MineledDas Geheimnis der Toten

1

Die Leiche vor mir war eingedellter als mein Auto. Sie musste aus großer Höhe gefallen sein – oder jemand hatte sie mehrfach mit einem SUV überrollt.

Ihre ehemals dunkle Haut hatte im Tod einen Graustich angenommen, den zahlreiche Quetsch- und Schürfwunden kontrastierten. Den Ekel eines solchen Anblicks verspürte ich nicht mehr, ging routiniert meiner Arbeit nach, bis der Mensch auf dem Obduktionstisch lediglich aus Zahlen, Daten und Bemerkungen in der Akte bestand. Staatsanwalt Hauser beauftragte mich für derartige Tätigkeiten bevorzugt. Denn im Gegensatz zu meinen beiden jüngeren Kollegen verlor ich mich weder in Details oder Vermutungen noch versagte meine Stimme, wenn ich Hinterbliebene zu den Opfern führte und um Identifizierung bat.

Gefühlsduselei hatte in der Rechtsmedizin nichts zu suchen. Dass sie mich hinter meinem Rücken »die Eiskönigin« nannten, schmerzte dennoch. Ich war nicht gefühlskalt, ich war nur gut in meinem Job.

Und alle auf meinem Tisch hatten eine Geschichte zu erzählen, die andere oft nicht hören wollten. Es oblag mir, die winzigen Hinweise aufzuschlüsseln, um den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen. Dafür brauchte ich einen wachen Geist.

Diese junge Frau hatte man an einer Einbahnstraße nahe meinem Arbeitsplatz gefunden; den Leichenflecken und ihrer Temperatur nach zu urteilen, war sie vor weniger als zehn Stunden gestorben. Irgendwann letzte Nacht also. Mehr gab die Obduktion bisher nicht her.

Ausgerechnet heute war ich nicht bei der Sache. Immer wieder schweiften die Gedanken zu der Szene heute Morgen zurück. Zu meinem Auto. Wie ich Davide angeschrien hatte. Dass ich zum ersten Mal seit elf Jahren zu spät zur Arbeit gekommen war.

Es war ihr gegenüber nicht fair. Sie verdiente meine volle Aufmerksamkeit. Allerdings sträubte sie sich, ihre Geheimnisse preiszugeben. Nackt und namenlos lag sie vor mir, die Wunden, Schnitte und Beulen verrieten etwas, das sich mir nicht offenbarte. Was ist mit dir passiert?

Die Tote schwieg.

Abgelenkt beendete ich die Untersuchung, bevor ich mich dem Plastikbeutel widmete, in dem ihre persönlichen Sachen lagen. Viel hatte sie nicht mit sich getragen. Ein Sommerkleid, Unterwäsche und eine winzige Handtasche, in der statt eines Portemonnaies ein Mobiltelefon auf mich wartete. Ich drehte es in der Hand hin und her. Selbst das Handy verriet kaum etwas über ihren Charakter, noch gab es mir einen Hinweis darauf, was passiert war. Es war eines dieser Wegwerfmodelle, kein überteuertes Smartphone mit unzähligem Klimbim und mehr Funktionen, als ein Mensch jemals nutzen könnte. Mein eigenes brannte bei diesem Gedanken beleidigt in der Potasche. Ich hatte es damals gekauft, weil mich die Blicke der Kollegen gestört hatten, sobald ich meinen ›alten Knochen‹ hervorgezogen hatte. Und – zugegebenermaßen – damit ich Davides Nachrichten, die aus GIFs, Bildern und Emoticons bestanden, lesen konnte.

Mit den Augen rollend, weil ich mich hatte ablenken lassen, konzentrierte ich mich auf das Handy. Ein Klick verriet mir, dass der Akku es am Leben hielt. Sobald er sich entladen hatte, würde ausschließlich unsere Technikabteilung damit arbeiten können. Aber mein Ehrgeiz rührte sich. Wenn Hauser nach der Mittagspause Ergebnisse verlangte, wollte ich ihm einen Bericht anbieten, der dem Ermittlerteam bei der Lösung des Falls half.

Muster eingeben, blinkte mir das Display entgegen. Zwar verletzte ich die Privatsphäre der Toten, doch ich würde alles tun, um ihre Geheimnisse zu lüften.

