Elvira De PascaleDas gefälschte Leben

Kapitel 1. 

Stefan, heute

Es klingelte an der Tür. Stefan hatte es sich mit Popcorn und Chips gemütlich auf dem Sofa gemacht, als es klingelte. Wer kann es denn jetzt wohl um die Uhrzeit sein? Es klingelte erneut an der Tür, diesmal energischer. Er drückte auf Pause, stand auf und ging zur Tür. Ich komme schon, rief er

Er sah durch den Türspion. Davor stand die Nachbarin

„Na endlich Stefan, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Der Postbote hatte bei mir geklingelt und ein Paket für dich hinterlassen.“. „Ah, Dankeschön. Das ist sehr nett von dir“, entgegnete Stefan. Er nahm das Paket entgegen und verabschiedete sich von ihr.

Nachdem die Türe zu war, musterte er das Paket argwöhnisch. Irgendwas an dem Paket beunruhigte ihn. Das ist seltsam. Ich habe nichts bestellt.

Es lag nicht daran, dass das Paket seltsam war, weil er ein Paket erhalten hatte. Sondern es lag daran, dass das Paket ohne Absender und nur mit Empfänger verschickt worden war. Stefan schüttelte das Paket, vernahm aber nichts Konkretes. Keine hohlen und dumpfen Geräusche, nichts. Er stellte das Paket auf den Küchentisch ab, er würde sich morgen darum kümmern, und widmete sich wieder seiner Lieblingsserie und dem Sofa. Dort schlief er ein.

Im Halbschlaf hörte er ständig ein Piepsen. Stefan wusste nicht genau, wo er das Geräusch zuordnen sollte. Es hörte sich an wie ein Handy. Er dachte, das Geräusch würde aus dem Fernseher kommen, denn er besaß kein Handy.  Mit dem Gedanken schlief er fest ein.

 

 

Kapitel 2.

 

Thomas, vor einem halben Jahr

Thomas ging in das Gebäude hinein. Es fühlte sich so an wie früher, nur dass er selbst nicht mehr so wie früher war. Er hatte sich verändert, äußerlich so wie innerlich, seitdem das Beste, was ihm je Passierte fortgegangen war.

„Hey Thomas, was machst du hier? Solltest du nicht zu Hause sein?“, fragten seine Kollegen ihn.

„Ich habe etwas in meinem Büro vergessen“, sagte er.

Er fragte sich wie seine Kollegen ihn nur erkannten. Seine Erscheinung sah sehr mitgenommen aus, dazu geführt hatte neben dem Verlust auch sein Projekt, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Er konnte sowieso nicht arbeiten gehen, da er krankgeschrieben war, daher hatte er keinen Grund mehr, sich zu pflegen.

Seine Frau sprach nicht mehr mit ihm und war auch nur eine Hülle aus Fleisch und Blut und ohne Seele, seit ihre gemeinsame Tochter ums Leben gekommen war.

All seine Kollegen begrüßten ihn und gaben ihre Anteilnahme und Mitgefühl preis. Thomas bedankte sich bei seinen Kollegen.

Er war aber nicht hierhergekommen, um mit seinen Kollegen zu reden oder um etwas aus seinem Büro zu holen, sondern etwas aus einem anderen ganz bestimmten Raum.

Sein Ziel war die Asservatenkammer, in der die Beweise aufbewahrt werden. Er ging durch die Gänge und sah sich die Regale an. Thomas blieb stehen, denn er hatte gefunden was er brauchte. Auf dem Regal standen sein Nachname und der Nachname des Mörders seiner Tochter. Thomas zog die Tüte aus dem Regal und nahm sie mit.

Zufrieden ging er wieder hinaus und er war sich bewusst gewesen, dass er nach diesem Projekt nie wieder einen Fuß in dieses Gebäude setzen würde.

 

Kapitel 3.

Stefan, heute

Als Stefan aufwachte, war es schon mitten in der Nacht. Er stand mit steifen Gliedern auf. Oh nein, ich bin schon wieder eingeschlafen. Von der Serie hatte er nichts mehr mitbekommen.

