CassiaDamals in Schwerin

 

Wasser troff ihm in den Kragen und lief seinen Rücken hinunter. Jimmy straffte die Schultern und zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Nur noch diese eine Sache. Nur diese eine, dann würde er endlich sein Leben in den Griff bekommen, Arbeit suchen, eine eigene Wohnung und alles das, was man als vorbildlicher Bürger eben so hatte. Weiße Hemden, eine Steuernummer und einen kleinen Hund, der ihm die Lederschuhe zerkaute. Und es war nichts Kompliziertes, nichts konnte schief gehen oder seiner Kontrolle entgleiten. Nur noch diese eine Sache.

Ein letztes Mal warf er einen Blick nach rechts, dann nach links. Die Straße schwieg. Die Laterne, unter der er stand, war aus. Zehn Meter weiter flackerte die nächste unregelmäßig, als ob sie den Nachbarn etwas morsen wollte. Einen Hilferuf vielleicht. Jimmy kicherte in sich hinein, dann schulterte er seinen Rucksack und überquerte die Straße. Seine Turnschuhe schmatzten bei jedem Schritt. Er drückte sich zwischen den Sträuchern hindurch, die das Grundstück umgaben. Einige Dornen verfingen sich in seinem Pullover. Er fluchte, zog seinen Arm aus dem Gebüsch und fand sich vor einem Maschendrahtzaun wieder, der über ihm aufragte. Seine Fingern tasteten sich an den Drähten entlang, bis sie die Stelle fanden, an der er vor zwei Tagen vorgearbeitet und ein Loch in den Zaun geschnitten hatte. Er dankte dem Jimmy von vor zwei Tagen, bog die leeren Enden auseinander und steckte ein Bein durch die Lücke.

Im Gebüsch neben ihm raschelte es, dann polterte ein Schatten heraus.

»Was zum – » Jimmy wollte einen Satz zurück machen, aber sein Bein verfing sich im Zaun und er landete auf den Knien im nassen Gras.

»Ssschht! Du weckst die ganze Straße!«, zischte ihm der Schatten zu.

Während er noch nach Luft schnappte, wurde er an der Schulter gepackt und wieder auf die Füße gezerrt.

Jimmy schüttelte sich, kniff die Augen zusammen und starrte durch die Dunkelheit auf sein Gegenüber.

»Tom?«, flüsterte er.

»Wen hast du denn sonst erwartet?«

»Ähm…«

Sein Kumpel schob ihn weiter durch den Zaun, bevor ihm eine schlagfertige Antwort eingefallen war.

»Na, los, durch da, ich frier mir hier den Arsch ab.«

Jimmy schluckte kurz, bevor er sich durch die Lücke quetschte. Dem Stöhnen und Quietschen nach zu urteilen, tat Tom es ihm gleich. Jimmy schüttelte den Kopf und wandte sich dann der Villa zu, die einige Meter von ihnen entfernt schweigend im Dunkeln verharrte.

Schritt für Schritt schlitterte über das Gras. Der Regen war ihm inzwischen bis ins Gesicht gelaufen. Wasser brannte in seinen Augen.

Er blieb stehen und drehte sich zu Toms Schatten um, der ihm gefolgt war.

»Was machst du überhaupt hier?«

»Dir helfen.«

Jimmy blinzelte in den faden Schein der Laterne, die auf der Straße flackerte.

»Ich hab dir doch gesagt, ich komme allein klar.«

Im Halbdunkel konnte er sehen, wie Tom mit den Schultern zuckte.

»Bisschen Unterstützung ist immer gut, oder? Man weiß ja nie, was es so für Probleme gibt.«

»Gar keine. Es ist niemand zu Hause.«

Tom schnaubte. »Woher willst du das wissen?«

»Von meiner Quelle.«

»Ahh, na dann. Und wie sicher ist die so, deine Quelle?«

Ein Auto rauschte die Straße herunter und ließ Jimmy zusammenzucken. Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und stapfte weiter auf das Haus zu. Das hier war nicht der richtige Ort für Diskussionen und er wollte kein Risiko eingehen. Nicht heute. Nicht schon wieder.

Durch das Rauschen des Regens konnte er den schweren Atem von Tom hören, der ihm hinterher polterte. Sie erreichten das Haus und Jimmy tastete sich an der glitschigen Fassade entlang um eine Ecke.

