aus und entspannte ihre Muskeln. Es war Daniel. Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Schreckhaftigkeit und legte das Messer auf der Arbeitsplatte ab. Das Date hatte sie bei dem ganzen Schrecken total vergessen. Aber in diesem Zustand konnte sie ihm nicht gegenübertreten. Wie hätte sie die ganze Situation erklären sollen, wenn sie sie doch selbst nicht verstand?

„Bitte mach doch auf. Wir haben uns beim letzten Mal so gut verstanden, ich hoffe du hast deine Meinung nicht geändert?“, fragte er und klopfte nun zaghafter gegen die Tür. In Annes Kopf ratterten die Gedanken. Auch wenn sie Angst um Daniel hatte, fühlte sie sich doch etwas sicherer, jetzt wo er hier war. Vielleicht konnte er ihr helfen, unbemerkt von hier zu verschwinden. Sie ging zur Tür und sah durch den Spion. Da stand Daniel, mit seinen verstrubbelten Haaren und den Grübchen auf den Wangen. Und er hielt Blumen in der Hand. Für einen Moment vergaß sie das Handy, was noch immer auf dem Küchentisch lag, schob die Kommode zur Seite und öffnete die Tür.

Sie war so froh und erleichtert, Daniel zu sehen, dass sie ihm um den Hals fiel und ihn umarmte. Als sie ihn hereinbat, schien er das Chaos in ihrer Wohnung und den gepackten Rucksack neben der Tür nicht zu bemerken, zumindest ließ er beides unkommentiert.  „Mensch Anne, ich hatte wirklich schon Angst, dass du mich nicht mehr reinlässt. Das wäre das schlimmste Date aller Zeiten gewesen“, sagte er lächelnd und übergab ihr die Blumen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und war froh, mit der Suche nach einer geeigneten Vase erstmal eine Aufgabe zu haben und aus seinem Blickfeld verschwinden zu können. Sie zermarterte sich das Hirn, wie sie ihn darum bitten konnte, ihr zu helfen, schnell und unauffällig von hier zu verschwinden, ohne dass Daniel sie für verrückt halten oder Fragen stellen würde. Geistesabwesend legte sie das große Küchenmesser wieder in die Schublade zurück und öffnete den Schrank, um eine Vase herauszuholen. Gerade als sie den Schrank wieder schließen wollte, hörte sie ein Klopfen, gefolgt von einem dumpfen Poltern. Sie ging zurück in den Flur, um nachzusehen, was passiert war. Sie sah Daniel reglos auf dem Boden liegen. Im äußersten Winkel ihres Auges vernahm sie eine Bewegung. Als sie sich herumdrehte, traf sie ein harter Schlag von hinten am Kopf. Noch während sie zu Boden sackte, wurde ihr schwarz vor Augen.

Als Anne zu sich kam, fand sie sich in ihrem Traum wieder. Jedoch wusste sie instinktiv, dass es dieses Mal keiner war. Der Ort hatte starke Ähnlichkeit mit dem Keller aus ihren Träumen, aber jetzt war die Dunkelheit noch realer, genauso wie die tief in den Steinwänden sitzende Kälte und auch der feuchte modrige Geruch. Es war wie ein Déjà-vu, jedoch verschlug ihr die Realität dieser Situation den Atem. Anne lag auf einer zerschlissenen Matratze in dem kleinen dunklen Kellerraum. Sie wusste nicht ob es derselbe Raum war, auf dem das Handy-Hintergrundfoto von ihr damals entstanden war. Jedoch kamen bei dem Anblick der Matratze und des Raumes keinerlei alte Erinnerungen zurück. Trotzdem spürte sie die Beklemmung in ihrem ganzen Körper. Anne fasste sich an den schmerzenden Hinterkopf. Sie konnte nicht einschätzen, wo sie war oder wie lange sie bewusstlos gewesen war. Es hätten ein paar Minuten oder auch einige Stunden gewesen sein können.

Wie war sie hierher gelangt? Sie erinnerte sich noch, wie sie in ihrer Küche stand und… Daniel! Ihr stiegen Tränen in die Augen. Sie hatte Daniel am Boden liegen sehen, bevor sie selbst, von einem Schlag auf den Hinterkopf, ohnmächtig geworden war. Jemand musste Daniel in die Wohnung gefolgt sein, nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte. Aber was wollte der Unbekannte von ihr und was hatte er mit Daniel gemacht? Sie hoffte, dass Daniel noch am Leben war. Aber um das herauszufinden, musste sie erst einmal herausfinden, wo der Unbekannte sie hingebracht hatte.

