Tina BenkDas falsche Leben

Ich beende gerade meinen Livestream auf Instagram, als es an der Haustür klingelt. Ich lege mein iPhone auf den Wohnzimmertisch und gehe zur Tür. Ein Paketbote steht davor und in seiner Hand hält er ein kleines braunes Paket, dass die Größe von einem Buch hat.

„Sind Sie Rebecca Schrader?“, fragt er mich und ich nicke nur. Der ältere Mann drückt mir das Paket in die Hand, wünscht mir einen schönen Tag und begibt sich wieder zu seinem Wagen.

Nachdem ich die Haustür geschlossen habe, betrachte ich neugierig das Paket. Da ich definitiv nichts bestellt habe, handelt es sich hierbei offenbar um ein Werbegeschenk. Bereits vor vier Jahren gründete ich, fast zeitgleich mit meiner besten Freundin Nadine, meinen YouTube-Kanal und habe mir seitdem einen Namen in der Werbebranche gemacht. Mittlerweile wollen viele namhafte Firmen mit mir zusammenarbeiten und meine Follower lieben mich.

Aber wen wundert es auch? Ich bin gut in meinem Job. Sowohl auf YouTube als auch bei Instagram werbe ich regelmäßig mit vielen Beautyprodukten und lasse meine Follower auch an meinem Privatleben teilhaben.

Das es auch Menschen gibt, die neidisch oder eifersüchtig sind, ist mir völlig egal. Das gehört nun einmal dazu, wenn man eine Influencerin ist.

 

Über der Anschrift klebt ein Sticker mit dem Namen „Beauty for you“. Diese Firma kenne ich noch nicht, also ist es kein normales Werbegeschenk. Mein Name scheint dort allerdings bekannt zu sein und nun wollen sie mich vermutlich anwerben. Dass es keine Adresse von der Firma gibt macht mich zunächst ein wenig stutzig, aber vielleicht wurde diese gerade erst gegründet und es gibt noch kein Gebäude.

Oben links in der Ecke befindet sich ein weiterer Sticker. „Ein kleines Geschenk für dich!“, ist in kleiner Schrift zu lesen. Ich bin zwar erst zweiundzwanzig Jahre alt, werde jedoch immer von den Firmen, deren Produkte ich bewerbe, gesiezt. Aber auch das Duzen kümmert mich nicht wirklich.

Mit dem Paket in der Hand gehe ich zurück ins Wohnzimmer, öffne es und runzle verwirrt die Stirn. In dem Paket befindet sich, eingepackt in Watte, lediglich ein iPhone 11 in schwarz. Ich besitze das Gleiche, allerdings ist meins rot.

Das Handy scheint nagelneu zu sein und als ich es umdrehe, klebt ein Zettel auf der Rückseite, den ich abmache.

„PIN 1615 eingeben, danach mit dem Finger auf dem Display wischen, um das Handy zu entsperren.“, lese ich die Anweisung leise vor.

Was hat das zu bedeuten?

Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, und ich weiß nicht einmal wieso, schalte ich das Handy ein. Kurz darauf erscheint die Abfrage nach der Pin und ich gebe die Zahlen von dem Zettel ein. Die Pin ist richtig, aber was unmittelbar danach folgt schockiert mich.

Auf dem Hintergrundbild des Handys ist ein Foto von mir zu sehen und es schockiert mich vor allem deshalb, weil eigentlich nur meine beste Freundin davon weiß.

Das Foto ist ein Selfie von mir und einem fremden Mädchen und es entstand bei einer Wette vor zwei Jahren. Nadine und ich wetteten darum, wer von uns beiden zuerst entjungfert werden würde und leider war sie es.

Zur Strafe musste ich ein Selfie mit einem fremden Mädchen machen und ich durfte mir nicht einmal aussuchen, mit wem ich dieses Selfie machen sollte.

Es war demütigend für mich. Ich mache keine Fotos mit Menschen, die in Billigklamotten rumlaufen, denn ich besitze einen guten Ruf und diese Menschen blamieren mich.

Wenn jemand davon erfahren hätte, wäre ich bei meinen Freunden unten durch gewesen. Nadine wusste es und suchte mir obendrein auch noch das hässlichste Mädchen aus, was sie finden konnte.

Nun ist dieses Selfie das Hintergrundbild auf dem Handy und ich weiß nicht, was ich denken oder sagen soll.

