lewewschkDangast

Leona konnte schon das Ortsschild in der Ferne erahnen, als sie an dem Acker vorbeifuhren, den sie als Kind immer als „Stoppelfeld“ bezeichnet und sich gefragt hatte, warum er so seltsam aussah. Inzwischen erinnerte er sie jedoch mehr an Verwesung als ein spektakuläres Naturphänomen, vielleicht auch wegen Tief Sabine, das immer mehr Fahrt aufgenommen hatte, je weiter sie in den Norden kamen. Der Sturm schien an allem zu zerren, das nicht hierhergehörte. Sogar das Wetter will mich davon abhalten, herzukommen. Das ist doch reine Selbstzerstörung.

Mit zitternden Händen und trockenem Hals versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, dass sie am liebsten aus dem Auto gesprungen wäre oder das Lenkrad um einhundertachtzig Grad herumgerissen hätte. Ein Autounfall ist definitiv angenehmer als das hier. Nur leider konnte Leona nichts davon ihrem Freund sagen, der in Erwartung eines entspannten, romantischen Wochenendes das Auto sicher durch den Sturm steuerte. Das war jedoch nur die Spitze des Eisbergs von Heimlichkeiten in ihrer Beziehung: Amir hatte nicht die geringste Ahnung davon, dass sie ihn und auch alle anderen in ihrem Leben belog. Ihre Vergangenheit, ihre Identität, nicht einmal ihr Name waren echt. Mit aller Kraft versuchte sie mit ihrem alten Ich abzuschließen, weil sie der festen Überzeugung war, nun ein anderer, besserer Mensch zu sein. Und weil sie genau wusste, dass sich alle von ihr abwenden würden, sobald sie die Wahrheit über sie erfuhren. Das musste Leona um jeden Preis verhindern.

Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet, sich überhaupt auf eine ernsthafte Beziehung mit Amir einzulassen. Die ständige Gefahr, dass er etwas über sie und ihr altes Leben herausfand, hatte sie lange Zeit davon abgehalten, auf seine Annäherungsversuche einzugehen. Schlussendlich war es seine grenzenlose Geduld in Verbindung mit seinem Beschützerinstinkt, den er trotz ihrer 1,80m Körpergröße hatte, was sie überzeugte. Das Gefühl, dass ihr mit ihm an ihrer Seite niemand etwas tun konnte. Kitschig und leider auch falsch. Kurz nachdem sie zusammengekommen waren, hatte sich jemand in Leonas Leben geschlichen und wie eine Wanze eingenistet, um sie und alles, was sie sich aufgebaut hatte, Stück für Stück zu zerstören.

Gerade an dem Punkt, an dem Leona gedacht hatte, ihr Leben würde jetzt die gute Wendung nehmen, die Bücher und Liebesfilme in ihren Happy Ends versprachen, hatte sie eine E-Mail in ihrem Postfach gefunden, die ihr jede Hoffnung der letzten Jahre nahm. „MÖRDERIN.“ Schlicht und einfach, aber so effektiv, dass Leonas Leben schon wieder kurz davor stand, auseinanderzubrechen. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem derjenige sie nicht gequält hatte. Wichtige Termine wurden in Leonas Namen abgesagt, gemeine Nachrichten an ihre Freunde versendet, sogar ein Ausschnitt aus der Tageszeitung von damals wurde in der Uni auf ihren Platz gelegt. Er oder sie hatte sie so weit getrieben, dass sie an jenen Ort reiste, den sie am meisten auf der Welt meiden wollte. Ausgerechnet an dem Wochenende, an dem sich nun zum fünften Mal der Todestag ihrer Schwester Emma jährte. Aber wäre sie zur Polizei gegangen oder nicht nach Dangast gereist, hätte derjenige Amir die Wahrheit über sie erzählt – und das hätte sie umgebracht.

Leona hatte nach der Nachricht, die sie nach Dangast schickte, genau eine Woche Zeit, um sich zu überlegen, ob sie mit oder ohne Amir fahren sollte. Gefangen in dem Für und Wider, hatte sie sich schlussendlich für seine Begleitung entschieden. Vielleicht auch, weil sie sich davor fürchtete, was mit ihr passieren würde, würde niemand wissen, wo sie sich aufhielt. Oder wann sie überhaupt irgendjemand vermissen würde.