Die einzige Lichtquelle war eine schwach flackernde Glühbirne über der geschlossenen Holztür. Langsam setzte sie sich auf und sah sich in dem kleinen quadratischen Raum um. Es gab kein Fenster und keine Möbel, außer der Matratze, auf der sie saß. Sie schaute an ihrem Körper herab, tastete nach ihren Gliedmaßen und versuchte herauszufinden, ob sie verletzt war. Außer dem dumpf pochenden Schmerz an ihrem Hinterkopf konnte sie jedoch keine weiteren Verletzungen an ihrem Körper feststellen.

Leicht schwankend versuchte sie aufzustehen und ging langsam auf die Tür zu. Sie legte ihre zitternden Finger auf das kalte Metall der Klinke und drückte sie vorsichtig herunter. Zu ihrer Überraschung war sie nicht verschlossen. Um kein Geräusch zu machen, öffnete sie die schwere Holztür so sanft wie möglich. Vor ihr lag ein kalter dunkler Gang, links und rechts gesäumt von dunklen Steinwänden, das Ende verschluckt von der Dunkelheit. Da die einzige Lichtquelle die flackernde Glühbirne in dem Raum hinter ihr war, sah sie lediglich ihren eigenen Schatten auf dem Boden, der immer länger wurde, je weiter sie den Gang entlangging. Anne hätte gerade alles darum gegeben, die Taschenlampe, die sie noch vor kurzem in ihrer Wohnung in den Rucksack gepackt hatte, nun bei sich zu haben.

Langsam tastete sie sich mit der Hand an der rechten Seite des Ganges entlang, die Hand zur Orientierung an die kalte Steinwand gelegt. Die Dunkelheit umhüllte sie nun immer mehr. Angestrengt lauschte sie nach einem Geräusch, etwas, das angekündigt hätte, dass sie sich nicht allein in diesem Gang befand. Doch sie hörte nur ihren eigenen Atem, der stoßweise ging und ihre leisen Schritte auf dem steinernen Boden. Nach einigen Metern ertastete Anne an der rechten Wand etwas, was sich wie ein Türrahmen anfühlte. Sie überquerte die Türschwelle und betrat den Raum, in der Hoffnung, auf diesem Wege nach draußen zu gelangen. Doch plötzlich hört sie eine tiefe Männerstimme direkt hinter sich. „Na, schaust du dich in deinem neuen Zuhause um?“ Sie erschrak so sehr, dass sie stolperte und hart mit den Knien auf dem Steinboden aufschlug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und starr vor Angst, drehte sie sich um. Im Türrahmen stand eine große, stämmige Gestalt, die nun ihre Taschenlampe anschaltete und direkt auf Anne richtete. Sie wich ein Stück zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Steinwand stieß. Der Unbekannte fing laut und donnernd an zu lachen.

„Ach Karo, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen müssen. Du weißt, dass du dir das selbst zuzuschreiben hast, nicht wahr?“ Der Mann, dem die Situation hörbar Freude zu bereiten schien, ging auf sie zu. Während er etwa einen Schritt vor ihr stehen blieb und sich ungelenk hinkniete, traf der Lichtschein seiner Taschenlampe für einen Moment sein Gesicht. Die blauen Augen. Es war der Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, der, von dem Anne immer wieder geträumt hatte. „Ich habe dir gesagt, dass ich mich rächen werde. Du sollst mindestens genauso leiden, wie du mich hast leiden lassen, Karo. Verstehst du das?“ Etwas in der Art, wie er mit ihr redete, kratzte an ihren Erinnerungen, sie vermochte aber nicht, es zu greifen.

Als er sprach, spürte Anne seinen Atem in ihrem Gesicht. Er hatte Mundgeruch und roch nach kaltem, abgestanden Zigarettenrauch und Schweiß. Sie wagte nicht, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. „Antworte mir!“, entfuhr es ihm nun mit lauter, wütenderer Stimme. Sie zuckte noch mehr zusammen. „Ich… ich heiße nicht Karo… Sie müssen mich verwechseln“, stammelte sie verängstigt. „Achja, du nennst dich jetzt Anne, habe ich Recht?“ Er sprach den Namen mit so viel Verachtung aus, als wollte er ihn vor ihre Füße spucken. „Der junge Mann aus deiner Wohnung, der so freundlich war, mir die Tür zu öffnen, hat dich jedenfalls so genannt“, ergänzte er mit einem teuflischen Grinsen.