Will sich Nadine mit mir einen Scherz erlauben? Aber warum? Oder war es Marc, mein Ex, der sich rächen wollte, weil ich angeblich fremdgegangen war?

 

Ich entsperre das Handy, um nach Hinweisen zu suchen. Plötzlich erscheint eine SMS und ich öffne diese.

„Mailbox abhören!“, ist das Einzige, was die Nachricht enthält. Die Nummer ist unbekannt, also kann ich den Empfänger nicht nachverfolgen.

Als ich die Mailbox abhöre, meldet sich eine verzerrte Stimme.

„Hallo Rebecca. Ich weiß, was du vor einigen Jahren erfahren hast und ich weiß auch, was du danach getan hast. Jetzt wirst du dafür bezahlen. Wenn du nicht weißt was ich meine, schau dir die Fotos auf dem Handy an.“

Mehr sagt die unbekannte Stimme nicht. Entsetzt lasse ich mich auf die Couch nieder.

Das scheint kein harmloser Scherz zu sein. Jemand hat es offenbar auf mich abgesehen. Ich verstehe nur noch nicht warum, deswegen tue ich, was mir gesagt wurde und öffne die Fotosammlung.

Ich reiße meine Augen auf. In der Galerie sind viele Fotos und sie alle sind von mir. Von meiner Geburt bis zu meinem jetzigen Alter ist wirklich alles vertreten. Fotos von mir als Baby, von meiner Einschulung, meiner Kommunion, meinem Abschluss. Selbst Selfies mit meinen Freunden oder Urlaubsfotos sind dabei. Völlig fassungslos wische ich von einem Foto zum nächsten.

Wie kam die Person an meine Fotos und wieso muss ich bezahlen?

Dann komme ich zu dem letzten Foto und mir wird eiskalt. Es ist kein Bild von mir, sondern ein Foto von einem Tagebucheintrag und ich kenne dieses Tagebuch, denn ich selber habe den Eintrag vor vier Jahren fotografiert. Es ist das Tagebuch meines Vaters.

Als meine Eltern bei Freunden zu einem Abendessen eingeladen waren, suchte ich im Arbeitszimmer meines Vaters nach einer Briefmarke und fand dabei zufällig sein Tagebuch.

Neugierig wie ich war, las ich natürlich darin und stieß dabei auf ein dunkles Geheimnis aus seiner Vergangenheit.

Ich war so bestürzt und konnte es gleichzeitig kaum glauben. Ich hatte Angst, dass mich meine Eltern für verrückt erklären würden, weswegen ich die Seite mit dem Eintrag fotografierte. Am nächsten Tag, als beide wieder nüchtern waren, konfrontierte ich sie mit meinem Beweis und sie gaben alles zu.

Ich war so unglaublich wütend, dass ich für ein paar Tage zu Nadine und ihrem jetzigen Mann zog. Ich war nicht nur wütend, weil sie es mir verschwiegen hatten, sondern auch wegen der eventuellen Konsequenzen ihrer Tat.

Als ich mich beruhigt hatte und wieder nach Hause kam, waren meine Eltern so froh darüber, dass ich beschloss, die ganze Sache für mich zu behalten.

Es dauerte trotzdem einige Zeit, bis ich damit klar kam und in der Zeit tat ich vielleicht das ein oder andere, dass mich definitiv schlecht dastehen lassen würde, aber das war mir egal. Es würde sowieso niemand davon erfahren. Selbst Nadine weiß bis heute nichts davon.

 

Mein „neues“ Handy klingelt. Ich ziehe es aus meiner Hosentasche und starre aufs Display. Die Nummer ist unbekannt. Trotzig drücke ich den Anruf weg.

Wenn dieser Freak denkt, dass er mich einfach so fertig machen kann, hat er sich mit der falschen Person angelegt. So leicht würde ich es ihm nicht machen. Doch der Vorsatz hält nicht lange. Dreißig Sekunden später erhalte ich eine SMS.

„Drück mich noch einmal weg und Nadine stirbt!“, schreibt mein unbekannter Stalker und ich schlucke. So viel zu meinem Plan, mich nicht fertigmachen zu lassen. Weitere dreißig Sekunden vergehen, bis das Handy erneut klingelt. Dieses Mal nehme ich den Anruf an.