»Es ist nur zu deinem Besten«, nuschelte ich in Richtung des Körpers gewandt und kippte das Telefon unter dem harten Licht der Untersuchungslampe hin und her, bis sich die fettigen Abdrücke auf der Oberfläche zeigten.

Drei Versuche benötigte ich, bevor ich das Muster richtig nachzeichnete. Wie gut, dass die meisten heutzutage mehr auf Komfort denn auf Sicherheit setzten. Mit einer PIN hätte ich mich deutlich schwerer getan.

Den Triumph, der mit dem schlechten Gewissen wetteiferte, schob ich zur Seite, als ich begann, die Daten zu durchforsten. Wie bei der Obduktion ging ich dabei methodisch und möglichst emotionslos vor. 47 Prozent Akku; mir blieb also Zeit. Das Hintergrundbild – eine Interpretation von Van Goghs ›Drei Sonnenblumen‹ – wich mit einem Klick der Anrufliste.

Unbekannt gestern, 19:46

Unbekannt 14.07, 22:01

Unbekannt 13.07, 06:37

Unbekannt 12.07, 14:24

Ein Schauer lief über meinen Rücken, während ich die lange Liste herunterscrollte. Irgendjemand hatte die Frau seit circa einem Monat einmal am Tag, jedes Mal zu unterschiedlichen Uhrzeiten, mit einer unterdrückten Nummer angerufen. Sie hatte niemals abgenommen, aber ich konnte mir vorstellen, was für ein Horror das gewesen sein musste.

War sie bedroht worden? Hatte ein Stalker sie verfolgt?

Trotz meines Entsetzens fiel mir auf, dass es außer dem Unbekannten keine weiteren Einträge in der Anrufliste gab. Sie hatte niemals jemanden angerufen oder einen Anruf erhalten.

Irritiert öffnete ich die Kontakte. Keine einzige Nummer war darin gespeichert. Ich versuchte, auf die SIM-Karte und verschiedene Accounts zuzugreifen, aber die Suche blieb erfolglos.

Eine Frau ohne einen einzigen Sozialkontakt im Handy, dafür mit einer erschreckenden Telefonterror-Liste. Mein Blick wanderte zu ihr und ich kämpfte gegen den Schwall Mitleid an, der meine Professionalität zu zerstören drohte.

Nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken und die bisherigen Erkenntnisse mit dem Diktiergerät festgehalten hatte, entsperrte ich das Handy ein weiteres Mal.

Als Nächstes steuerte ich die Nachrichtenapp an. 135 SMS. Allesamt von »unbekannt«. Mit einem Knoten im Magen öffnete ich die erste. Sie war heute Morgen geschickt worden. Zehn Minuten, nachdem ich mit Davide den schlimmsten Streit unserer Beziehung gehabt hatte, meldete mein Gehirn ungefragt.

DU VERDAMMTE SCHLAMPE! DAS WAR DAS LETZTE MAL, DASS DU MICH BELÄSTIGST. DAFÜR WIRST DU BEZAHLEN!

Die nächsten Nachrichten waren genauso ausfallend. Immer wieder wurde die Tote aufs Übelste beschimpft, Gewalt angedroht und Warnungen ausgesprochen.

»Oh, scheiße«, zischte ich halblaut, als ich eine besonders schlimme Fantasie des Unbekannten las, »warum zum Teufel bist du nicht zur Polizei damit gegangen?«

Ihr dunkles Gesicht gab keine Antwort. Aber auf einmal spiegelten die Prellungen und Blessuren auf ihrem Körper die Drohungen wider, die sie wochenlang als Text ertragen hatte. Plötzlich verspürte ich das Bedürfnis, sie zuzudecken und ihr einen Rest Würde zurückzugeben, bevor ich weiter in ihr Privatleben eindrang. Ihre offenen Augen starrten mich an, als ich das Tuch über sie zog, und ich wandte den Kopf ab.

Immerhin würde ihr Handy dabei helfen, das Schwein, das sie so zugerichtet hatte, vor Gericht zu stellen. In der Hoffnung, wenigstens etwas Schönes über sie zu erfahren, öffnete ich die Galerie.

Meine Welt stellte sich auf den Kopf.

Das Auto auf dem ersten Bild erkannte ich sofort. Es war mein eigenes.