„Was hast du mit Daniel gemacht?“, entfuhr es ihr. „Keine Sorge, der wird dich nicht mehr belästigen, dafür habe ich gesorgt. Du gehörst doch zu mir.“ Anne fing an zu Schluchzen, was ihn nur noch mehr in Fahrt zu bringen schien. „Wirklich clever von dir, dich von deinem alten Namen zu trennen und in eine andere Stadt zu verschwinden. Aber ich habe dich trotzdem gefunden“, sagte er triumphierend. „Du kannst dich so viel verstellen, wie du willst, doch ich weiß, dass du dich an mich erinnerst. Und an das, was du mir angetan hast. Aber damit wirst du nicht durchkommen. Auch wenn es Jahre gedauert hat, dich zu finden, aber nochmal lasse ich dich nicht entkommen“, sagte er selbstüberzeugt. Anne war nun noch verängstigter und verwirrter als zuvor.

„Wie lange kennen wir uns nun schon? Du warst noch so ein kleines Mädchen, als du mit deinen Eltern in das Haus nebenan gezogen bist. Wir haben uns doch immer so gut verstanden, Karo“, sagte er in etwas versöhnlicherem Tonfall. Annes Magen drehte sich um, als er ihre Eltern ansprach und schlagartig wusste sie, wer da vor ihr saß. Bilder aus ihrer frühesten Kindheit tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Bilder von ihr, wie sie mit ihren Eltern im Garten spielte. Wie ihre Eltern sich liebevoll um sie kümmerten. Bilder, wie sie bei ihrem netten Nachbarn auf der Terrasse saß und Eis aß oder in seinem großen Kirschbaum herumkletterte.

„Ah, wie ich sehe, erinnerst du dich“, riss er sie aus ihren Erinnerungen. „Ich wusste schon immer, dass wir eine besondere Verbindung haben, du und ich. Welch Schande, dass du mit der Zeit immer seltener zu mir rübergekommen bist. Dabei bist du doch zu so einem hübschen Mädchen herangewachsen. Kannst du dich noch daran erinnern, als du mit deinen 14 Jahren zu mir herübergekommen bist, um dich von mir zu verabschieden? Dein Vater, der Idiot, musste ja unbedingt wegen seines Jobs schon wieder in eine andere Stadt ziehen und euch mitnehmen.“ Verächtlich spuckte er auf den Boden.

Während er vor ihr hockte und gedankenverloren von früher erzählte, kehrten bei Anne langsam die verschwommenen Erinnerungen an all diese Situationen zurück. Bruchstücke aus der Vergangenheit, setzen sich zu einem größeren Bild zusammen. „Ich wusste, dass das erst der Beginn unserer Liebe war, meine süße Karolina“, schwelgte er weiter in Erinnerungen. Als er ihren vollen Namen aussprach, traf es sie wie ein Schlag. Ohne dass er weiterreden musste, wusste sie, was danach geschehen war! Er hatte sie damals unter falschem Vorwand in sein Haus gelockt, wo er sie gefesselt und vergewaltigt hatte. Er hatte sie für eine lange Zeit in seinem Keller eingesperrt, wie eine Sklavin gehalten und ihr das Leben zur Hölle gemacht.

Bei diesen plötzlichen, schmerzhaften Erinnerungen wurde Anne übel und sie übergab sich auf den Kellerboden. Ihr Gegenüber musterte sie nur mit selbstgefälligem Blick und einem Grinsen auf den Lippen, das sie selbst im Halbdunkeln der Taschenlampe erkennen konnte. Wut stieg in ihr auf und sie rang nach Atem. „Ich erinnere mich an alles Norbert! Ich erinnere mich an alles, was du mir angetan hast! Damit wirst du nicht durchkommen“, schrie sie ihn an. „Was ich dir angetan habe? Karo, ich habe dir ein schönes Leben ermöglicht und wir konnten zusammen sein. Du musstest nicht mit deinen nichtsnutzigen Eltern wegziehen, dafür habe ich gesorgt. Dafür solltest du dankbar sein“, brüllte er wütend zurück und schlug sie so stark, dass sie zur Seite kippte und mit der linken Seite ihres Gesichts auf dem Boden aufschlug.