Er schlurfte schläfrig ins Badezimmer, wo er sich für das Zubettgehen fertig machen wollte. Währenddessen hörte er wieder dieses Piepsen. Diesmal war er sich sicher, dass dieses Piepsen nicht aus der Serie kam, sondern aus seiner Wohnung. Er ging in den Flur, wo er versuchte den Ursprung ausfindig zu machen und verschärfte sein Gehör. Es klang dumpf, so als würde dieses Geräusch von etwas verschluckt. Stefan ging durch das Zimmer seiner Wohnung. Er presste auch sein Ohr an die Türe, um zu hören, ob es von draußen kam, aber dort war nichts. Als er in dem Flur stand, versuchte er sich noch besser auf sein Gehör zu fokussieren.

So konnte Stefan endlich das Geräusch ausfindig machen, es kam von der Küche. Mit unbewusst angehaltenem Atem ging er in die Küche, wo er dort zum Stehen kam. Nun steuerte er geradeaus auf das Paket zu, denn das Piepsen kam daraus. Angespannt hielt er kurz inne, nahm aber dann das Paket in die Hand und legte sein Ohr darauf.

Tatsächlich, darin befindet sich die Quelle. Auf dem Nacken stellten sich ihm alle Haare auf. Stefan war sich nicht sicher, warum er so angespannt war. Vielleicht lag es daran, dass er einen langen Tag hinter sich hatte, so müde war und er schon längst in dem Bett sein musste, oder es lag einfach schlichtweg an dem Paket, das es ohne Absender versendet worden war. Ich muss das aufmachen, nur so weiß ich was darin liegt und ständig Signale von sich gibt, und holte sich eine Schere.

Er atmete tief ein und aus, machte sich daran das Paket aufzumachen und wurde mit einer Überraschung belohnt, denn darin lag ein Handy umhüllt von Materialien aus Plastik, damit es nicht beschädigt wird. Es war ein iPhone. Er holte das Handy heraus und der Bildschirm aktivierte sich von allein. Darauf fand er eine einfache Erinnerung ohne jeglichen Text. Es war so eingestellt, dass man ohne Pin, ohne Fingerabdruck und ohne Face-ID in das Handy gehen kann. Darauf befanden sich keine Spiele oder Applikationen. Nur die Applikationen für die Fotos, FaceTime und WhatsApp, sonst keine anderen mehr. Das Handy in der Hand fühlte sich merkwürdig an und er hatte dabei kein gutes Gefühl.

Wer zum Teufel schickt mir ein Handy und stellt die Erinnerung so ein, dass sie jede Stunde klingelt? Vielleicht ist das nur ein blöder Streich? 

Er wollte herausfinden wem das Handy gehört und durchsuchte es. Vielleicht waren auf dem Handy Fotos von dem Besitzer.

Als er die Applikation für die Fotos öffnete, fiel er regelrecht in eine Schockstarre. Was er dort fand Bestärkte noch mehr das befremdliche Gefühl und er bekam ein Grauen am ganzen Körper. Darauf befanden sich Fotos von ihm. In jeder Situation. Jemand beobachtete ihn und das seit einer geraumen Zeit. Die Fotos zeigten den Zeitraum eines halben Jahres an! Ihm wurde schwindelig. Er legte das Handy ab und musste sich erstmal sammeln. Wer hatte Interesse daran ihn zu Stalken? Er verstand das nicht. Was sollte er verbrochen haben, um jemanden dazu zu verleiten, ihn zu beobachten?

Er versuchte sich anzustrengen und sich daran zu erinnern, aber dank seiner Amnesie konnte er das nicht. Genauer gesagt litt er an einer retrograden Amnesie und konnte sich an die Erlebnisse vor dem Unfall nicht erinnern. Die Narbe auf der Stirn und hinten am Kopf erinnerten ihn an den Unfall. Sie taten ihm weh, wenn das Wetter umschlug oder er Stress hatte. So wie jetzt.