 

2

Als ich es mit zitternden Fingern vergrößerte, sah ich mich selbst, wie ich an der Fahrertür des Range Rovers lehnte und von Davide geküsst wurde. Meine Gedanken drehten durch, während meine Hände ohne mein Zutun schneller durch die Fotos wischten. Auch auf dem nächsten war ich zu sehen. In der Pause, umringt von meinen Kollegen. Danach ich auf der Dachterrasse meines Penthouse, im halb offenen Morgenmantel und einem Glas Wein in der Hand. Wieder ich: in Davides Armen; ihn im Restaurant küssend; halb von ihm abgewandt mit einem Augenrollen. Wie jung er neben mir aussah!

Mittlerweile zitterten meine Finger so sehr, dass ich mehrfach auf dem Display ausrutschte und versehentlich Bilder vergrößerte oder wegwischte, bevor ich sie richtig sah. Die Flut hörte nicht auf. Schließlich erschien ein Bild, das schlimmer war als die vorherigen. Mein Herz klopfte hart gegen meine Brust. Auf dem Foto war ich halb von hinten zu sehen, wie üblich im Casual-Business-Look und mit angespannten Schultern. Ich nahm einen Umschlag entgegen und –

»Frau Brecht?«

Zusammenzuckend schoss ich zu der Stimme herum, das Handy fiel klappernd auf das Seziertablett und das Bild leuchtete anklagend inmitten der Rippenscheren, Knochenzangen und Pinzetten.

»Entschuldigen Sie bitte«, stammelte Hannes, mein Präparationsassistent. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber die Reporter haben schon zum fünften Mal gefragt, ob Sie endlich Zeit …«

Mein Stirnrunzeln ließ ihn verstummen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, wovon er sprach. Als ich in der Früh abgehetzt und zornig in der Arbeit angekommen war, hatte ich den Journalisten und seine Fotografin kaum wahrgenommen. Sie hatten versucht, mich zu einem Interview zu einem meiner vergangenen Fälle zu überreden, doch ich hatte sie abgewimmelt.

»Die sind noch da?«, fauchte ich und nutzte die Gelegenheit, als Hannes zurückwich, um das Handy vom Tablett zu fischen und in meinem Kittel verschwinden zu lassen. Meine Gedanken hetzten durcheinander, ließen mich nicht mehr rational handeln.

»Ja, sie haben gesagt, sie gehen erst, wenn Sie …« Wieder brach er ab.

»Was auch immer. Ich habe keine Zeit für den Scheiß«, sagte ich, bevor er weiterreden konnte. Verdutzt glotzte der Assistent mich an. »Sorgen Sie dafür, dass die einen Termin abmachen und nicht noch mal unangekündigt auftauchen. Ich muss zu einem wichtigen Meeting.«

Damit rauschte ich an ihm vorbei, ließ ihn mit der Toten zurück und nahm ihre Geheimnisse mit.

 

3

Obwohl nicht einmal die Hälfte meiner Arbeitszeit vergangen war, steuerte ich auf den Hinterausgang der Klinik zu. Niemand hielt mich auf, auch wenn ich im Vorbeigehen die verdutzten Blicke von Kollegen bemerkte. Ich ignorierte sie. Das fremde Mobiltelefon in meiner Tasche schlug beim Gehen gegen mein Knie.

Wie ich nach Hause gelangte, konnte ich nicht sagen; erst als sich der Schlüssel im Schloss drehte, kam ich wieder zu mir. Kaum öffnete sich die Tür, stürzte Davide mir entgegen.

»Nora«, rief er, die Stimme erstickt und die Augen gerötet, »Nora, warum bist du nicht drangegangen? Ich hab den ganzen Vormittag versucht, dich zu erreichen. Bist du noch böse? Ich hab dir doch gesagt, dass ich dein Auto nicht –«

»Stopp!«, brüllte ich.

Davides Augen weiteten sich, aber er schwieg. Seine Unterlippe zitterte. Den Anblick meines heiß geliebten Range Rovers, den ich am Morgen mit eingedellter Motorhaube vor dem Carport vorgefunden hatte, hatte ich völlig verdrängt. Als hätte jemand einen Rammbock zum Bremsen benutzt, hatte ein tiefer, lackabsplitternder Abdruck das Fahrzeug verunstaltet, das mich einen Großteil meiner finanziellen Reserven gekostet hatte.