Anders als in ihrer Kindheit war es dieses Mal Herbst statt Frühling und nicht die ersten Sonnenstrahlen empfingen sie, sondern eines der schlimmsten Wettertiefs seit Jahren. Doch trotz allem fühlte Leona eine Art Heimatgefühl, als sie an der Eisdiele vorbeifuhren, dem kleinen Supermarkt und dem Schwimmbad mit der riesigen Rutsche, an das sie so viele schöne Erinnerungen hatte. Als wäre sie nie weg gewesen. Letzten Endes war es eben der glücklichste Ort ihrer Kindheit gewesen. Bis zu Emmas Tod. „Ist echt schön hier, ich freue mich, dass du mich mitgenommen hast!“. Amir strahlte über beide Ohren als sie gerade in die Straße abbogen, an deren Ende das Ferienhaus stand, das ihre Mutter immer gemietet hatte. Wenn du wüsstest, warum wir wirklich hier sind, würdest du schneller weg sein, als ich aus diesem Auto springen könnte.

Wie abgesprochen fanden die beiden den Schlüssel unter der Fußmatte und Leona betrat als erste das Haus. Die Vermieter hatten in den letzten Jahren nichts an der Einrichtung verändert, sogar die Küche war immer noch dieselbe, obwohl sie schon altmodisch gewirkt hatte als Leona als Kind mit ihrer Zwillingsschwester darin gespielt und ihre Mutter Essen gekocht hatte. Die Erinnerungen legten sich so schwer auf ihr Herz, dass sie gegen die aufkommenden Tränen nicht mehr ankämpfen konnte. Amir war noch damit beschäftigt, die Taschen aus dem Auto zu holen, er sollte sie nicht direkt weinen sehen, dann würde er nur wieder bohrende Fragen stellen, die sie ihm nicht beantworten konnte. Stattdessen steuerte sie zielgerecht auf die Treppe zu, nahm zwei Stufen auf einmal und stand kurz darauf in dem Zimmer, das sie sich damals mit ihrer Schwester geteilt hatte. Sie lag in dem Stockbett immer unten, weil sie manchmal schlafwandelte und Angst hatte, aus dem Bett zu fallen. Emma dagegen hatte gerne oben gelegen, weil sie sich dann noch mehr wie ihre große Schwester aufspielen konnte, obwohl sie nur wenige Minuten älter war. Ich hatte wohl schon immer ein Problem mit Menschen, die mir sagen wollten, was ich zu tun und zu lassen habe.

Leona schüttelte sich einmal bei dem Gedanken und versuchte sich mit geschlossenen Augen auf ihre Atmung zu konzentrieren, so wie sie das täglich bei den Meditations-Gurus auf Instagram verfolgte. Als sie sie wieder aufmachte, sah sie etwas, das ihr beim Betreten des Zimmers nicht aufgefallen war. Auf dem Tisch der kleinen Sitzgruppe lag ein Handy, das in dem Moment, in dem sie es entdeckte, anfing zu klingeln. Vorsichtig näherte Leona sich dem Fremdkörper und nahm es nach kurzer Überlegung widerwillig in die Hand, weil ihr bewusst wurde, dass Amir jeden Moment hinter ihr stehen konnte und fragen würde, wem es gehörte. Der Kloß in ihrem Hals wuchs auf Tennisballgröße an, als sie versuchte, den Ton stumm zu schalten. Es war nicht irgendein beliebiges Smartphone, das man mit zwei Klicks bei Amazon kaufen konnte, sondern schon ein paar Jahre älter und mit Aufklebern irgendwelcher Bands beklebt, die sie nicht kannte – und es gehasst hatte, wenn ihre Schwester die Lieder ohne Kopfhörer auf voller Zimmerlautstärke gehört hatte. Emmas altes Handy.