»Verdammt!«

Ein dumpfer Schmerz zuckte durch seine Kniescheibe.

»Was ist?«, rief Tom hinter ihm.

»Nichts«, presste er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch, »hab nur die Kellertreppe gefunden.«

Er ließ seinen Rucksack auf den Boden sinken, zog den Reißverschluss auf und angelte eine Taschenlampe heraus, die er Tom in die Hand drückte.

»Hier, mach dich wenigstens nützlich.«

Die Lampe flackerte auf und Jimmy musste einige Male blinzeln, bevor sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Dann hiefte er das Brecheisen aus dem Rucksack. Die Kellertür schien nicht sehr dick zu sein. Er hatte kaum angesetzt, da splitterte das Holz auf Höhe des Schlosses und die Tür flog nach Innen auf. Tom ließ das Licht der Taschenlampe durch den Raum schweifen, während Jimmy seinen Rucksack packte und in den Keller hinein huschte. Plötzlich ging das Licht an.

Jimmys Atem stockte. Er wirbelte auf dem Absatz herum und sah Tom an der Tür, eine Hand noch am Lichtschalter.

»Spinnst du?!«, zischte er.

»Ich denke, es ist eh keiner zu Hause.«

Jimmy biss sich auf die Lippe und starrte seinen Kumpel an, dessen Schultern die gesamte Tür ausfüllten.

»Aaa..aber, wenn…wenn jetzt…«

»Entspann dich«, sagte Tom. »Es ist zwei Uhr nachts, hier sucht niemand Kellerfenster nach Licht ab.«

Er schaltete die Taschenlampe aus und gab sie an Jimmy zurück, der sie zusammen mit der Brechstange wieder in seinem Rucksack verstaute. Wieso hatte er dem Kerl auch von heute Abend erzählen müssen?

Tom schlenderte an ihm vorbei und begutachtete die Regale, die fast den gesamten Raum ausfüllten. Sie waren vollgestopft mit Werkzeugen, Ersatzteilen und leeren Blumentöpfen. Hier und da nahm Tom etwas aus dem Regal, drehte es ein paar Mal hin und her und legte es dann wieder zurück. Als Jimmy ihm folgen wollte, fiel ihm eine Ausbuchtung in Toms Jacke auf. Schlagartig blieb er stehen. Sein Kumpel hatte die Reaktion bemerkt und wandte sich um.

»Was ist nun wieder?«

Jimmy deutete auf seine Jackentasche. »Was hast du da drin?«

»Nichts.«

»Verarsch mich nicht!«

Toms musterte ihn für einen Moment, bevor er langsam in seine Jacke griff und eine Pistole herauszog. Jimmys Atem stockte. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinunter und vermischte sich mit den eisigen Regentropfen.

»Jetzt guck halt nicht so blöd, ist nur zur Sicherheit«, sagte Tom.

»Was zum…was…was soll das?«

Tom schob die Pistole in die Jacke zurück, ging auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Druck ließ Jimmy in die Knie gehen.

Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und sah zu seinem Kumpel auf.

»Hör mal, das ist keine gute Idee, ich meine…«

»Jetzt stell ich nicht so an«, sagte Tom. »Ich bin kein Amateur und das hier ist nicht Schwerin.«

Jimmy schob die Hand von seiner Schulter. »Das hab ich dir im Vertrauen erzählt«, zischte er.

Tom zog die Augenbrauen zusammen. »Weiß ich. Deswegen werde ich auch vertrauensvoll damit umgehen. Und jetzt lass uns sehen, dass wir hier fertig werden. Gibt´s hier noch mehr als dieses ganze Gerümpel?«

Ohne eine Antwort abzuwarten drehte Tom sich um und stieg die Treppe hinauf, die ins Erdgeschoss zu führen schien. In Jimmys Kopf sprangen Gedanken hin und her. Er könnte einfach umdrehen, umdrehen und abhauen, weg. Das klang nach einer guten Idee. Er war niemand, der bewaffnet in Häuser einbrach, niemand, der Angst und Schrecken verbreitete. Er war nur ein einfacher Dieb, kein Räuber, Erpresser, Mörder. Bis auf damals in Schwerin. Energisch schüttelte er den Kopf. Das war nicht seine Schuld gewesen, nicht seine Waffe, und überhaupt, auch nicht seine Idee. Aber er war dabei gewesen, oder nicht?

