Paula LeoniDas Experiment

Ich konnte nicht fassen, was ich da auf dem Bildschirm sah. Es waren Bilder, von mir! Woher kamen die? Das besonders erstaunliche daran war einfach, dass es einen ganzen Ordner von mir gab. Nur Bilder. Von mir, wie ich gerade zur Schule ging, als ich vielleicht gerade so 15 war. Bilder, wie ich bei uns Zuhause im Pool schwimme. Als 17 Jährige. Oder wie ich auf dem Campus stehe. Mit 20. Was sind das für Bilder? Woher kommen die? Und viel wichtiger, wer hat die gemacht? Nirgends auf dem Handy findet sich ein Beweis, von wem dieses Handy stammt. Ich sitze verdutzt auf der Bank in diesem grässlichen Gebäude. 

Tausend Fragen schwirren in meinem Kopf umher.

Warum habe ich mich hierauf eingelassen?
War es wirklich meine Entscheidung gewesen?

Alles begann mit diesem Brief, den ich bekam. In ihm stand, dass es eine Studie zum Thema Identität gab. Mein erster Gedanke war: Da muss ich mitmachen! Man wird schließlich selten zu so etwas angefragt. Begeistert rief ich meine Eltern an. Ich erzählte ihnen davon, aber je mehr ich redete, desto ablehnender wurden sie. Vielleicht war das schlussendlich der Grund, warum ich zusagte. Ich weiß es nicht. Eigentlich war ich nie jemand gewesen, der sich gegen das Wort seiner Eltern stellt, aber diesmal tat ich es.

Ich wollte rebellisch sein.

Wollte einmal voll und ganz das tun, was ich wirklich wollte.

Also bin ich zum angegebenen Datum zu der angegebenen Adresse gefahren. Es war ein großer Gebäudekomplex. Umringt von gähnender Leere. Ich dachte mir nichts dabei. Es war ja psychologischer Natur, die Studie. Vielleicht brauchte man ja viel Ruhe. 

Während diesem Aufenthalt lernte ich Jaro kennen. Er ist ein bisschen schwer von Begriff. Er versteht nicht viel von irgendwas. Aber er ist zu höflich, um ständig nachzufragen. Er stellt nur dann eine Frage, wenn er denkt dass es in der jeweiligen Situation nötig ist. Aber seine Freundlichkeit macht alles wieder gut. Aber das ist gar kein Problem, das macht den Aufenthalt viel amüsanter. Wir verbrachten so die ganze Zeit miteinander, unter anderem auch, weil wir sonst niemanden kannten oder kennenlernten, weil wir die jüngsten Teilnehmer waren. Die anderen wollten nicht viel mit uns zu tun haben, auch wenn sie vielleicht zwei oder drei Jahre älter waren als wir. Als ich ihm erzählt hatte, was in dieser Studie wirklich passiert, war er sofort dabei, mir zu helfen. 

Wir fingen damit an, in das Büro des Leiters zu schleichen. Dort suchten wir nach Beweisen, dass hier wirklich das passiert, was ich gesehen hatte. Ich hatte Angst, dass es einfach nur ein Traum war…

„Chef, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee war… Ich meine, wenn das hier im gleichen Haus passiert…“ 

„Ich sagte, wir machen das jetzt so!“

„Aber… Chef…“

„Nein! Und jetzt bereite den Patienten auf seine Transplantation vor! Herr Bergmann ist da schon weiter.“

Ein Mann verließ seufzend den Raum. Der Mann in dem Ärztekittel stand in dem OP-Saal und zog sich seine grünen Gummihandschuhe an. Vor ihm ein Tablett mit OP-Besteck. Skalpelle, Nadeln, Fäden, Bohrer. Er war der Leiter dieser Studie, die alles andere als harmlos war. Er würde der erste Mensch sein, der Gehirne zweier Menschen austauscht. Er wird es schaffen, die Identitäten dieser Menschen zu vertauschen. 

„Chef, ich bin so weit.“ Ein anderer Mann, ebenfalls in einem Ärztekittel, kommt durch die Tür getreten.

„Herr Spasic nicht. Ich denke, Sie sollten ihm helfen. Er scheint heute nicht ganz bei sich zu sein.“

„In Ordnung, Chef.“ Der Mann drehte sich um, um zu Herr Spasic zu gehen.

Eine Krankenschwester schob ein Krankenbett in den Saal. „Frau Gies. Bereit für die Transplantation.“

„Danke, Fräulein Banning. Wenn Sie so freundlich wären…?“ Mit einer Handbewegung deutete der Doktor ihr an, den Raum wieder zu verlassen. Die junge Frau nickte verständnisvoll. 

„Ich werde der erste Mensch, dem der Tausch zweier Bewusstseine, zweier Identitäten, gelingen wird.“ Wie ein Mantra wiederholte der Mann es immer und immer wieder. Nach einiger Zeit kam erneut die Krankenschwester mit einer anderen Frau rein. Jetzt war alles bereit. Er konnte anfangen.