Im selben Moment in dem sie das Handy in die Hand nahm, entsperrte der Bildschirm sich automatisch durch die Gesichtserkennung – eine Schwäche der Technik, die sich bei eineiigen Zwillingen zeigte. Zum Vorschein kam ein ganzer Ordner voller Fotos, die Leona zeigten, wie sie in jener Nacht vor fünf Jahren mit einer zerbrochenen Weinflasche in der Hand, vor der Tür des Ferienhauses stand und verstörend starr in die Überwachungskamera sah. Unfähig, ihre Augen von den Fotos abzuwenden, signalisierte das Smartphone eine eingegangene Nachricht: „Herzlich Willkommen in Dangast – Bist du bereit für das Finale?“. Leona war fassungslos. Ich kann das nicht, ich muss hier weg.

„Hey, alles gut bei dir?“ Amir hatte inzwischen die Taschen ins Haus getragen und war auf der Suche nach ihr in das obere Stockwerk gegangen. Panik. Einen Herzschlag später konnte sie sich endlich aus ihrer Starre lösen und beförderte das Handy mit einer raschen Bewegung in die hintere Tasche ihrer Jeans. „Ja klar, alles super. Nur mein Prof, der mir bestätigen wollte, dass er meine Bachelorarbeit bekommen hat.“

Da sie noch vor dem Frühstück nach Dangast aufgebrochen waren, lag der Tag noch grausam lange vor ihr, aber irgendwie schaffte Leona es trotzdem bis zum Abendessen Amir davon zu überzeugen, dass sie ein ganz normales Paar waren, das sich während des Sturms in dem kleinen Ort entspannen wollte. Glücklicherweise gab auch das Handy in ihrer Hosentasche keinen Laut mehr von sich, sodass sie für einen winzigen Moment fast vergessen konnte, warum sie hier war. Fast. Im Hinterkopf lauerten wieder die quälenden Erinnerungen, die sie seit Jahren erfolgreich verdrängt hatte. Nur schafften sie es an diesem Ort immer weiter an die Oberfläche.

Nachdem sie zusammen Spaghetti Bolognese gekocht und gegessen hatten, musste Amir noch einige Mails für die Arbeit beantworten. Auf der einen Seite sehnte sich Leona nach ein paar Minuten ohne ihn, um den Tag mit allen Geschehnissen und Erinnerungen für sich verarbeiten zu können. Auf der anderen Seite kam die Panik zurück, wenn sie daran dachte, allein in die obere Etage gehen zu müssen. Vielleicht ist jemand ins Haus eingebrochen als wir weg waren und versteckt sich oben. „Willst du hier im Stehen schlafen?“, fragte Amir lachend, weil sie wie angewurzelt vor der Treppe stand, immer noch unschlüssig darüber, was sie tun sollte. Leona rang sich ein Lächeln ab und antwortete nur ein „Mach nicht zu lange!“. Die ersten Stufen ging sie noch in einem normalen Tempo hinauf, aber nachdem sie aus Amirs Blickfeld war, sprintete sie so schnell sie konnte hinauf, um schnellstmöglich in ein Zimmer zu gelangen, das sie abschließen konnte. Ihr Herz raste, als sie endlich die massive Badezimmertür in ihrem Rücken spürte, abgeschottet von dem, was da draußen war. Beruhig dich. Leona stellte sich vor das Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel: leere Augen in einem viel zu blassen Gesicht. Was ist nur aus dir geworden. In dem Moment verkündete das Handy erneut eine eingegangene Nachricht. Voller Angst zog sie es heraus. Dieses Mal waren es jedoch keine Fotos von der Überwachungskamera, sondern ein Video von jenem Abend am Strand. Dem Abend, an dem ihre Schwester gestorben war. Dem Abend an dem Leona Emma umgebracht hatte.

Es war kein langes Video, sondern nur ein verwackelter Ausschnitt, der passierte, wenn ein betrunkener Jugendlicher statt der Kamera versehentlich die Videofunktion erwischte. Es musste kurz vor ihrem schlimmsten Streit entstanden sein, der beim großen Osterfeuer alle Blicke auf sich gezogen hatte. Leona und Emma waren zwar eineiige Zwillinge gewesen, doch man spürte schon früh die unterschiedlichen Charaktere – und man sah, welche Spannung zwischen den beiden geherrscht hatte. Während Leona von Geburt an das Vorzeigekind gewesen war, Jahrgangsbeste und zumindest nach außen hin die perfekte Tochter, war Emma das schwarze Schaf der Familie gewesen, mit Problemen in der Schule und den falschen Freunden. Das schlechte Verhältnis von Emma zu ihren Eltern hatte letztendlich die Beziehung zwischen den Schwestern vergiftet. Statt grenzenloser Verbundenheit zwischen Zwillingen waren sie erbitterte Konkurrentinnen, die um Liebe und Aufmerksamkeit anderer gestritten hatten.