„Mich wegzudrücken war nicht dein erster Fehler, Schätzchen.“, begrüßt mich eine verzerrte Stimme, noch bevor ich etwas sagen kann.

„Wer zum Teufel ist da und was willst du von mir?“ Ich will wütend klingen, aber ich höre mich lediglich wie ein verängstigtes Kind an.

„Das wirst du noch früh genug erfahren, Rebecca. Oder sollte ich dich eher bei deinem richtigen Namen nennen? Wie auch immer. Deine Eltern haben am Tag deiner Geburt einen schrecklichen Fehler begangen, weswegen du dieses Leben, welches du seit Jahren führst, nicht verdient hast. Nun wirst du dafür büßen, dafür sorge ich. Sei bereit, dich bald von deinem Leben zu verabschieden und denk nicht einmal daran, abzuhauen. Ich werde dich finden, egal wo du bist!“ Er legt auf und das Einzige, was man in dem Haus hören kann, ist das Hämmern meines Herzens.

 

Seit dem Drohanruf sind inzwischen mehrere Stunden vergangen.

Die Sonne ist natürlich längst untergegangen. Es ist halb zehn und ich habe mich oben in mein Schlafzimmer zurückgezogen.

Seit dem Tod meiner Eltern wohne ich nun alleine in diesem großen Haus und es fühlt sich seitdem immer komisch an hier ohne jemanden zu wohnen, aber dieses Mal ist es anders.

Jemand will sich an mir rächen, weil mein Vater vor zweiundzwanzig Jahren aus Selbstsucht etwas Schreckliches tat und meine Mutter ihn nicht daran hinderte. Ganz im Gegenteil sogar, sie stimmte seinem Plan sogar zu. Ich versuche mir immer und immer wieder einzureden, dass ich keine Schuld daran trage. Ich war immerhin noch ein Baby. Aber an diesem heutigen Tag wird mir klar, dass ich wahrscheinlich falsch liege.

Vor vier Jahren, wenige Tage nachdem ich volljährig wurde, erfuhr ich, dass meine Eltern Tauschbörse gespielt hatten und ich unternahm nichts, weil ich mein Leben nicht verlieren wollte. Was für eine Ironie, dass nun genau das auf eine andere Art und Weise passieren soll.

Anstatt damals meinen Mund aufzumachen und meine Stimme zu erheben, hatte ich etwas anderes getan. Ich bedrohte eine alleinerziehende Mutter, als sie dabei war alles aufzudecken und verhöhnte sie sogar, was sie letztendlich in den Tod trieb.

Plötzlich geht das Licht in meinem Schlafzimmer aus und ich sitze im Dunkeln. Ich drücke auf den Lichtschalter, aber das Licht lässt sich nicht einschalten. Ich nehme mein Handy, mache die Taschenlampe an und gehe in den Flur. Doch auch dort gibt es kein Licht. Offenbar ist der Strom ausgefallen.

Langsam gehe ich die lange Wendeltreppe hinunter, um den Stromkasten zu suchen, den ich kurz darauf erreiche.

Augenblicklich spüre ich den Lauf einer Pistole an meinem Hinterkopf und ich bekomme eine Gänsehaut. Vor Schreck lasse ich mein Handy fallen. Langsam, und mit zitternden Beinen, drehe ich mich um.

„Denk nicht einmal daran, zu schreien oder zu fliehen, sonst ist Nadine die Nächste. Hast du mich verstanden?“ Die Stimme klingt bedrohlich und ich schlucke. Irgendwas irritiert mich daran, doch ich komme nicht darauf.

„Geh nach oben!“, befiehlt die unbekannte Person, aber ich weigere mich und bleibe stehen. Soll er mich doch hier unten umbringen!

Blitzartig durchdringt ein brennender Schmerz meinen Kopf, Sterne tanzen vor meinen Augen und alles um mich herum wird schwarz.

 

Als ich aufwache, dröhnt mein Kopf fürchterlich. Ich befinde mich in meinem eigenen Zimmer und sitze auf meinem Schreibtischstuhl. Meine Gedanken rasen und ich versuche mich daran zu erinnern, was passiert ist. Auf einmal fällt es mir wieder ein. Die unbekannte Person in meinem Haus. Die Pistole. Ich wurde niedergeschlagen, weil ich nicht nach oben gehen wollte.