„Was hast du mit meinen Eltern gemacht?“, wimmerte sie leise, am Boden zusammengekauert. „Ich?“ lachte er. „Ich habe nichts gemacht. Deine Eltern sind leider an dem Tag, an dem du bei mir eingezogen bist, in dem tragischen Feuer in eurem Haus ums Leben gekommen. Du nach offiziellen Erkenntnissen übrigens auch. Das war doch das Gute an meinem Plan. So konnten wir endlich ungestört zusammen sein, ohne dass jemand Fragen stellen oder nach dir suchen würde“, erklärte Norbert sachlich und mit liebevollem Unterton. Anne schluchzte leise und versuchte, sich aufzusetzen.

Doch die Wut, die in Norbert kochte, sprudelte erneut über. Wieder schlug er sie ins Gesicht, diesmal noch stärker als zuvor, sodass sie erneut mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. „Wir konnten endlich zusammen sein! Aber du musstest ja alles zerstören. Du hast mein Leben zerstört, Karolina, weißt du das? Dass du meine Schwester getötet hast, werde ich dir niemals verzeihen. Du hast mir meine einzige Familie genommen, dabei habe ich für dich alles getan! ALLES! Dafür wirst du büßen.“

Anne, die durch den harten Aufschlag auf den Boden erneut drohte, das Bewusstsein zu verlieren, schloss die Augen. Sofort spielte sich die Situation von damals wie ein Film vor ihren Augen ab. Die Gefangenschaft und die Misshandlungen von Norbert hatten sie geschwächt und abgestumpft. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie schon in diesem Keller war oder wie ein Leben ohne Schmerzen sich angefühlt hatte. Doch eines Nachts war nicht Norbert zu ihr gekommen, um sich an ihr zu vergehen. Eine zierliche Frau, etwas jünger als Norbert, stand plötzlich neben Annes Matratze und weinte leise, als sie sie sah. Sie sagte ihr, sie sei die Schwester von Norbert und sei bei ihm zu Besuch. Jedoch war sie ohne sein Wissen hinter sein Geheimnis gekommen und wollte Anne befreien. Sie war schockiert, wie ihr Bruder all die Jahre lang ein junges Mädchen gefangen halten konnte, ohne dass es jemand mitbekommen hatte und war bereit, gegen ihn auszusagen und ihn an die Polizei auszuliefern.

Jedoch ging bei ihrem Fluchtversuch etwas schief. Als die beiden Frauen hastig die Kellertreppe hinaufstiegen, stand Norbert plötzlich im Dunkeln vor ihnen. Er dachte, statt seiner Schwester würde Anne vor ihm stehen und war so wütend über ihren Fluchtversuch, dass er sie, getrieben von seiner Aggression, kurzerhand rückwärts die Treppe hinunter schubste. Als er jedoch erkannte, dass es sich um seine Schwester handelte, die dort, mit unnatürlich verdrehtem Körper, am Fuße der Treppe lag, rannte er schnell hinunter. Dabei bemerkte er Anne nicht, die sich im Dunkeln flach gegen die Wand gepresst hatte und diese Chance nutzte, um leise an ihm vorbeizueilen und zu fliehen.

„Ich will, dass du mich anschaust, wenn ich mit dir rede“, schrie Norbert die am Boden liegende Anne an. Unsanft schüttelte er sie und holte sie in die Gegenwart zurück. Jetzt, wo die Erinnerungen an ihre damalige Flucht vor Norbert zurückgekehrt waren, wurde ihr erst der Ernst ihrer Lage bewusst. Norbert glaubte, dass allein sie Schuld an dem Tod seiner Schwester hatte. Offenbar hatte er die Erinnerung so in seinem Gedächtnis zurechtgerückt, als träfe ihn keine Schuld. Und nun wollte er Rache für den Tod seiner Schwester.