Immer noch starrte Leona auf das Handy, das den Videoausschnitt in Dauerschleife zeigte. Sie konnte den Blick nicht abwenden und hatte gar nicht gemerkt wie sie in sich zusammengesackt war und nun auf dem Boden kauerte. Klingeln. Eine neue Nachricht. Keine Pause. „Zum Strand. Du weißt wo. Lass dein Handy hier.“ In diesem Moment legte sich ein Schalter in Leona um, sie wurde nicht mehr von Angst sondern Wut auf den Unbekannten angetrieben. Es reicht. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich unbemerkt aus dem Haus schleichen sollte, ohne dass Amir es mitbekam. Vorsichtig schloss sie die Tür des Badezimmers wieder auf, huschte über den Flur, die Treppe hinunter und schaute vorsichtig um die Ecke zum Esstisch. Doch wie der Zufall es wollte war er über seiner Arbeit eingeschlafen, sie brauchte ihm nur eine kleine Nachricht hinterlassen, falls er aufwachen und nach ihr suchen würde. Das würde er zwangsläufig tun, wenn er sah, dass sie das Handy im Haus liegen lassen hatte.

Vom Ferienhaus bis zum Strand waren es zu Fuß nur zehn Minuten, aber Leona kam es wie eine Ewigkeit vor, in der sie versuchte, sich darauf vorzubereiten, wer und was sie erwartete. Natürlich hatte sie sich seit der ersten Nachricht vor zwei Monaten tagelang den Kopf darüber zerbrochen, wer es nach all den Jahren jetzt auf sie abgesehen hatte. Es konnten irgendwelche Idioten aus der Uni sein, die herausgefunden hatten, was damals passiert war und sich einen Spaß daraus machten, sie damit quälen. Aber zu diesem Ausmaß würde sich niemand die Mühe machen, wenn es ihm nur um darum gehen würde. Menschen waren zwar grausam, aber das würde den Rahmen des Vorstellbaren definitiv sprengen.

Die Flut schien gerade eingesetzt zu haben, als sie es endlich zum Strand schaffte. Der Sturm war noch eine Spur kräftiger geworden, die Wellen türmten sich auf, schäumten voller Kraft. Suchend tastete sie den ganzen Abschnitt ab, halb in Hoffnung und halb in Angst, jemanden zu sehen. Doch da war niemand, keine Menschenseele. Beinahe hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht, als Emmas Handy sich wieder meldete. „Geh auf den Steg.“ Im Dunkeln fand sie nicht auf Anhieb die Treppe, die von der Erhöhung hinunter zum Strand führte. Durch ihre Anspannung wäre sie einige Mal fast gestolpert und den Rest hinuntergefallen. Der Sturm zerrte so heftig an ihrer Kleidung und Haaren, dass sie kaum atmen konnte. Völlig erschöpft schaffte Leona es trotzdem irgendwann bis zu dem Steg, der vom Strand aus mehrere Meter ins Meer hineinragte und um den die Wellen tosten.

Sie erinnerte sich daran wie sie oft am äußersten Rand gestanden und beim Anblick des Horizonts immer unglaubliches Fernweh bekommen hatte. „Auch jetzt ist es noch wunderschön, oder?“ Leona erstarrte. Nein, nein, nein! Unfähig sich zu der Person umzudrehen, die ganz nah hinter ihr stehen musste. Es war ohrenbetäubend laut um sie herum, doch ab diesem Moment hörte sie nur noch die Stimme, die ihr die Worte durch den Sturm entgegen schrie. Wie ist das möglich. Unendlich langsam eroberte Leona die Kontrolle über ihren Körper zurück und schaffte es schließlich sich so umzudrehen, dass sie ihrem Gegenüber direkt ins Gesicht schauen konnte. Der Person, von der sie dachte, dass sie sie vor fünf Jahren umgebracht hatte. Die sie mit ihrer Familie beerdigt hatte, obwohl sie nie die Leiche aus der Nordsee hatten bergen können.