Er nahm ein Skalpell in die Hand und sagte: „Sind Sie bereit, Geschichte zu schreiben?“

Die kühle Klinge setzte an die Kopfhaut an und schnitt…

Es konnte kein Traum gewesen sein. Auch wenn es Nacht war, als ich diese grausige Entdeckung machte, es fühlte sich zu echt an. 

„Elly, bist du okay?“ Jaro sah mich an. Ich nickte. Er war auch im Raum, als ich das Handy fand, aber bekam nicht mit, dass es voller Bilder von mir war. Aber wie kann er das auch wissen?

Als wir in das Büro gegangen waren, wollten wir eigentlich nur nach Unterlagen suchen, vielleicht auch Notizen oder etwas ähnliches. Aber da lag ein Handy auf dem Schreibtisch. Es wäre für jeden sofort sichtbar gewesen. Auf einmal ging das Display an und ich sah mich. Zuerst erschrak ich mich, dann hielt ich es für unmöglich. Ich nahm das Gerät in die Hand und schaltete es an. Tatsächlich, das Hintergrundbild war ein Foto meines Gesichts. 

Da kam mir schon die erste Frage auf: Woher kommt dieses Bild?

Es gab kein Passwort oder irgend eine andere Form von Sperrung. Man konnte sich einfach so Zugriff verschaffen. Das kam mir sehr seltsam vor. Wäre ich der Leiter einer „Studie“, bei der illegale Experimente durchgeführt werden, würde ich mein Handy mit einem Passwort schützen. Es sei denn… 

„Dieses Handy hier wurde extra so platziert, dass wir es finden. Die wissen, dass wir hier sind! Die wollten, dass wir hier her kommen und nach Hinweisen suchen!“

„Aber, warum sollten die das wollen? Das ist doch alles streng geheim und… verboten, hattest du gesagt.“ Ich konnte Jaro im Gesicht schon ansehen, dass er diese ganze Situation nicht einordnen konnte. Er verstand es nicht.

„Ich weiß es nicht. Aber da steckt ein Plan hinter. Auf diesem Handy sind dutzende Bilder von mir drauf. Es wurde nicht mit einem Passwort gesichert. Es lag hier offen auf dem Tisch, mittig. Das ist kein Zufall.“

„Warte, auf dem Handy sind Bilder von dir? Zeig mal!“ Er wurde richtig neugierig. 

„Ja, aber das ist jetzt nebensächlich. Was machen wir jetzt?“ Eigentlich stellte ich mir die Frage, nicht ihm. Er hätte mir sowieso keine gute Antwort geben können. Und er verstand das anscheinend sogar.

„Wir nehmen das Handy mit.“

„Was? aber, das gehört doch jemandem! Das kannst du nicht machen, das ist Diebstahl… Du klaust doch nicht…“, rief er entsetzt.

„Wenn es so offen hier liegt, dann war es dafür bestimmt, dass wir es finden und mitnehmen.“ Ich nahm das Smartphone, steckte es in meine Jackentasche und sagte: „Und jetzt suchen wir nach weiteren Hinweisen.“

Aber abgesehen von dem Handy und meinen Bildern fanden wir nicht viel. Also, eher gesagt fand ich nicht viel. Jaro saß in der Ecke und redete unentwegt. Über das, was wir bisher im Büro gefunden haben, das was wir dort nicht gefunden haben und das, was noch passieren könnte. Es gab keinen Computer, auf dem man etwas nachgucken könnte. Es gab auch keine Notizbücher oder allgemein Bücher. Es gab nichts außer dem Schreibtisch und einem Regal. Und nirgendwo ließ sich etwas auffälliges finden, höchstens die Gesundheitsakten der Teilnehmer, aber das hätte man kaum als Beweisstück nehmen können. Wenn man an einer Studie teilnimmt, muss man halt gesund sein und hat bestenfalls keine große Krankengeschichte. Enttäuscht verließen wir das Büro wieder. Okay, eigentlich war nur ich enttäuscht. 

Nach dieser Ernüchterung sagte ich Jaro, dass ich einfach alleine sein möchte. Ich verzog mich auf das Außengelände und blieb dort, bis es das nächste Mal Essen gab.

Am Abend saß ich in meinem Zimmer und betrachtete das Handy. Der Bildschirm ging wieder an. Und da sah ich wieder mich. Meine roten Haare leuchteten geradezu in der Dunkelheit, die mich umgab. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber ich wusste noch nicht, was es war. Das Handy hätte nicht so offensichtlich da liegen dürfen. Es hätte nicht so einfach sein dürfen. Das musste irgendetwas mit mir zu tun haben, aber was? 

Kenne ich den Leiter? Wenn ja, warum zeigt er sich mir nicht?

Ist er mein Stalker? Aber warum hätte er mich dann zu dieser Studie eingeladen?

In meinem Kopf häuften sich die Fragen. Es machte mich verrückt, dass ich keine Antwort darauf finden konnte. 

Auf einmal hämmerte es gegen meine Tür. „Aufmachen!“ Ich öffnete.