„Sieh mal einer an, wer wieder wach ist.“ Das Licht geht an und ich muss blinzeln. Mein Angreifer kommt ins Zimmer und zeigt sich endlich. Jetzt weiß ich, was mich an der Stimme irritiert an. Eine Frau hat es auf mich abgesehen und sie sieht mir sehr ähnlich. Viel zu ähnlich. Die gleichen schwarze Haare, die gleichen blauen Augen und die gleiche Statur. Als würde ich eine Zwillingsschwester haben.

„Wer bist du und was willst du von mir?“, frage ich mit bebender Stimme.

„Eins nach dem anderen. Als erstes bekommst du dein neues Handy und dann will ich, dass du für mich eine Videostory auf Instagram drehst. Jeder soll sehen, warum du heute sterben wirst.“ Die junge Frau kommt langsam auf mich zu und ich verfolge jede ihrer Bewegungen.

„Warum machst du das nicht selber? Ich werde dir nicht dabei helfen, mich umzubringen.“, erwidere ich trotzig.

„Ganz einfach. Mit der Pistole in der rechten Hand muss ich dich in Schach halten und mit meiner linken Hand kann ich leider nichts mehr anfangen, weil sie dank dir und deiner Familie unbrauchbar ist.“

„Dir ist aber schon klar, dass auch die Polizei das Video sehen wird?“, frage ich und sie zuckt mit den Schultern.

„Mag sein, aber dann bin ich schon längst mit einem neuen Pass in einem anderen Land.“ Sie gibt mir das Handy, welches mir heute geschickt wurde. Ist das erst heute passiert? Es kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor.

„Und wehe, du machst damit was anderes, als die Story zu drehen. Ich bekomme alles mit.“, sagt sie drohend.

Zögernd nehme ich das Handy, aber anstelle der Videostory entschließe ich mich heimlich für einen Livestream. So viel zu dem Thema sie bekommt alles mit. Meine Follower würden zwar nun von meinem Geheimnis erfahren, aber hoffentlich würde auch jemand dabei sein, der schnell genug die Polizei ruft. Damit sie die Kommentare nicht sehen kann, stelle ich das Handy so auf dem Schreibtisch, dass diese von einem Buch verdeckt werden.

„Das Video läuft. Jetzt sag mir endlich, wird du bist und was du von mir willst.“, verlange ich zu wissen. Sie setzt sich auf den Sessel gegenüber von mir.

„Ich heiße Jessica und ich will endlich meine Rache für das, was deine Eltern und auch du getan haben. Den Rest wirst du erzählen.“

Ich seufze innerlich. War ja klar, dass es darauf hinausläuft. Jessica wedelt mit der Pistole in meine Richtung und mir bleibt nichts anderes übrig als endlich auszupacken. Ich wende mich zu der Kamera.

„Vor zweiundzwanzig Jahren erwarteten meine Eltern ein Kind, aber das war nicht ich, sondern Jessica. Vor der Geburt erfuhren sie, dass dieses Baby einen Herzfehler hat und die Ärzte wussten nicht, ob man diesen beheben könne. Mein Vater wollte immer einen Nachfolger für sein Krankenhaus und das Risiko war groß, dass es nicht dazu kommen würde. Deswegen beschloss er, sein Baby austauschen zu lassen und hat eine Krankenschwester mit viel Geld bestochen, damit sie den Tausch durchführt. Sie war zu dem Zeitpunkt selber schwanger und auf das Geld angewiesen, weil der Vater des Kindes sie im Stich gelassen hatte. Mein Vater erfuhr zufällig davon, weil er bei einem Gespräch gelauscht hatte und nutzte die Gelegenheit. Sie ließ sich auf den Deal ein und tauschte uns zwei aus. Weil das Krankenhaus damals personell unterbesetzt war, bekam davon niemand etwas mit. Vor vier Jahren erzählten mir meine Eltern diese Geschichte und ich beschloss, meinen Mund zu halten, weil ich mich an dieses Leben so gewöhnt habe und ich meine Eltern beschützen wollte. Das ist alles.“

Jessica, die in der Zwischenzeit aufgestanden und durch das Zimmer gelaufen ist, dreht sich plötzlich um und sieht mich hasserfüllt an.