Ich war ins Haus gestürmt, hatte Davide aus dem Bett gescheucht und eine Rechtfertigung verlangt. Mit vom Schlaf verklebten Augen hatte er meine Vorwürfe abgestritten, er habe sich das Auto niemals ohne mein Wissen ausgeliehen und schon gar keinen Unfall damit gebaut. Zum ersten Mal, seit er vor anderthalb Jahren bei mir eingezogen war, hatte ich mich nicht beschwichtigen lassen. Der Range Rover erinnerte mich daran, was ich aus eigenen Kräften in meinem Leben erreicht hatte.

Nun erschien mir der Streit wie etwas, das nicht in der Früh, sondern vor Jahrzehnten passiert war. Hatte ich mich tatsächlich wegen einer Delle in einem Auto aufgeregt? Ja, ich hatte Geldprobleme. Ja, das Fahrzeug bedeutete mir viel und ich wusste nicht, wie ich eine Reparatur neben dem hohen Kredit für das Penthouse aufbringen sollte. Doch das waren Kinkerlitzchen im Vergleich zu dem Handy in meiner Kitteltasche.

Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen, dann packte ich Davide an den Schultern und sah ihm in die Augen.

»Das Auto ist nicht wichtig«, sagte ich. »Hörst du? Ich hab wirklich andere Sachen, um die ich mich kümmern muss. Können wir heute Abend über alles reden?«

»Okay.« Er schien nicht ganz überzeugt, aber kehrte nach einem Moment zum Sofa zurück, wo er den Fernsehton lauter drehte und sich in die Kissen kuschelte. Der Teil in mir, der sich ein Leben lang nach Geborgenheit gesehnt hatte, wollte sich zu ihm legen, an ihn schmiegen und die Welt ausschalten.

Diesen Luxus konnte ich mir nicht gönnen.

Auf wackeligen Beinen stakste ich zu dem Tresen, der Wohnbereich und Küche miteinander verband, schlüpfte aus dem Kittel und legte das Handy der Toten auf den Tisch. Dort lag es, das schwarze Display ein stummer Vorwurf. Das Muster kam mir mittlerweile so vertraut vor, als wäre es mein eigenes. In der Galerie warteten neben dem ersten Umschlagbild weitere auf mich. Ich sah mich, wie ich die Geldscheine in dem Umschlag durchblätterte, wie ich dem Mann vor mir steif die Hand schüttelte, wie er mir auf die Schulter klopfte. Den Ekel, den ich empfunden hatte, bildeten die Fotos nicht ab.

»Hey, ist das nicht dein Klinikum?«, rief Davide.

Mein Magen war zu einem steinharten Klumpen geworden, als ich zum Sofa ging und der Sprecherin der Reportage, die im Fernsehen lief, lauschte. Meine Hände krallten sich um das fremde Telefon.

»Wie uns die Polizei mitteilte, wird ein Fall, der auf den ersten Blick schwarz-weiß erschien, nach einem anonymen Anruf erneut aufgerollt. Neu zu Tage gekommene Indizien legen den Verdacht einer Autopsiefälschung nahe. Ist der tragische Tod des jungen Azem K. kein Unfall, sondern Totschlag oder gar Mord gewesen? Unser Team vor Ort berichtet.«

»Was geht denn bei euch ab?« Davides Kommentar drang kaum zu mir durch. In mir herrschte Panik. Bis vor einer Minute hatte ich gedacht, nicht noch mehr empfinden zu können, doch mein Körper lehrte mich eines Besseren. Schweiß prickelte über meine Stirn, während mir gleichzeitig eiskalt wurde. Mein Mund hatte sich in eine Wüste verwandelt.

Azem.

Der Name brannte sich in mein Gehirn. Die meisten meiner Fälle blieben mir nur als Gerichtsakten im Gedächtnis, diesen Namen allerdings würde ich niemals vergessen.

Vor zwei Jahren hatte Azem auf meinem Tisch gelegen. Mir war gerade die Wohnung wegen Eigenbedarf gekündigt worden. Außerdem hatte ich festgestellt, wie sehr ich mich an die Treffen mit dem sechs Jahre jüngeren Halbitaliener aus dem Internet gewöhnt hatte. Ohne die großzügigen Geschenke würde er mit Sicherheit das Interesse verlieren. Meine Bank hatte die letzte Krediterhöhung abgelehnt.