„Wer sind Sie?“, fragte ich misstrauisch. Der Mann der vor mir stand war groß. Er schien ziemlich stark zu sein. Er wirkte schon unheimlich, wie er da im Halbdunkeln stand und mit ernster Miene mich anschaute.

„Der Chef schickt mich. Kommen Sie.“ Das war keine Bitte, eher eine Anweisung.

Wir liefen einen dunklen Gang lang. Jaro kam uns mit einem anderen Mann, mindestens genauso unheimlich wie der neben mir, entgegen. Geradezu gleichzeitig bogen wir in einen anderen Gang ein. 

„Wohin bringen die uns?“ Jaro schien noch mehr Angst zu haben als ich es hatte. 

„Ich weiß es nicht. Aber es kann nicht gut sein…“ 

„Wer hat Ihnen erlaubt zu reden? Seien Sie still!“ Einer der beiden Männer drehte sich zu uns um. Sein strafender Blick ruhte erst auf mir, dann auf Jaro. Er war sichtlich genervt. Als er sich sicher war, dass wir uns an sein Wort halten würden, drehte er sich wieder um. 

Den Rest des Weges verbrachten wir still schweigend. Wir wagten uns nicht mehr auch nur ein Wort zu sagen.

„Wir sind da.“ Mit diesen Worten drehten sich beide Männer um, traten hinter uns und schubsten uns in einen dunklen Raum. Es passierte, wie als wäre es eine einstudierte Choreographie gewesen. Auch wenn ich Angst hatte, mich faszinierte diese Disziplin und Präzision, die jede der Bewegungen beinhaltete. 

Da standen wir. Inmitten von Dunkelheit. Wir wussten nicht, was als nächstes passieren würde. Diese Ungewissheit plagte mich. Warum sind wir hier? Wahrscheinlich hat es was mit dem gefundenen Handy zu tun. Aber ich hatte doch extra aufgepasst, dass wir keine Spuren hinterlassen. Wir hatten sogar Handschuhe an, die ich vorher auf der Krankenstation geklaut hatte. Diese weißen Einmalhandschuhe, die jede Krankenschwester trägt. 

Zu dem Zeitpunkt kannte noch niemand diese Krankenstation. Für mich hatte sie bis kurz vorher auch noch keinen Sinn gemacht. Aber nachdem ich dieses Experiment gesehen hatte, hatte ich ein ganz anderes Verständnis für die gesamte Situation, in der ich mich befand. 

„Hallo, Elly,“ ertönte eine hallende Stimme. Sie klang jung, aber hatte trotzdem eine gewisse Tiefe. 

Die Stimme sagt viel über den Menschen aus. Man kann an ihr erkennen, wie sich dein Gegenüber fühlt. Wie er sich verhält. Wie er mit der Situation zurecht kommt. Man kann allein an der Stimme viel an der Person erkennen, ohne sie überhaupt zu sehen. 

„Woher kennen Sie meinen Namen? Meinen… Spitznamen?“ Meine Stimme klang zittrig. Passend zu meinen Gefühlen. Ich hatte Angst. Angst vor dem Wissen, dass diese Person über mich haben muss. Wenn sie derjenige ist, dem das Handy gehörte, dann habe ich noch mehr Angst. 

„Ich kenne dich.“

„Woher?“ Trotz meiner Angst versuchte ich, stark zu bleiben, allein schon für Jaro, der neben mir zitterte wie ein geschlagener Welpe. 

„Das wüsstest du wohl gerne, hm?“

„Ja.“ Das klang mutiger, als ich es tatsächlich bin.

„Mutig, mutig. Ich hätte dich feiger eingeschätzt. Schließlich hast du alles bekommen was du willst.“ Der Stimme konnte ich Hohn entnehmen. Wann würde ich endlich das Gesicht sehen können?

„Wie meinen Sie das?“

„Ach, das ist jetzt nebensächlich. Wichtig ist nur, dass du weißt, dass dein Verhalten  bestraft werden muss. Euer Verhalten.“ Damit meinte er Jaro. Dann plötzlich gingen alle Lichtschalter auf einmal an. Meine Augen wurden von gleißendem Licht geblendet. 

Toll, jetzt seh ich noch weniger als vorher. 

Vor uns, auf einem Podest, stand ein junger Mann. Er hielt eine Pistole in der Hand.

„Na? Immer noch so mutig?“, fragte er spöttisch.

„Sie sind krank. Sie sind einfach nur krank. Was wollen Sie von uns?“

Lachen. „Was ich von euch will? Eigentlich wollte ich nur dich, aber dieser Dummkopf ist ja mitgekommen. Das hat dann natürlich bedeutet, dass ich euch beide beseitigen muss.“

„Sie wollen uns töten? Warum? Was haben wir Ihnen getan?“

„Eheh.“ Der Mann auf dem Podest grinst.

„Was hab ich Ihnen getan?“, fragte ich augenrollend.

„Immer noch falsch.“ Er fing an hysterisch zu lachen.