Stefan nahm das Handy wieder in die Hand und scrollte weiter. Bisher nur Fotos von ihm. Plötzlich kamen nur schwarze Fotos. Er scrollte weiter und wieder wurde er überrascht. Erwartet hatte er weitere Fotos von sich, aber nicht Fotos von einem jungen Mädchen, die ihn nun auf dem Bildschirm anlächelte. Das Mädchen könnte um die 15 Jahre alt sein, mitten in der Pubertät, aber man konnte jetzt schon erkennen, dass sie einmal eine Schönheit werden würde. Stefan schaute sich weitere Fotos von dem Mädchen an und von ihr waren auch Fotos in jeder Lebenslage. Er hatte ein beunruhigendes Gefühl im Bauch, als er die Fotos betrachtete.

Kannte er das Mädchen und er konnte sich bloß nicht daran erinnern?

Plötzlich ploppte eine Nachricht auf. „Hallo Markus, es freut mich, dass du endlich das Handy benutzt hast. Kommen dir die Fotos bekannt vor?“ Stefan bekam einen schrecken und hätte beinahe das Handy fallen lassen. Mit einer Nachricht hatte er überhaupt nicht gerechnet.

 

Kapitel 4.

                            Thomas, vor einem halben Jahr

„Scheiße, ich habe ihn verloren“. Thomas stand ratlos mitten in der Stadt. Er war gerade dabei jemandem zu verfolgen und zu beschatten, als ihn ein aus dem Parkplatz herausfahrendes Auto am Weitergehen hinderte. Thomas ging nun sinnlos durch die Stadt in der Hoffnung, den Gejagten wieder zu finden. Er wollte die Suche nach ihm aufgeben und Richtung Auto gehen, als plötzlich um die Ecke ein Mann geschossen kam und beide einander rempelten. „Sorry,“ sagte Thomas.

Thomas musste schmunzeln, als er sah, wen er vor sich hatte. Der Typ, der ihn angerempelt hatte, sah ziemlich verblüfft drein, dazu geführt hatte wahrscheinlich Thomas’ schmunzeln.

Thomas ging weiter, und drehte sich noch einmal um und sah, dass der Typ immer noch dastand und ihm hinterherschaute.

Er hatte einen Fehler gemacht, er hatte den Typen angesprochen, aber er dachte, dass es ein Fremder war, mit dem er zusammenstieß und nicht der Gesuchte. Aber dennoch war er zufrieden und beinahe glücklich, weil er den Verfolgten wiedergefunden hatte und ihn somit weiter beobachten konnte.

 

Kapitel 5.

Stefan, heute

„Sicherlich fragst du dich, woher ich deinen Namen kenne. Ich weiß alles über dich.“, sagte der Unbekannte.

„Markus ist nicht mein Name. Sie haben sich vertan“, schrieb er.

Sofort kam eine neue Nachricht: „Ich denke nicht. Du wohnst in der Parkallestraße 24 in München?“.

Als Stefan die Nachricht las, gefror sein Blut in den Adern.

Er tippte „Ja“ ein.

„Wer bist du und warum beobachtest du mich?“ schrieb er. Wenn ein Fremder ihn schon duzte, dann tat er das auch. Der Unbekannte entgegnete: „Die Frage ist eher, warum du mich das fragst. Sagen dir die Fotos nichts von dem kleinen Mädchen?“

„Nein, die Kleine sagt mir nichts“, entgegnete er.

„SOLLTE SIE DIR ABER!“ erschien in Großbuchstaben auf dem Handy.

„Hör mal, ich lasse mich hier von dir nicht veräppeln. Ich rufe die Polizei!“

Ein paar Minuten später kam die Antwort: „Solltest du lieber nicht, außer du willst nicht wissen wer ich bin und in welchem Zusammenhang wir stehen“.

Stefan ließ sich das gesagte nochmal durch den Kopfgehen.