„Nein, das ist nicht ALLES! Die Krankenschwester kam mit dem Tausch nie wirklich klar. Im Laufe der Zeit fühlte sie sich immer schuldiger. Vor vier Jahren wollte sie alles aufdecken und kam sogar zu euch! Natürlich warst nur du da. Du hast ihr damit gedroht sie fertigzumachen, wenn sie auspackt. Ein paar Tage später hast du sogar ein Video auf Instagram veröffentlicht und über das Thema „vertauschte Babys“ gesprochen. Du hast gesagt, jemand der so blöd ist und Babys nach der Geburt vertauscht sollte sich umbringen, weil so ganze Familien zerstört werden. Dabei ist dir das doch auch passiert! Lea konnte damit nicht mehr umgehen und hat sich umgebracht und das ist deine Schuld! Kurz vorher hat sie die Adresse meiner Familie herausbekommen und ich habe einen Abschiedsbrief erhalten, in dem sie alles erklärt hat. Du hast einen Menschen auf dem Gewissen! Du lebst ein Leben, dass ich eigentlich führen sollte. Ich sollte deinen Namen tragen und Influencerin sein. Du hast eine falsche Identität und es ist dir egal. Als ich neunzehn war, wurde ich abends nach einer Party von mehreren Jungs angegriffen und vergewaltigt. Sie verletzten mich so schwer, dass ich seitdem meine linke Hand kaum noch bewegen kann und das wäre nie passiert, wenn du etwas unternommen hättest. Ach, und nur zu deiner Info: Der Herzfehler konnte bereits vor Jahren wenige Wochen nach meiner Geburt behoben werden. Dieser Tausch war also nicht nur dreist, sondern auch komplett unnötig.“, faucht sie beim letzten Satz.

Tränen laufen mir über die Wangen, aber ich schweige, weil ich nicht weiß was ich sagen soll, also erzählt sie weiter.

„Und jetzt wirst du sterben, so wie ich deine Eltern habe töten lassen. Du dachtest wirklich, sie kamen bei einem Raubüberfall ums Leben? Schätzchen, ich habe es nur so aussehen lassen. Sie waren schließlich stinkreich und keiner würde daran zweifeln. Ach, und noch was. Mein Partner hat den Mann deiner Freundin vorhin eigenhändig überfahren. Er liegt jetzt zwar auf der Intensivstation anstatt in der Leichenhalle, aber was soll`s. Im Übrigen gab es nie ein Gerücht, dass du Marc fremdgegangen bist. Du bist aus einem ganz anderen Grund seit einem halben Jahr Single.“

In dem Moment geht meine Zimmertür auf und ich drehe mich auf dem Stuhl um. Mein Blut gefriert in den Adern, als ich ihren Partner erkenne.

„Marc? Du hast die ganze Zeit mit Jessica zusammengearbeitet und die Beziehung nur vorgetäuscht? Warum machst du das?“, frage ich entsetzt.

„Naja, eigentlich heiße ich gar nicht Marc. Mein richtiger Name ist Toni und ich bin der Sohn der Krankenschwester, die du falsche Schlange auf dem Gewissen hast. Jessica kam mich nach ihrem Tod besuchen und wir freundeten uns an. Als sie mir von ihrem Racheplan erzählte war ich sofort dabei. Es hat viel Spaß gemacht, deine Eltern zu erschießen und den Mord als Raubüberfall zu tarnen.“, antwortet er so eiskalt, dass mir die Spucke im Hals stecken bleibt.

„Wir haben unsere Rache perfekt geplant.“, fügt Jessica mit einem Grinsen hinzu.

„Da muss ich euch leider enttäuschen.“, widerspreche ich, nehme mein Handy vom Tisch und zeige ihnen den Livestream. Während beide verdattert auf das Display starren, nutze ich den Moment und springe auf Jessica zu. Ich entwende ihr die Pistole aus der Hand und schieße ihr in beide Knie. Vor Schmerzen schreiend geht sie zu Boden und kann sich kaum rühren. Toni schmeißt das Handy in die Ecke und wirft mich auf den Boden. Er versucht mir die Pistole aus der Hand zu nehmen, aber ich lasse ihm keine Chance. Ich kratze, beiße und trete um mich, als ein weiteres Mal die Tür aufgeht.

„Hier ist die Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!“ Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ein Polizist Toni von mir runterzieht und erleichtert atme ich aus.