„Wer dann? Wer hat Ihnen was getan? Und was hat das mit u- mir zu tun?“

„Das ist alles nebensächlich. Vielleicht erzähle ich euch das alles noch, vielleicht auch nicht. Je nachdem wie ich mich fühle.“ Er dreht die Pistole in seiner Hand und betrachtet sie von allen Seiten. Dann hält er sie auf mich.

„Sie sind einfach nur krank.“
„Schon möglich. Aber wichtig ist jetzt nur, dass ihr für euer Vergehen bestraft werden müsst.“

„Warum? Nur weil wir ein Handy mitgenommen haben, das praktisch zum Diebstahl bestimmt war? Weil ich gesehen habe, warum wir wirklich hier sind?“

„Das kannst du vorerst als eine Begründung nehmen.“

Vorerst?“, fragte ich verwirrt. Ich dachte, er wollte uns sofort umbringen? Dieser Mann redete in einem großen Rätsel, welches ich nicht lösen konnte. Und warum duzte er uns die ganze Zeit?

Er schoss. Die Kugel zischte an uns vorbei. Knapp, aber sie berührte uns nicht. 

„Das wäre die erste Verwarnung.“ Er lächelte. Kein freundliches Lächeln, es war eher eines, vor dem man Angst hat. „Ich gebe euch noch eine Chance. Wenn ihr euer Verhalten nicht verändert, wird es nicht nur bei diesem Warnschuss bleiben.“

„Warum geben Sie uns noch eine zweite Chance?“ Ich weiß, man sollte sein Glück nicht herausfordern, aber ich tat es. Auch wenn Jaro mich erschrocken anstarrte. Aber dem Mann auf dem Podest schien diese Reaktion zu gefallen.
„Ihr seid amüsant. Der Dummkopf, der nichts rafft und sich vor Angst in die Hose macht-“ Er hatte Recht, Jaro hatte sich wirklich in die Hose gemacht. Der Arme hatte so viel Angst, dass er seine Blase einfach nicht mehr kontrollieren konnte. „- und du bist so aufsässig, das es einfach nur lustig ist. Außerdem, ich bin ja kein Monster.“ Das letzte Worte wurde von einem grausamen Lachen begleitet. Gerade so konnte ich mir verkneifen eine Antwort zu geben. Vielleicht hätte das den Bogen überspannt. Aber nur vielleicht. So wie er in den letzten Minuten wirkte, hätte es ihm nichts ausgemacht. Im Gegenteil, er hätte es sogar gut gefunden. Er hätte darüber gelacht. 

„Und jetzt verschwindet. Ich will euch nicht mehr sehen. Ich bin müde. Besser wäre, wenn ich jetzt schlafen gehe, schließlich habe ich morgen einen weiteren, aufregenden Tag.“ Wieder verzog sich sein Mund zu einem grausamen Lächeln. Seine Augen wanderten von Jaro zu mir. Dann machte er eine Handbewegung, die seine beiden Angestellten dazu verließ, uns zurück zu unseren Zimmern zu bringen.

„Was meinst du, sollen wir aufhören?“ Ich stocherte abwesend in meinem Essen herum. 

Mit Essen spielt man nicht! Hallten die mahnenden Worte meiner Mutter durch meinen Kopf. Danke Mama, aber ich brauche deine hilfreichen Ratschläge gerade nicht. 

Aber wie könnten meine Gedanken auch nur geordnet sein? Das Ereignis letzter Nacht hatte meine gesamte Aufmerksamkeit.

„Natürlich sollten wir aufhören!“ Jaro guckte mich verständnislos an. „Das war gefährlich! Wir wären fast gestorben!“

„Fast. Nur fast. Er hat Gefallen an uns gefunden.“ Ich guckte Jaro an. Okay, vielleicht hatte dieser Mann doch nur an mir Gefallen gefunden. Ich war ihm gerade Recht, eine gute Gegnerin. Jaro war einfach nur eine kleine Schachfigur in diesem Spiel, jemand, den niemand wirklich interessiert. Und wenn ich ehrlich war, konnte ich es sogar verstehen. Ich hatte ihn doch auch nur in meiner Nähe akzeptiert, weil er so unbedarft ist. Es heißt doch immer, dass schlaue Menschen sich dumme suchen, damit sie was zum lachen haben. Der Film Dinner für Spinner handelt doch nur darum. Wieso sollte ich es nicht auch so machen dürfen? Warum sollte ich da die Ausnahme sein? Aber das sagte ich ihm nicht. Ich wollte ihn nicht verletzten.

„Wir werden es nicht nochmal probieren, oder? Wir halten uns da jetzt raus, stimmt’s?“ Ich sah hoch und konnte Hoffnung sehen. Nicht solche, dass etwas gut wird, eher solche, dass wir Schlimmerem entkommen. Er wusste, dass wir so oder so sterben werden. Die Teilnahme an dieser Studie war unser Todesurteil gewesen. 

„Nein.“ Ich wollte ihm keine Angst einjagen, aber ich konnte diesen Mann nicht gewinnen lassen.