Er brannte darauf zu wissen, wer der Fremde und wer die Kleine waren, sonst ließe ihn das nicht in Ruhe.

„Was willst du von mir?“, schrieb er.

„Ich möchte, dass du siehst wie ich und meine Familie gelitten haben.“

„Was habe ich damit zu tun? Ich habe nichts getan“, entgegnete er.

„Komm morgen um 08:00 Uhr in dem Park.“ Und so verabschiedete sich der Unbekannte von ihm. Langsam fühlte er sich verarscht. Was wollte der Typ von ihm? Stefan ging in der Küche auf und ab und versuchte sich daran zu erinnern, was er jemals in seinem Leben Böses getan hatte.

Scheiße, morgen muss ich arbeiten. Es ist 03:00 Uhr nachts schon. Ich darf meine gute Arbeitsstelle nicht verlieren. Zu dem Treffen muss ich hin. Ich will wissen wer er ist.

Er merkte, dass langsam die Müdigkeit ihn übermannte und sich Kopfschmerzen anbahnten, da wo die Narbe war, und steuerte auf sein Schlafzimmer zu.

Es hatte keinen Zweck sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich muss versuchen, etwas Schlaf zu bekommen, und so legte er sich schlafen.

Am nächsten Tag rief er bei der Arbeit an und meldete sich krank. Er hatte kaum geschlafen. Ständig ging ihm die Unterhaltung mit dem Unbekannten durch den Kopf und es ließ ihn nicht los. Sein Kopf war voll mit Fragen und er versuchte sich daran zu erinnern, was in der Vergangenheit passiert sein konnte. Aber jedes Mal, wenn er versuchte sich an die Vergangenheit zu erinnern, war es schwarz. Keine Erinnerungen. Sein Gedächtnis ließ das nicht zu. Und immer wurde er wütend und traurig zugleich.

 

Kapitel 6.

Stefan, vor einem halben Jahr

Stefan hatte gerade Feierabend gemacht. Er wollte noch schnell in den Supermarkt einkaufen gehen, bevor er heim ging. Gedankenversunken bog er so schnell um die Ecke, sodass er mit einem Mann zusammenstieß.

„Sorry“, sagte der Mann.

Dabei sah er ihn grinsend mit einem provokativen Blick an, wobei das Grinsen eher einer hässlichen Fratze mit Qualen glich. Der Mann, der ihn angerempelt hatte, ging weiter. Kurz hatte Stefan Mitleid mit ihm. Er sah so traurig und gequält aus. Ungepflegt und ausgemergelt noch dazu. Aber er trug gutaussehende Klamotten, die ihm zwar herunterhingen wie ein Sack, aber immerhin waren es Markenklamotten. Stefan vermutete, dass ihm Schreckliches widerfahren sein musste.

Nein, Stefan hatte kein Mitleid mehr mit ihm. So schnell das Gefühl gekommen war, so schnell war das auch wieder verflogen. Denn der Typ hatte sich beim Gehen zu ihm umgedreht und hatte weiterhin das Grinsen im Gesicht. Er sah zufrieden, beinahe glücklich aus, wenn es überhaupt möglich war, in seinem Zustand.

Blödmann. Rempelt mich einfach an und grinst auch noch so glücklich.

Er beschloss sich nicht mehr über ihn aufzuregen und ging weiter.

 

Kapitel 7.

Stefan, heute

Er ging los. Um diese Uhrzeit war eh niemand im Park unterwegs. Die meisten waren entweder in der Arbeit oder zuhause.

„Guten Morgen Arschloch“, schrieb ihm der Unbekannte wieder.

Stefan stand unschlüssig vor dem Park, als die Nachricht kam.

„Geh nur ruhig rein in den Park. Sei nicht so zögerlich.“

Er sah sich mit der Gewissheit um, dass er beobachtet werden könnte. Stefan ließ den Blick über den Park und über die Straße hinter ihm herumschweifen. Der Park war noch sehr leer, nur ein paar Spaziergänger mit den Hunden waren hier. Er konnte nichts Merkwürdiges erkennen. Vielleicht spielt doch irgendjemand ein blödes Spiel mit mir. Ich nehme das auch niemandem übel.