„Schwesterchen, schön dich wiederzusehen!“. Emma stand nur wenige Schritte von ihr entfernt, musste aber trotzdem gegen den Lärm, der um sie herrschte, anbrüllen. Sie glich Leona bis aufs Haar, auch nach fünf Jahren noch. 

Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einer Toten. „Wie ist das möglich? Wie kannst du…“

„Leben?“, lachte Emma dabei verbittert auf. „Es wurde doch nie meine Leiche gefunden. Das ist jetzt schon etwas enttäuschend, dass du nicht gespürt hast, dass ich noch lebe. Naja, unsere Zwillingsverbindung war ja eh nie besonders stark, was soll‘s.“

In Leonas Kopf drehte sich alles, nicht davon machte Sinn. „Das ist nicht möglich, ich erinnere mich daran wie du ins Meer gefallen bist und von den Wellen hinaus gezogen wurdest.“ Jetzt schrie sie lauter als es nötig gewesen wäre. Es machte sie wütend, Emma schon wieder so unterlegen zu sein. „Verdammt, ich habe jede Nacht Albträume von dem Moment, in dem ich dich mit dieser scheiß Weinflasche niederschlagen habe.“ Vor lauter Verzweiflung brach ihre Stimme.

„Du erinnerst dich nur daran, weil ICH wollte, dass du dich daran erinnerst. Das ist alles nie passiert. Ein paar Pillen hier und da, mehr brauchte es ja nicht, so labil wie du warst. Eigentlich wollte ich den Urlaub damals nur dafür nutzen, von dir und unseren Eltern wegzukommen. Ich hatte keine Lust mehr auf dieses ewige heile Welt Getue. Aber warum sollte ich riskieren, dass man nach mir suchen würde, wenn ich mich aus dem Staub mache? Und warum mich nicht noch für all das rächen, was du mir angetan hast? Also habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“ Emma kam noch einen Schritt auf Leona zu, sie standen jetzt so nah beieinander, dass sie sich direkt in die Augen sehen konnten und nicht mehr ganz so laut schreien mussten. „Alles, was ich tun musste, war dir Nacht für die Nacht diese Bilder in den Kopf zu setzen, bis ich überzeugt davon war, dass du es in deinem Unterbewusstsein abgespeichert hast. Wer hätte auch ahnen können, dass du so perfekt reagierst und dich auch noch schlafwandelnd auf den Weg zum Strand machst und die Überwachungskamera dich aufnimmt. Das war der perfekte Beweis.“

In diesem Moment zerbrach etwas in Leona. Wahrscheinlich war es der letzten Funken Liebe, den sie für ihre Schwester empfunden hatte. Emma schleuderte ihr die Worte in einer derart brutalen Ehrlichkeit entgegen, dass sie mehr und mehr die Sicht für das verlor, was passierte. Wie in einem Tunnel konnte sie nur noch das Gesicht ihrer Schwester sehen, das immer näher zu kommen schien. Sie spürte auf ihren Ohren einen starken Druck, der ihr bis in den Kopf strahlte und höllische Kopfschmerzen verursachte. „Aber warum bist du jetzt wieder da, was soll das? Du hast mich doch schon genug gequält. Weißt du überhaupt, was ich durch gemacht habe?“

„Genau das ist ja der Punkt: unsere Eltern haben dir mal wieder deinen kleinen, süßen Hintern gerettet. Sie haben alles vertuscht und es so aussehen lassen, als wenn ich mich selbst umgebracht hätte. Ihr habt alles dafür getan, dass ich aus eurer Vergangenheit verschwinde und du dein Leben weiterleben kannst.“

„Wir dachten, dass du tot wärst. Was hätte es denn gebracht, noch ein Leben zu zerstören? Ich habe seitdem alles dafür getan, etwas daraus zu machen. Auch für dich!“

„Und dafür bin ich dir auch sehr dankbar. Jetzt muss ich mich damit nicht mehr beschäftigen.“

„Wie meinst du das?“

Niemand in deinem Leben weiß, dass du eine Zwillingsschwester hattest. Ich kann also da weitermachen, wo du aufgehört hast. Du musst nur verschwinden.“

„Du bist doch komplett irre, das kannst du nicht machen!“

Emma kam noch einen Schritt näher auf Leona zu, jetzt standen sie nur noch ein paar Zentimeter vom Rand des Stegs entfernt.