„Nein?“ 

„Nein. Wir müssen die anderen warnen. Wir müssen sie in Sicherheit bringen.“
„Und wie willst du das machen?“ 

„Ganz einfach, wir erzählen ihnen die Wahrheit. Wenn sie erfahren, was hier wirklich vor sich geht, dann werden sie ziemlich schnell von hier abhauen.“

„Da hast du wohl recht… Aber was ist, wenn er davon etwas mitbekommt? Dann sind wir tot…“

„Natürlich wird er was davon mitbekommen. Alle seine Versuchskaninchen sind weg. Aber das ist egal. Er wird uns nichts tun. Er findet uns amüsant, da wird er uns nicht so schnell umbringen.“

„Hmm…“ Da hab ich ihn zum Nachdenken gebracht. Das war wahrscheinlich neu für ihn, zumindest passiert es ihm nicht allzu oft.

Ich kletterte auf den Tisch und rief: „Hey, alle mal hergehört!“ Die Wahrscheinlichkeit, dass alle beim Mittagessen waren, war eher gering, aber ich dachte mir, dass es besser wäre, wenn wir jetzt so viele wie möglich erreichen und die erzählen es dann den anderen, während sie zu ihren Zimmern gehen und ihre Koffer packen, als wenn wir jetzt nichts sagen.

Verstört zuguckend flüsterte Jaro: „Bist du jetzt verrückt geworden?“ Ich guckte ihn kurz an und machte dann weiter.

„Hey, alle!“ Dabei zeigte ich auf eine Gruppe, die im hinteren Teil der Mensa saß. „Wisst ihr überhaupt, warum wir hier sind?“ 

„Natürlich! Wir sind hier, um bei einer Studie mitzumachen!“ Die Frau, die das sagte, guckte mich an, als wäre ich dumm, und ihr Ton klang auch so. Dabei ist sie die Dumme.

„Ja. Aber worum geht es in dieser Studie?“

„Um unser Bewusstsein und wie individuell unsere Identitäten sind.“ Die Frau wirkte von mir gelangweilt. Wahrscheinlich dachte sie, ich wäre nur ein dummes Kind, dass nicht weiß worauf es sich eingelassen hat. Vielleicht dachte sie sogar, ich wär betrunken oder hätte Drogen genommen.

„Das stimmt auch.“

„Und was willst du dann von uns?“

„Ich will euch sagen, wie die Studie durchgeführt wird.“ Jetzt lachte die Frau.

„Wir müssen uns doch nicht von einem Kind erklären lassen, wie eine Studie funktioniert,“ spottete sie. „Vielleicht sollten wir es dir erklären.“

„Wenn Sie meinen. Wenn Sie wissen, wie das hier abläuft, dann wird es Sie ja nicht sonderlich erstaunen, dass hier unsere Gehirne ausgetauscht werden.“ 

Die Frau guckte mich starr an. „Ja, klar. Und dann werden wir wie Frankensteins Monster durch die Gänge schlurfen.“ Ihre Stimme klang immer noch spöttisch, aber ich hörte Unsicherheit. Sie hatte auf einmal Angst davor, dass ich die Wahrheit sagen könnte. Doch dann fiel ihr ein Mittel ein, sich wieder bestätigt zu fühlen. „Und wer will das bezeugen?“

„Ich.“ Leise meldete sich Jaro zu Wort. Die Frau lachte. Auch wenn sie der Meinung war, das alles würde nicht stimmen, der Rest der Menschen hörte mir zu. Sie glaubten mir. Oder niemand wollte sich einmischen.

„Ach, das ist doch kein Beweis! Wer glaubt denn schon zwei Kindern?“ Noch mehr Unsicherheit.

„Sagen Sie mir, was würde es mir bringen, Ihnen Märchen zu erzählen?“

„Aufmerksamkeit.“ Was für ein schwacher Versuch, mich einer Lüge zu bezichtigen.

„Die hab ich genug. Ich bin Einzelkind einer wohlhabenden Familie. Wenn ich will, bekomm ich so viel Aufmerksamkeit, wie ich nur möchte. Kommen Sie, nennen Sie mir einen weiteren Grund.“ Die Frau sagte nichts mehr. Ihr fiel wohl selber kein plausibler Grund ein. Gewonnen.

„Wer mir glaubt, sollte jetzt sofort gehen, bevor es zu spät ist. Wer sein Leben auf’s Spiel setzten möchte, gerne. Aber dann sagt nachher nicht, ihr würdet nicht gewarnt werden.“ Letzteres bezog sich stark auf die Frau. Sollte sie doch hier sterben. 

Nach und nach standen Menschen auf und verließen die Mensa. Fast alle waren nun weg. Nur ein paar wenige blieben noch sitzen. 

„Warum sollte jemand das tun?“ Dieses Mal meldete sich ein älterer Mann zu Wort. 