„Siehst du das Schild dahinten? Laufe dahin. Da wartet was auf dich.“

Stefan befolgte die Aufforderung und ging los, immer noch aufmerksam durch die Gegend blickend. Schließlich erwartete er immer noch, dass jemand herauskam.

„Ich bin da“, schrieb Stefan.

„Ich sehe es“, kam von dem Unbekannten. „Geh zu dem Mülleimer und sieh darunter“.

Stefan beugte sich herunter und sah, dass unter dem Mülleimer eine Tüte lag. Er zog sie hervor und sah hinein. Er schaute nicht schlecht, als der Inhalt zum Vorschein kam. Darin lag nämlich ein tragbares Sprechfunkgerät. Er machte das tragbare Sprechfunkgerät an und es kamen erstmal nur Geräusche.

Kurz darauf vernahm er eine leise, wimmernde Stimme. Es war eine weibliche Stimme! Womöglich war das Mädchen zwischen zwölf und vierzehn Jahren. Sie musste unerträgliche Schmerzen haben. Sie litt hörbar und es zerriss ihm das Herz.

Aber dieses Wimmern löste etwas in seinem Gehirn aus. Plötzlich kamen Erinnerungen in ihm hoch, die er sonst noch nie hatte. Das Wimmern erstarb.

Stefan hörte vor Angespanntheit nur sein Blut in den Ohren rauschen. Er war geschockt. Warum tat der Typ ihm das an, vor allem dem Mädchen? Er machte sich eher sorgen um das Mädchen als um sich. Überhaupt war die Frage: Was wollte der Typ von ihm? Was hatte Stefan mit dem Ganzen zu tun? Plötzlich erklang eine männliche tiefe Stimme.

„Na, bist du noch da?“

Stefan überlegte, ob er die Stimme schon mal irgendwo gehört haben könnte. Aber er meinte, sie noch nie gehört zu haben.

Oder täusche ich mich wieder? Spielte sein Gehirn ihm wieder einen Streich? Stefan musste sich gestehen, dass der Fremde ihn dazu brachte, dass er sich nicht mehr sicher war, wer er ist.

„Ja. Warum quälst du das Mädchen?“

„Ich quäle das Mädchen nicht“, sagte der Fremder.

„Was dann?“, fragte Stefan in das tragbare Sprechfunkgerät.

„Ich möchte deine Erinnerungen aufleben lassen“, sagte der Unbekannte.

„Meine Erinnerungen?“, fragte Stefan verblüfft. Er musste sich auf die Bank neben dem Mülleimer setzen.

Habe ich das richtig verstanden?

„Ja, du hast es richtig verstanden. Ich kann deine Erinnerungen aufleben lassen.“

Habe ich gerade laut gedacht?

„Was weißt du über mich?“, sprach Stefan in das Gerät.

„Ziemlich viel. Ich kenne deine düstere Seele. Folge meinen Befehlen und du wirst es erfahren. Ich werde dich durch deine schlimmsten Albträume und Erinnerungen jagen.“

„Soll das eine Art Schnitzeljagd sein?“

„100 Punkte für dich, Markus“, lachte der Unbekannte trocken.

Das nervenaufreibende Spiel hatte gerade erst begonnen, und Stefan war jetzt schon neben sich. Er wusste nicht was der Fremde von ihm erwartet und warum er ihm das antat. Stefan wusste nur, dass er es durchhalten musste und dass der Fremde ihn offensichtlich durch die Hölle jagen wollte.

„Ich wiederhole mich ungern, aber ich heiße nicht Markus,“ sagte Stefan unwirsch und etwas lauter, als er beabsichtigte, denn manchen Passanten drehten sich zu ihm um.

„Im Laufe des Tages wirst du ganz viel über dich lernen.“

 

Kapitel 8.