„Bitte, ich flehe dich an. Wir sind doch immer noch Schwestern.“, flüsterte Leona stumm.

Emma drückte auf die Klingel des Ferienhauses, nach einigen Sekunden öffnete Amir die Tür. „Leona? Wo kommst du denn her, ich wollte gerade die Polizei rufen! Wieso schreibst du mir einen Zettel, dass ich dich vermisst melden soll, wenn ich aufwache?“, verschlafen rieb er sich dabei die Augen. Miststück. „Ach, ich wollte nur kurz frische Luft schnappen und ich hatte Angst, dass mir bei dem Sturm irgendetwas passieren könnte. Lass uns einfach ins Bett gehen, du siehst müde aus“.

ENDE

 

5 thoughts on “Dangast

  1. Super Geschichte!
    Eine (mögliche) kleine Schwäche ist mir aufgefallen : Gab es zu der Zeit, als der vermeintliche Mord geschah bereits Handys mit Gesichtserkennung? Da ist von einem alten Handy die Rede, vielleicht wäre eine einfache aufgehobene Sperre hier logischer.
    Aber ansonsten Top!

    P.S. ich würde mich auch über ein Lesen und Feedback zu meiner Geschichte freuen. Vielleicht hast Du ja Lust, sie zu lesen …
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

  2. Hallöchen,
    toller Plot und schön, fast eine Heimatgeschichte zu lesen; ähnlich wie die Ostfriesen- Teile von Klaus-Peter Wolf. Dangast ist einfach schön und der Rhabarberkuchen im Kurhaus erst- einfach der beste! 😉 Dazu die Zwillingsthematik und ein sinnvoll gewähltes Motiv zur Rache, sehr schön, hat mich gut unterhalten! 🙂
    Wenn du magst, schau auch mal bei mir vorbei:

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-koeder

    Liebe Grüße

      1. Hallo, du Liebe

        Ich gebe es zu:
        Ich hatte deine Geschichte nicht auf dem Schirm. Habe nicht nach ihr gesucht.
        Ich bin alle Stories durchgegangen und stolperte über Dangast.

        Und da ich diesen kleinen Ferienort bereits seit Jahren liebe, habe ich deine Geschichte einfach mal gelesen.

        Deine Geschichte ist großartig.
        Sie hat mich gefesselt und berührt.
        Und zwar von der ersten Sekunde an.

        Keine Ahnung, warum.

        Ich habe deine komplette Geschichte irgendwie als TV-Film gesehen. Du hast mir viele bezaubernde aber auch überraschende Bilder in den Kopf gepflanzt.
        Respekt.

        Deine Grundidee ist gut gewählt und ordentlich dargestellt, die Handlung nachvollziehbar und stringent, die Parameter cool umgesetzt, die Spannung Klasse, die Protagonisten klar und toll angelegt und das Finale spannend und überraschend zugleich.

        So müssen Kurzgeschichten enden.
        Und nicht anders.

        Dein Schreibstil ist genial und wirkt auf mich gereift und sicher.
        Und zudem individuell.
        Das ist eine Gabe.

        Ich habe deine Geschichte innerhalb kürzester Zeit genossen, ich konnte sie nicht zur Seite legen.
        Ich wollte unbedingt wissen, wie sie endet. Dir ist mit den Zwillingen und dem grandios gestalteten Finale etwas Besonderes, etwas Großes gelungen.
        Dass mit dem alten Handy ist komplett nebensächlich.

        Du kannst sehr stolz auf dich sein.

        Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg. Und noch viel mehr Likes und begeisterte Leserinnen und Leser.

        Du hast es einfach drauf, das zeigt nicht nur deine vorbildliche Rechtschreibung, sondern auch die Grammatik.

        Lob und Anerkennung.

        Ich wünsche dir, dass du es ins EBook schaffst.
        Mein Herz hast du natürlich sicher.

        Pass auf dich auf.
        Und bleib gesund.
        Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

        Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
        Ich würde mich sehr freuen.
        Meine Geschichte heißt:

        “Die silberne Katze”

        Vielen Dank…. und schreib bitte IMMER weiter.

        Swen

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