Anne öffnete die Augen. Norbert sah verächtlich von oben auf sie herab. „Was hast du mit mir vor?“, fragte sie leise und mit zittriger Stimme. Sie versuchte, sich vorsichtig wieder aufzusetzen und unauffällig etwas Abstand zu Norbert zu gewinnen. Trotz des spärlichen Lichts der Taschenlampe, konnte sie die eisblauen Augen Norberts erkennen, die sie durchdringend ansahen. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich Rache will! Dafür, dass du meine Schwester umgebracht hast.“ Er stand auf, nahm die Taschenlampe in die Hand und riss Anne am Handgelenk nach oben. Ihr war schwindelig und sie konnte sich nur schwer auf den Beinen halten, aber sein Griff war so fest, dass sie sich kaum bewegen konnte. „Ich werde dafür sorgen, dass du deine gerechte Strafe bekommen wirst. Dafür, dass du meine Schwester getötet hast und vor mir weggelaufen bist. Komm mit!“

Er zog sie dicht hinter sich her, durch die Tür, den Gang entlang und hin zu dem Kellerraum, in dem Anne zuvor aufgewacht war. Sie wusste, was ihr jetzt bevorstand. Auch wenn sie keine Schuld an dem Tod von Norberts Schwester trug, so würde sie ihm das in seiner verdrehten Sicht der Welt niemals klarmachen können. Sie erinnerte sich an ihre letzte Gefangenschaft in seinem früheren Keller und an die vielen gescheiterten Fluchtversuche, die nur weitere Folter und Misshandlungen zur Folge hatten. Ihre Tränen rannen die Wangen hinunter und jegliche Hoffnung, hier jemals wieder rauszukommen, verließ sie.

Unsanft schubste er sie in Richtung Matratze. „Willkommen in deinem neuen Zuhause! Ich habe sogar ein Willkommensgeschenk für dich“, sagte er, gefolgt von seinem dröhnenden Lachen, und öffnete geräuschvoll seinen Hosenstall. Während Anne vornüber auf der zerschlissenen Matratze landete, spürte sie einen Schmerz an ihrer Leiste. Sie griff instinktiv mit ihrer Hand an den schmerzenden Punkt und ertastete in ihrer Hosentasche das Taschenmesser mit dem Korkenzieher, das sie von Miguel geschenkt bekommen hatte. Adrenalin durchströmte sie bis in die Fingerspitzen, als sie den kleinen abgerundeten Gegenstand unauffällig aus ihrer Tasche zog, während sie Norbert mit schweren Schritten auf sich zukommen hörte. Als er sich über sie beugte, drehte sie sich blitzartig um, klappte das Messer aus und rammte ihm das Messer von der Seite in die Brust. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte er zur Seite, die Lippen zu einem stummen Schrei geformt. Er fiel zu Boden. Anne nahm die Taschenlampe und rannte los. Den dunklen, kühlen Gang entlang, der endlos zu sein schien. Irgendwann sah sie am Ende die Stufen einer Treppe, die sie hinaufeilte und oben die schwere Tür aufstieß.

Tageslicht stieß ihr entgegen und blendete sie. Für einen Moment suchte sie Orientierung und rannte dann durch den spärlich eingerichteten Hausflur, zur Haustür hinaus, nach draußen. Erschöpft und verletzt stolperte Anne mit letzter Kraft die Straße entlang. Dann verlor sie das Bewusstsein.

4 thoughts on “Bruchstücke der Vergangenheit

  1. Gänsehaut! Ich finde den Stimmungswechsel vom bunten, liebevollen Cafe bis hin zum düsteren Keller unfassbar stark! Dein Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Das Thema ist düster, furchtbar, unvorstellbar und doch leider realistisch, möglich und dann auch wieder fast zu gut vorstellbar – was dem ganzen noch eine Portion Gänsehaut beschert. Auch das Ende mit der leisen Andeutung auf das Folgende finde ich spannend und gut gewählt für diese Geschichte. Ich bin sehr froh unter all den Geschichten auch auf deine gestoßen zu sein! LG Lisa

  2. Hej, Nina, starkes Stück Thriller hast Du hier abgeliefert. Ich finde, Du hast Dir viele Gedanken gemacht, wie das Handy zu ihr kommt, wie ihre Geschichte ist (und seine) und hast einen soliden Spannungsbogen aufgebaut. Gut gemacht! Mein Like hast Du!

    Kathrin aka Scripturine / https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/die-nacht-in-der-das-fuerchten-wohnt … für den Fall, dass Du es schaffen solltest, einen Gegenbesuch einrichten zu können 😉

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