Stefan blieb vor dem Laden stehen, dessen Namen und Adresse ihm der Fremde über das Handy zu kommen ließ.

Er ging in das kleinen Antiquitäten Laden hinein.

Darin roch es muffelig und alt. Der Laden war überfüllt mit Antiquitäten. Dadurch war es darin dunkel und eng. Stefan konnte den Tresen in dem ganzen Gerümpel nicht erkennen, deswegen rief Stefan nach jemandem.

„Hallo?“

„Ich bin hier“, rief einer, der hinter einer Kommode hervorlugte. Stefan folgte der Richtung, aus derer er die Stimme gerade gehört hatte. Er fand die Person an einem kleinen Ladentisch sitzend. 

„Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte ein freundlich wirkendender Mann mit Zottelmähne und einem Vollbart.

Der Typ passt hier rein wie die Faust aufs Auge.

„1 14 14 1“, sagte Stefan den Code gerade aus, den er von den Unbekannten bekommen hatte. 

Der Zottelbärtige erhob sich ruckartig vom Stuhl, sodass dieser nach hinten umkippte.

Der Besitzer des Geschäftes schaute Stefan mit großen entsetzten Augen an. 

Stefan nahm an, dass er der Inhaber dieses Ladens sei. Dieser verließ, ohne ein Wort zu verlieren, den Raum. Stefan erkannte jetzt erst, dass hinter dem Tresen eine Türe in der Mauer eingelassen war.

Der Bärtige tauchte wieder auf, diesmal mit einer Mappe in der Hand.

„Hier, für Sie.“, sagte der Bärtige nicht mehr ganz so freundlich. Stefan hatte das Gefühl, er habe Angst vor ihm.

Stefan fragte: „Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ 

Er ging auf ihn zu. „Alles bestens.“, erwiderte der Zottelige nicht ganz so überzeugend mit einem aufgesetzten Lächeln. Er machte eine Handbewegung, so als ob er Stefan hinausscheuchen wollte. Hatte der Bärtige gerade vor ihn hinaus zu schmeißen?

„Bitte verlassen Sie den Laden. Es ist Schließzeit.“

Ja, das hatte er vorgehabt und ehe Stefan sich versah und noch etwas erwidern konnte, stand er wieder auf der Straße.

Das war merkwürdig. Es ist doch gar nicht so spät. Oder doch?

Stefan war so ausgelaugt und fertig, dass er nicht mehr wusste, wo vorne und hinten war. Er zweifelte gerade an seinem Verstand. Ist das ganze real? Oder surreal?

Stefan wusste nicht, wohin er nun gehen sollte. Der Fremde hatte ihm keine weiteren Befehle gegeben. Deswegen stand er noch vor dem Laden.

Stefan schaute sich angewidert die Bilder an. Unappetitliche und grausame Fotos. Es waren keine normalen Fotos, sondern die von einer zerstückelten Leiche. Man kann auf diesen nicht viel erkennen. Es war alles voller Blut und menschlichen Glieder. Die Leiche war schwer identifizierbar. Er wusste nicht ob sie eine Frau oder ein Mann war.

Das Walkie-Talkie gab wieder Geräusche von sich und der Mann sprach.

„Wie gefallen dir die Fotos? Wenn du wissen möchtest, wer diese Leiche war, dann solltest du zu dir nach Hause gehen. Dort erfährst du mehr.“

 

Kapitel 9.

Stefan ging wieder zu sich nach Hause. Währenddessen schrieb der Fremde ihm, dass er seinen Briefkasten öffnen sollte.

Zu Hause angekommen tat Stefan wie befohlen. Er hielt kurz inne und wappnete sich vor dem Schlimmsten. In dem Briefkasten lag nur ein Kuvert.

Stefan nahm den Briefumschlag in DIN A 5 in die Hand und ging wieder in seine Wohnung zurück. Er öffnete es langsam, um nicht den Inhalt zu zerstören. Darin war eine Akte.