„Ich weiß es nicht. Aber dieser Mann, der uns alle hier her gebracht hat, er ist krank. Er ist wirklich krank. Wir beide haben ihn kennengelernt. Er hat mit uns gespielt, wie eine Katze mit einer Maus. Eigentlich will er nur unseren Tod, unser beider,“ mit einer Handbewegung deutete ich an, dass Jaro und ich gemeint waren, „Ihr anderen seid nur sein Spielzeug, für irgendwelche kranken Fantasien. Ich kann Ihnen nicht erklären, was in seinem Kopf passiert, aber ich kann Sie warnen. Und genau das tue ich.“

Allem Anschein nach wirkte meine Rede auch bei den Letzten. Jetzt verließen alle den Raum. Sogar die Frau. Allerdings war sie das Schlusslicht. Und sie ließ auch nicht die Gelegenheit aus, mich noch einmal misstrauisch anzugucken und „Wenn Sie hier Märchen erzählt haben und uns deshalb diese höchst interessante Studie verwehrt wurde, zeige ich Sie an!“ zu zu zischen.

Erleichtert kletterte ich vom Tisch wieder runter. „Hat doch alles super geklappt.“

„Ich weiß ja nicht so recht… Das war bestimmt gefährlich…“ 

„Natürlich war das gefährlich! Aber was sonst sollen wir tun? Wenn wir jetzt nichts unternommen hätten, dann wären hier alle tot! Und außerdem glaube ich immer noch nicht, dass er uns so leichtfertig umbringen wird.“ Ich lachte. Es war kein ehrliches Lachen, aber es hatte immerhin den Zweck, Jaro abzulenken. Er schien die Imitation nicht bemerkt zu haben, denn sein Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. 

„Chef, ich weiß ja nicht so genau, ob das jetzt die richtige Entscheidung ist, nachdem die das alles hier herausgefunden haben…“

„Habe ich Sie nach einer Meinung gefragt? Ich denke nicht! Und jetzt bringen Sie mir die Patienten!“ Der Mann im Ärztekittel stand vor dem OP-Saal und zog sich die Gummihandschuhe über. Er wusste, dass es ihm wieder nicht gelingen würde, aber er würde nicht aufgeben. Niemals. 

„Letztes Mal mag es so geendet sein, wie die vorherigen Versuche endeten, mit zwei Toten. Aber diesmal wird es klappen. Es muss klappen! Ich habe geübt, ich weiß welche Arterien ich durchtrennen darf, ich weiß was geht und was nicht. Es muss klappen.“ 

„Haben Sie etwas gesagt?“

Erschreckt durch den plötzlichen Aufenthalt einer Krankenschwester schaute er hoch. „Nein! Nein, Fräulein Banning, alles in bester Ordnung. Ist alles bereit?“

„Ja, Chef. Alles ist bereit für den Eingriff.“

„In Ordnung. Dann fangen wir mal an…“ Der Mann folgte der Krankenschwester in den Saal, wo eine weitere Transplantation stattfinden würde. 

Er nahm ein Skalpell in die Hand, legte es an die Kopfhaut seines Patienten an und schnitt. Das Blut floss. „Es wird gelingen…“

„Meine Teilnehmer sind weg,“ sagte der junge Mann ruhig. „Warum?“

„Sie waren wahrscheinlich schlauer als Sie es dachten,“ entgegnete ich. Wenn er uns schon mitten in einer UNO-Partie in sein Büro holen lässt, wird er sich mit seinen Problemen selber rumschlagen müssen.

„Sehr nett. Wo sind meine Teilnehmer?“

„Können Sie es sich nicht selber denken?“ 

„Ich weiß wo sie sind. Ich will von dir den Grund wissen.“ So langsam wurde er ziemlich patzig.

„Das können Sie sich doch bestimmt auch selber denken.“ Ich wollte wissen, wie weit ich bei ihm gehen konnte. Genervt rollte er mit den Augen. 

„Gut, dann sag es mir halt nicht.“ Der Mann kehrte mir den Rücken zu. Dann ging er mit verschränkten Armen hin und her, wie ein eingesperrter Tiger. Der Blick richtete sich währenddessen auf den Boden.

„Ich hätte aber noch eine Frage.“ Abrupt blieb der Mann stehen, schaute mich überrascht an und hob eine Augenbraue.

„Ach wirklich? Du hast auf etwas tatsächlich noch keine Antwort gefunden?“

„Nein, tatsächlich nicht. Warum machen Sie das hier alles? Was wollen Sie erreichen?“

„Das? Das hast du noch nicht herausgefunden?“ Er fing an, laut zu lachen. „Setz dich.“ 

Als die Wachmänner mich geholt hatten, warf Jaro mir einen strafenden Blick zu. Wahrscheinlich sollte es sowas bedeuten wie: Ich hab es dir doch gesagt! Aber das hätte mich zu keinem Zeitpunkt gestört. Ich wusste, dass ich das Richtige gemacht hatte. Auch wenn er anderer Meinung war. Überraschenderweise kam Jaro diesmal nicht mit, oder besser gesagt: Er wurde nicht mitgenommen. 

„Nein danke.Ich kann auch stehen bleiben.“ Jetzt verschränkte ich auch meine Arme. Der junge Mann vor mir zuckte nur mit den Schultern.