Einer meiner Follower hat offenbar die Polizei gerufen und der ganze Albtraum hat jetzt endlich ein Ende.

Ein Polizist hilft mir auf die Füße zu kommen.

„Alles in Ordnung?“, fragt er mich und ich nicke, denn Worte für diesen Wahnsinn hier zu finden kann ich noch nicht.

Toni wird Handschellen angelegt und zwei Sanitäter, die gerade reinkommen, kümmern sich um Jessica. Ein anderer Polizist hebt das Handy auf und reicht es mir. Ich schalte sofort den Livestream aus und vermeide es mir die Kommentare durchzulesen. So weit bin ich noch nicht.

Ich atme tief durch. Dieser Horrortag hat endlich ein Ende.

 

 

Ein Jahr später

Bei der Gerichtsverhandlung gegen Jessica und Toni letzten Monat wurden beide für schuldunfähig erklärt und anstatt in den Knast zu gehen, wurden sie in die Psychiatrie eingewiesen. Der Richter meinte, sie wären psychisch krank und hätten nicht gewusst, was sie da taten. Ich bin zwar immer noch anderer Meinung, aber immerhin sind sie weggesperrt. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass die zwei die ganze Zeit ein Paar waren. Deswegen wollte Marc bzw. Toni auch nie mit mir schlafen.

Immerhin kann ich mich glücklich schätzen, dass es nur ein paar Monate bis zum Prozessbeginn gedauert hat. In Deutschland ist man eigentlich ganz andere Umstände gewohnt.

Wegen dem was ich durchgemacht habe, gehe ich bereits seit einigen Monaten zu einer Psychologin. Es tut gut mit jemanden zu reden.

Seit dem Abend, an dem ich angegriffen wurde haben sich meine Follower von mir zurückgezogen. Keiner wollte mehr etwas mit mir zu tun haben, selbst Nadine redet nicht mehr mit mir. Meinetwegen wurde ihr Mann überfahren und sitzt seitdem im Rollstuhl.

Ich habe in meiner Vergangenheit viel Mist gebaut und das bereue ich jetzt sehr. Ich habe es wohl verdient, dass mich so viele Leute hassen. Wenn ich meinen Mund aufgemacht hätte, wäre Jessica nicht vergewaltigt worden. Wir hätten unsere Leben getauscht und alles wäre in Ordnung. Obwohl sie mich töten wollte fühle ich mich trotzdem furchtbar.

Seit ein paar Monaten wohne ich nun in einer anderen Stadt, viele Kilometer von meinem alten Zuhause entfernt.

Weil ich weiß, dass Jessica und Toni irgendwann entlassen werden und ich Angst habe, dass sie mich erneut finden werden, habe ich vor kurzem auch meinen Namen ändern lassen. Ich wohne also in einer fremden Stadt mit einer neuen Identität und bin so allein wie noch nie zuvor.

Vor meinem Umzug und meiner Namensänderung suchte ich die Eltern von Jessica auf. Schwer zu finden waren sie nicht.

Ich habe mich bei ihnen entschuldigt und wollte ihnen als Entschädigung Geld anbieten, aber sie wollten es nicht. Die beide haben mich regelrecht aus dem Haus geworfen. Ich bin biologisch gesehen ihre eigentliche Tochter und trotzdem halten sie immer noch zu Jessica.

Seufzend steige ich aus der Badewanne. Nachdem ich mich angezogen habe, gehe ich die Treppen hinunter und in die Küche meines kleinen Einfamilienhauses.

Ich hole den Weißwein aus dem Kühlschrank, als ich den kalten Lufthauch spüre.

„Dreh dich um!“, befiehlt eine zornige Stimme und drehe mich tatsächlich um.

Fassungslos lasse ich die Weinflasche fallen. Vor mir steht Alexander, Jessicas Vater, und er hält die gleiche Pistole in seiner Hand wie Jessica vor einem Jahr.

Bevor ich noch etwas sagen kann, fällt ein Schuss und ich spüre den stechenden Schmerz in meinem Brustkorb.

Ich sacke zusammen. Blut läuft über meinen Körper und Alexander kommt näher. Ich ringe verzweifelt nach Luft.

„Das ist für meine Tochter, du Miststück!“, ist das Letzte was ich höre. Meine Augen schließen sich.

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