Stefan begann nun zu lesen. Er ahnte nicht, was er zum Lesen bekommen hatte.  Das was er in den Händen hielt würde sein Leben verändern.

In der Akte war das Leben eines Mannes aufgeführt: Markus Deller, geboren 06.11.1985. Dieses aufgeführte Leben war die eines Psychopathen und Mörders. Was Stefan da gerade las, war das reinste Grauen.

Was ihn aber am meisten graute war, dass sich darin ein Porträt befand. Und zwar von ihm.

Wie kann das sein?

Stefan fand sich immer als freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend. Ein Schwiegermutter Liebling eben. 

War ich doch nicht so wie ich immer dachte? Was für ein Leben habe ich geführt? Ich bin ein Mörder und ein Psychopath?!

Entsetzt legte er die Akte weg. Er war so aufgelöst. Aber er musste weiterlesen, denn darin stand noch mehr.

In der Akte war auch ein anderes Leben aufgeführt: Chiara Sefert, 14 Jahre alt, geboren am 18.08.2006.

Auch von ihr war ein Foto darin gewesen. Als Stefan das Foto sah, keuchte er auf. Das Mädchen hatte er schon mal gesehen. Es ist die Kleine auf dem Foto von der letzten Nacht. 

Er las auch das Leben von ihr. Sie war beliebt und aus ihr hätte was werden können. Die Betonung lag auf >hätte<, denn das kann sie nicht mehr werden, denn sie war seit einem halben Jahr tot. Gestorben ist sie durch dieser Mörder Markus Deller. Falsch. Gestorben ist sie durch mich! Ich bin Markus Deller!

Entsetzt legte Stefan die Akte weg und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er spürte etwas Nasses sein Gesicht herabfließen. Stefan merkte gar nicht, dass Tränen runterkullerten. 

Was Stefan aber nicht verleugnen konnte, war, dass die Fotos, die Stimme und die Akten seine Synapsen im Gehirn triggerten. Die Geschehnisse des Tages führten dazu, dass es im Gehirn zu Überschneidungen kam. Plötzlich sah er Bilder in seinem Kopf, die er gar nicht kannte.

Er sah ein Mädchen vor sich auf dem Fußboden liegen, sie hatte angsterfüllte Augen. Sie versuchte sich aufzurappeln, aber dabei rutschte sie wieder aus. Das Mädchen schlug auch immer wieder um sich, aber sie konnte nichts damit ausrichten. Denn er war natürlich stärker als sie. Er schaffte es, sie in die Enge zu treiben, und dort hatte er sie erwischt. Stefan alias Markus zog sie hoch und nahm sie wieder mit in den Keller, wo er sie weiter foltern würde. Denn dies war das letzte Mal, dass er sie in den Keller trug um sie zu Foltern. Denn danach herrschte kein Leben mehr in ihrem Körper.

Diese Erinnerungen wüteten gerade durch seinen Kopf. Sie waren so stark, dass er fast die Gefühle spüren konnte, die er dabei empfand, als er das Mädchen folterte.

Ich bin ein Mörder, Psychopath und Mädchenschänder.

So brach er in sich zusammen und hatte einen Nervenzusammenbruch. Stefan verließ aufgelöst wieder seine Wohnung. Er war verzweifelt und erschöpft, aber er wollte raus aus seiner Wohnung, die ihn daran erinnerte, dass er ein gefälschtes Leben geführt hatte.

 

Kapitel 10.

Stefan vertrat seine Beine, als plötzlich etwas in seiner Hosentasche klingelte. Stefan schrak zusammen und zog das Handy heraus. Der Unbekannte rief ihn an! Und zwar mit FaceTime! Stefan nahm den Anruf entgegen.

„Hallo Markus, weißt du jetzt endlich wer du bist?“

Stefan wollte ihn anschreien, dass er ihn in Ruhe lassen sollte. Aber er bejahte die Frage des Fremden, von dem er jetzt ein Gesicht zuordnen konnte.