„Gut, wie du meinst.“

„Also, warum machen Sie das alles hier, diese Studie? Was ist der Sinn dahinter?“

„Ich will der erste Mensch auf der Welt sein, der das Bewusstsein zweier Menschen vertauscht hat. Ich will wissen, ob sich dann auch die jeweilige Identität verändert. Wenn mir das gelingen würde, wäre es der medizinische Durchbruch des Jahrtausends! Stell es dir nur einmal vor! Zwei Menschen, völlig verschiedene Lebensweisen, jeder eine eigene Identität, ein eigenes Bewusstsein. Und dann, ganz plötzlich, vertauscht! Du wachst in einem anderen Leben auf!“ Er grinste auf diese kranke Art, die ich bei ihm schon bei unserer ersten Begegnung festgestellt hatte.

„Aber was bringt das? Niemand würde so etwas wollen!“ Ich konnte nicht verstehen, was er damit bewirke wollte.

„Du wärst überrascht…“ Er legte eine Pause ein, währenddessen er auf den Boden starrte. Irgendetwas an dieser Sache muss sehr persönlich für ihn sein. Nach einer Weile schien er sich gefangen zu haben und redete unbeirrt weiter. „Ich wäre bekannt, auf der ganzen Welt sogar! Jeder würde meinen Namen kennen… Levio van Domberg!“ Mir stockte der Atem.

„van… van Domberg?“ Ich konnte nicht fassen, dass er den gleichen Namen wie ich trug.

„In der Tat, Schwesterchen.“ Erneut fing er an, hysterisch loszulachen. Mir wurde schwindelig. Das konnte nicht sein, ich bin Einzelkind, ich hab keine Geschwister! „Na, überrascht? Haben dir unsere Eltern nie erzählt dass du einen Zwilling hast?“ Seine Stimme klang gespielt traurig und überrascht, passend zu seinem Blick. Er wusste es. Die ganze Zeit.

„Warum… Woher…“ Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, aber Levio schien es für mich zu tun.

„Warum? Weil deine Eltern krank sind. Sie haben mich für ihre bescheuerten Psychospielchen benutzt. Ja, benutzt! Jahrelang wurde ich in einem kleinen Raum eingesperrt. Jeden Tag wieder wurde ich mit ihren Ideen geplagt. Irgendwann schienen sie dann genug gehabt zu haben und gaben mich in ein Waisenhaus. Sie hätten mich gefunden.“ Nach einer kurzen Pause grinste er wieder. „Woher ich dich kenne? Weil sie dich mir jeden Tag vorgehalten haben. Guck mal deine Schwester, sie ist viel schlauer als du! Guck mal deine Schwester, sie ist viel talentierter als du! Guck mal deine Schwester, sie ist viel besser als du!“ Levio äffte die Stimme meiner Mutter nach. „Jeden. Verdammten. Tag!“ Die letzten drei Worte betonte er besonders stark. 

„Aber… Das würden sie doch niemals tun!“

„Willst du sie fragen? Ja, willst du? Dann ruf sie doch mal an und frag nach Levio, deinem Zwilling! Da können sie nicht mehr lügen! Es ist die Wahrheit, Schwesterchen!“ Vor meiner Nase baumelte ein Telefonhörer. Ich fing an leise zu wimmern.

„Och Schwesterchen, kein Grund traurig zu sein! Du kennst mich doch jetzt!“

„Warum hast du mich hier hergebracht? Du wolltest mich genauso als dein Versuchskaninchen benutzen wie alle anderen! Warum? Warum wolltest du mir das antun?“ schluchzte ich.

„Warum?“ Mein Bruder reichte mir ein Taschentuch. „Na, kommst du da denn nicht selber drauf? Ich wollte mich rächen. An deinen Eltern. An all dem, was sie mir angetan haben. Woran ich früher leiden musste. Woran ich heute noch leiden muss… Und ich weiß, dass du alles bist, was ihnen teuer ist. Also muss ich dich töten, um mich an ihnen zu rächen.“

„Und was willst du mit dieser Studie erreichen? Außer dass du der erste Mensch bist, der zwei Gehirne austauscht? Da muss mehr hinter stecken, wenn ich deinen Blick richtig gedeutet habe.“

„Du bist sehr schlau, das mag ich. Macht einiges viel einfacher…“ Er guckte auf den Boden und lächelte. „Nun, wenn wir hier sowieso schon bei der Wahrheit sind… Ich wollte unsere Gehirne austauschen. Jetzt fragst du dich bestimmt zwei Dinge. 