»Kommst du?« Tom war am oberen Ende der Treppe angekommen und hatte schon die Tür zum Erdgeschoss geöffnet. Und natürlich das Licht angeschaltet. Jimmy biss sich auf die Lippe. Er konnte einfach gehen. Aber das hier, das war die letzte Nummer, die allerletzte, die ihm das nötige Taschengeld beschaffen würde für einen Weg heraus. Wohin auch immer. Nur noch diese eine Sache. Und es war ohnehin niemand zu Hause.

Er straffte die Schultern und sprang die Stufen hinauf. Im Flur fand er Tom wieder, der wahllos Türen öffnete, um sich in den Zimmern nach Wertgegenständen umzusehen. Jimmy entschied sich für die Tür links von ihm. Die Wände des Raumes waren mit Bücherregalen gesäumt. Vor der Fensterfront stand ein Holzschreibtisch, der massiv und leicht bedrohlich wirkte, sodass der Laptop darauf etwas fehlplatziert schien. Jimmy ging um den Tisch herum und zog die Schubladen auf, aber ihm quollen nur unzählige Papiere entgegen. Er schnaubte und wollte zur Tür zurück, als sich sein Fuß an einem Kabel auf dem Boden verfing. Er ruderte mit den Armen durch die Luft und konnte sich gerade noch an der Schreibtischplatte abfangen. Als sein Ellenbogen gegen die Maus stieß, flackerte der Bildschirm des Laptops auf. Jimmy fluchte kurz, doch nach einem Blick auf den Bildschirm stockte ihm der Atem. Mit offenem Mund starrte er dem flackernden Monitor entgegen.

Ein Poltern aus dem Nachbarraum riss ihn aus seiner Erstarrung. Er sprintete in den Flur zurück, den Geräuschen nach, und fand sich im hell erleuchteten Wohnzimmer wieder, wo Tom gerade den Fernseher inspizierte.

»Wir müssen hier raus«, keuchte Jimmy.

»Was? Wieso?«

Jimmy wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Hier…hier stimmt irgendetwas nicht. Ich meine, also…«

Tom legte den Kopf schräg und musterte ihn. »Wovon redest du?«

»Da drüben!« Er fuchtelte mit den Armen in Richtung des Arbeitszimmers. »Da sind Fotos von mir auf dem Laptop!«

»Wie meinst du das?«

»Wie soll ich das schon meinen!«, rief Jimmy. »Da sind Fotos wie ich im Supermarkt stehe, oder einen Döner esse, oder…was weiß ich! Fotos halt. Das kann ja wohl kein Zufalls sein!«

»Stimmt, das wäre schon ein sehr merkwürdiger Zufall«, sagte eine leise Stimme hinter ihm.

Er wirbelte herum. In der Tür stand eine Frau.

»Scheiße«, murmelte Jimmy. Er sah zu Tom herüber, doch der stand nur regungslos neben dem Fernseher.

Jimmy räusperte sich. »Hören Sie, ähm…wir, also..wir sind hier offenbar falsch, wir verschwinden einfach schnell, ja? Kein Grund zur Sorge oder so.«

»Sie sind also falsch«, sagte die Frau. »Verstehe.« Ihre Stimme war tonlos und sie rührte sich kein Stück.

»Ja, ähm, lustige Geschichte.« Jimmys Blick huschte zum Fenster. Behutsam schob er einen Fuß nach hinten, dann den nächsten. »Wie gesagt, wir lassen Sie jetzt einfach wieder allein und dann -«

Sie hatte den Kopf gedreht, sodass das Licht aus dem Flur ihre Gesichtszüge erahnen ließ. Jimmys Eingeweide zogen sich zusammen.

»Ich kenne Sie«, flüsterte er. »Woher kenne ich Sie?«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber es erreichte ihre Augen nicht.