„Ich möchte mich vorstellen. Ich heiße Thomas Sefert und bin der Vater von dem Mädchen, was du, Markus umgebracht hast.“ Stefan konnte immer noch nicht akzeptieren, dass er ein Mörder war.

„Es tut mir leid“, sagte Stefan kleinlaut und voller Bestürzung. „Ich bin nicht mehr der Markus, der einmal Menschen ermordete. Ich bin ein anderer Mensch geworden.“

„Deine Entschuldigungen und Reue bringen mir meine Chiara nicht mehr zurück. Ich habe selbst bei der Polizei gearbeitet. Du hast bewusst Chiara ausgesucht, weil du mir heimzahlen wolltest, dass ich vor langer Zeit geschafft habe, dich zu verhaftet. Aber leider hatte die Staatsanwaltschaft nicht genug Beweise gegen dich. Du warst frei und hast dich an meinem Mädchen vergriffen.

Stefan alias Markus konnte nur dastehen, unfähig sich zu bewegen. Das was Thomas sagte, riss ihm den Boden unter den Füßen weg.

Thomas fuhr fort: „Ich weiß, was dir passiert ist. Du hast einen Unfall gehabt. Jemand hatte dich überfahren und seitdem leidest du an einer Amnesie. Deswegen führst du ein anderes Leben unter dem Namen Stefan. Die Polizei hatte dich gehen lassen, weil du dich nicht mehr an die Taten und dein Leben vor dem Unfall erinnern konntest. Deswegen konntest du nicht ins Gefängnis wandern. Du warst schwer verletzt. Sie haben dir mit einem gefälschten Ausweis geholfen ein neues Leben zu führen.

Ich wollte mich an dir rächen und dich umbringen. Leider hast du überlebt. Die Amnesie hast du dank mir. Und nun werde ich mein Projekt beenden.“ So beendete Sefert das Telefonat.

Stefan hörte hinter sich ein Geräusch. Er drehte sich um und wurde angegriffen.

Jetzt wusste Stefan, warum es das Sprichwort „>Das passt wie die Faust auf Auge<“ gab. In diesem Augenblick wurde es ihm bewusst, wie sehr es passt. Er bekam eine Faust auf das Auge, so fest, dass er das Gleichgewicht verlor. Als er auf dem Boden lag, beugte sich jemand über ihn. Stefans Augen weiteten sich, als er erkannte, wer ihn gerade herablassend ansah.

Es war Thomas, der Vater von dem kleinen verstorbenen Mädchen, dessen Wimmern er hören und Fotos er anschauen musste, wozu ihr Vater ihn gezwungen hatte. Es war auch der Mann gewesen, der ihn vor langer Zeit angerempelt hatte. Er war es also der ihn beobachtet und fotografiert hatte.

Sein Gesicht war wutverzerrt, voller Hass und Verzweiflung. Thomas holte wieder aus und schlug zu, bis Stefan sein Bewusstsein verlor. In diesem Augenblick sah Stefan sein Leben an sich vorbeiziehen. Ihm wurde bewusst, was er in seinem Leben alles Schreckliches getan hatte. Wie viele Menschen er getötet und gefoltert hatte.

Und er bereute es. Er wollte nicht dieser Markus sein, er wollte sein Leben als Stefan fortführen. Aber es war egal, für welches Leben er sich entscheiden würde. Sein Leben, egal als Stefan oder Markus, würde bald vorbei sein. Denn er war in einem Folterkeller zu sich gekommen. Thomas hatte kein Erbarmen mit ihm und zeigte keine Milde. Er machte sich daran, Stefan alias Markus zu foltern und sein Leben zu beenden. Diesmal endgültig.

ENDE

 

Nach “lieben” ist “helfen” das schönste Zeitwort der Welt.

(Bertha von Suttner)

Ich möchte mich für die Korrektur und Hilfe bei Xanny Schmorli und Anja Nowitzki bedanken.

 

One thought on “Das gefälschte Leben

Schreibe einen Kommentar