Erstens: Wie will er es hinkriegen, unsere Gehirne auszutauschen, wenn er doch der erste und bislang einzige Mensch ist, der Gehirne tauschen kann? Ich habe einen Assistenten, der mir immer geholfen hatte. Er hat mit mir gelernt, wie man die Schnitte setzt. Wir haben schon lange vor dem hier angefangen.“ Er breitete seine Arme aus. Damit wollte er mir wohl andeuten, dass er die Studie meinte. „Wir haben den gleichen Grad an Erfahrung, auch wenn überall mein Name stehen wird.“

„Zweitens: Warum will er unsere Gehirne tauschen? Nun, das ist vielleicht die etwas kompliziertere Frage. Ich will unsere Identitäten tauschen. Du fragst dich jetzt sicherlich wieder warum, nicht wahr? Gut, ich will es dir erklären. Wenn unsere Gehirne getauscht sind, wenn dein Bewusstsein in meinem Körper ist und meines in deinem, dann haben wir die Identität des jeweils anderen, denkst du nicht? Wir sind in der Identität des anderen! Was mir das bringt? Ich habe endlich das Leben, das ich verdiene! Das Leben, dass du bekommen hast, was mir genauso zugestanden hätte wie dir! Das Leben, dass wir uns hätten teilen können! Das Leben…“ Seine Augen verengten sich. Der Ton in seinen letzten Sätzen wurde immer wütender. Aber dann, wie als hätte jemand einen Schalter geknipst, verhielt er sich genau so ruhig, wie er es vorher war.

„Bitte… Bitte, töte mich nicht… Ich kann doch nichts dafür…“ Inzwischen konnte ich nichts mehr sehen. Meine Augen waren gefüllt von Tränen. Das Taschentuch, dass mir mein Bruder gereicht hatte, war zwischenzeitlich auch völlig durchnässt. Er reichte mir ein weiteres.

„Vielleicht… Aber du musst mir was versprechen, in Ordnung?“ Seine Stimme klang fast schon warm und fürsorglich.

„Was denn?“

„Brich den Kontakt zu unseren Eltern ab. Zeig sie an. Sie müssen bestraft werden. Und wenn du es machst, dann tut es ihnen noch mehr weh, als wenn ich es tun würde. Bitte, tust du das für mich?“ Hoffnung.
„Ich kann doch nicht meine Eltern anzeigen! Ich liebe sie! Sie haben immer alles für mich getan!“ Mit meinem Ärmel wischte ich die restlichen Tränen weg.

„Wenn das so ist…“ Aus dem Inneren seiner Tasche zog er eine Pistole raus. „Bedauerlich, wirklich. Ich hab dich gerade als meine Schwester schätzen gelernt…“ Dann zielte er auf mich. Mein ganzer Körper schrie: Renn! Renn um dein Leben!

Als ich endlich den Haupteingang erreicht hatte, fiel mir Jaro ein. Ich konnte ihn doch nicht hier alleine lassen! 

Glücklicherweise saß er noch an dem Tisch, wo wir UNO gespielt hatten. Er betrachtete die Karten aufmerksam. Als ich die Tür aufriss, schaute er mich an. „Da bist du ja! Ich hatte schon gedacht, er hätte dich umgebracht!“

„Nein,“ keuchte ich. „Schlimmer. Er ist mein Bruder. Los, komm, wir müssen von hier weg. Sofort!“

„Warte, er ist dein Bruder?“

„Ja, aber komm, ich erklär dir das alles später!“ Da Jaro nicht von alleine aufstand, zog ich ihn an seinem Ärmel hoch und zerrte ihn hinter mir her. 

Wir rannten den Weg zwischen den Feldern entlang. Auf einmal hörte ich einen Schuss. „Ihr könnt nicht fliehen!“ Levio schien hinter uns her zu sein, mit einem Megafon in der einen und einer Pistole in der andern Hand. 

„Renn, komm, renn weiter!“

„Ich… Ich kann nicht mehr…“

„Nein, du musst mitkommen! Halt durch, wir sind fast da!“ Das war eine Lüge. Wir hatten kein Ziel. Wir rannten einfach nur weg.

Wieder ein Schuss.

Jaro knickte weg. 

Wieder ein Schuss.

Ich drehte mich zu Jaro um. Er lag auf dem Boden. In der Brust ein Schussloch. 

„Oh nein… Oh nein… Was… Was mach ich jetzt?“ Verzweifelt versuchte ich, die Blutung zu stoppen.

„Lass es… Rette dich selber… So viel verstehe auch ich… Ich werde es nicht schaffen… Und jetzt rette dich selbst, bevor er dich auch erwischt…“

Mit Tränen in den Augen umarmte ich Jaro ein erstes und letztes Mal, dann stand ich auf und rannte. Ich wusste, dass ich Jaro nicht mehr retten konnte. Ich wusste auch, dass ich wahrscheinlich keine Chancen habe, mich selber zu retten. Aber ich musste es versuchen.

Endlich erreichte ich die nächste Straße. Sofort rannte ich auf die Fahrahn, um ein Auto anzuhalten, das mich mitnehmen könnte. Aber es kam keines. Voller Angst drehte ich mich in die Richtung, aus der ich kam. Auf einmal realisierte ich, dass seitdem ich Jaro hinter mir gelassen hatte, nichts mehr gehört hatte. Levio musste aufgehört haben, mich zu verfolgen. 

Er hatte mich frei gelassen.

Er gab mir die Chance, unsere Eltern zur Rede zu stellen.

 

Er gab mir die Chance, mich von diesem Leben zu distanzieren und ein neues anzufangen. Mit einer neuen Identität. Mit einem Bruder.

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