Einen Moment noch starrte er sie verwirrt an, dann, als ob jemand eine Schublade in seinem Gehirn geöffnet hätte, strömten Bilder an seinen Augen vorbei, von einem dunklen Haus, zwei Taschenlampen, die durch die Dunkelheit zuckten, dann Bewegungen, sein Partner neben ihm, ein metallisches Funkeln in seiner Hand, dann Schreie, Chaos, ein Schuss. Und schließlich eine Frau, diese Frau, die schrie, als der Schuss fiel, schrie, als sie auf dem Boden kauerte, die Arme um den großen Schatten gelegt, der vor ihr auf den Dielen zusammengesunken war, und immer noch schrie, als Jimmy rannte, raus aus diesem verdammten Haus, raus aus Schwerin.

Er blinzelte. Die Bilder verschwammen und die Gegenwart stürzte wieder auf ihn ein.

»Hören Sie«, stammelte er, »ich, also, es…es tut mir – »

Sie lachte auf. »Was? Es tut Ihnen Leid? Na, dann ist ja halb so schlimm, oder?«

Jimmy schluckte. In seinem Kopf huschte das Echo der Bilder umher.

»Was tun Sie hier?«, fragte er schließlich.

Das kalte Lachen auf ihrem Gesicht erstarb und ihr Blick sprang zu Tom hinüber, dessen Anwesenheit Jimmy völlig verdrängt hatte. Sein Blick folgte ihrem und er sah direkt in die Mündung der Pistole, die nur wenige Meter vor ihm in der Luft schwebte.

»Tom?«

Sein Kumpel zeigte keine Reaktion. Er stand nur da, mit erhobener Waffe. Hinter ihm konnte Jimmy die Schrankwand erkennen, in der der Fernseher stand. Auf ihr waren gerahmte Bilder deponiert. Manche in schwarzweiß, manche in Farbe, von Stränden, fröhlichen Menschen beim Anstoßen und eines von der Frau, die den Arm um einen großen Mann mit breiten Schultern gelegt hatte. Um denselben Mann, der gerade mit einer Waffe auf ihn zielte.

Jimmys Hände zitterten. Er grub die Fingernägel in die Handflächen und wandte sich wieder zu Tom.

»Was geht hier vor?«

»Was wohl«, antwortete Tom, »ich verteidige mich vor dem Einbrecher.«

Sein Finger zuckte, dann knallte es. Ein Brennen breitete sich in Jimmys Eingeweiden aus. Schwarze Zungen leckten an seinem Blickfeld, drängten sich immer dichter aneinander, bis sie ihm die Sicht versperrten und ihn in die Stille entließen.

4 thoughts on “Damals in Schwerin

  1. Tolle Geschichte! Ich bin beim Stöbern darauf gestoßen. Da ih ursprünglich aus Schwerin komme hat mich der Titel gleich neugierig gemacht 😉
    Ich liebe deinen Schreibstil und deine natürlichen, frechen Dialoge. Obwohl es nur eine Kurzgeschichte ist, konnte ich gleich einen Draht zu den Protagonisten mit ihren Macken und Besonderheiten finden. Du hast deinen Text wirklich im Griff.
    Von allen Geschichten, die ich heute hier gelesen habe, stilistisch die beste! Da lasse ich gern ein Like aus Überzeugung da und drücke dir ganz fest die Daumen für die E-Book-Ausgabe!!
    (PS: nur eins hab ich mich gefragt: ” Ihre Stimme war tonlos” – wie kann sie ohne Ton so sprechen, dass man sie versteht?! 😀 )
    LG!

    1. Hey Melanie,

      vielen Dank für den tollen Kommentar und den Like! Da ich keinerlei Werbung auf Social Media o.ä. betreibe, bezweifle ich, es in die EBook-Ausgabe zu schaffen, aber deine Worte sind wirklich sehr motivierend und hilfreich, daher nochmals: Herzlichen Dank 🙂

      PS: “Tonlos” habe ich mir nicht ausgedacht, das steht sogar im Duden 😉

  2. Moin Cassia,

    die Geschichte die du uns hier präsentierst ist endlich mal ne Kurzgeschichte die den Namen auch verdient hat. Glaub mir, ich habe schon viele Geschichten in diesem Wettbewerb gelesen und deine ist erfrischend anders! Nämlich, gut geschrieben, alles da was man brauch und hält sich nicht lange mit irgendwelchen Nebenplots auf. Kurz, knackig und präzise und dennoch geht nix an Spannung verloren. Gut gemacht!

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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