Azem war es deutlich schlechter ergangen. Der 23-jährige arabischstämmige Mann war fast bis zur Unkenntlichkeit verprügelt worden. Im Krankenhaus war er an inneren Verletzungen verstorben und ich hatte die Aufgabe gehabt, die Todesursache festzustellen.

Die Sachlage war eindeutig gewesen. Ich erinnerte mich an die Rippenbrüche und Quetschungen, die auf Faustschläge und Tritte in den Magen hindeuteten. Weitaus mehr erinnerte ich mich an den Totenschein. An die Diagnose »Unfalltod, Sturz von Brücke in Autoverkehr«. An den Namen, der diese Lüge als wahr deklarierte: Nora Brecht.

Und ich erinnerte mich an meinen Bekannten Erik, der mir mit einem widerwärtigen Grinsen auf die Schulter geklopft hatte, nachdem er mir das Geld überreicht hatte. »Gute Entscheidung, Nora«, hatte er gesagt. »Gute Entscheidung.«

Niemals zuvor hatte ich mich so angewidert. Dass Erik mit seiner Stammtischtruppe häufig besoffen durch die Stadt zog, hatte ich gewusst. Dass er dabei Obdachlose verprügelte – vorzugsweise jene mit dunkler Hautfarbe –, war mir neu gewesen. Als er mit dem Geständnis, den Kerl auf meinem Tisch versehentlich umgebracht zu haben, auf mich zugekommen war, war mein erster Impuls gewesen, ihn anzuzeigen.

Bis er mich auf meine Wohnungssuche angesprochen hatte. Wie schwer es war, in Berlin ein Zuhause zu finden. »Penner verrecken jeden Tag«, hatte er verkündet, »es war ein Unfall, das weißt du. Nora, du kennst mich seit der Schulzeit. Ich bin kein schlechter Mensch. Es tut uns echt leid, dass wir da etwas übertrieben haben. Aber was hilft es dem, wenn du uns an die Bullen verpfeifst? Denk mal an dich, Nora. Denk an deinen Lover. Hast du nicht etwas Glück verdient?«

Seine Worte hatten mich tiefer getroffen, als ich es mir eingestehen wollte. Stundenlang hatte ich mit mir gehadert, doch die Frau, die ihr Leben lang um Erfolg hatte kämpfen müssen, war lauter als das Gewissen gewesen. »Nur ein Obdachloser, einer von vielen … eine falsche Diagnose und ich bin meine Sorgen auf einen Schlag los. Niemand wird sich für diesen Toten interessieren. Aber eine Unterschrift und ich bekomme, was ich verdient habe. Ich muss mich um mich kümmern …« Meine Argumente gegen mich selbst waren zu stark gewesen.

»Die zuständige Forensikerin Frau B. war heute für einen Kommentar nicht erreichbar«, verkündete die gesichtslose Moderatorin in meinen Flashback hinein.

Davides Blick löste sich vom Fernseher. Er wandte sich mir zu, langsam, ruckartig, als weigerte sich sein Körper, mich anzusehen. »Nora«, stammelte er, und sosehr ich es immer geliebt hatte, meinen Namen auf seinen Lippen zu hören, so hart traf mich die Erkenntnis in den zwei Silben. Es war, als wäre ein Schleier von Davide abgefallen. Als sähe er mich zum ersten Mal wirklich. Als könnte er nicht verkraften, mit was für einem Abschaum er sich die letzten drei Jahre abgegeben hatte.

»Nora, die … die reden von dir. Hast du … was hast du …?«

Es machte nichts, dass er keinen Satz zu Ende brachte. Ich wusste, was er sagen wollte. Verdammte Lügnerin! Betrügerin! Mörderin!

»Nein«, kreischte ich in seine stumme Anklage hinein, »nein, du verstehst nicht, wofür ich gekämpft habe! Warum ich das getan habe!«

Er versuchte aufzuspringen, doch mein Körper hatte bereits einen Satz auf ihn zugemacht und wir krachten gegeneinander, fielen auf das Sofa zurück. Ich riss die Hände hoch, wollte seine Lippen verdecken, um nicht anhören zu müssen, wie seine Liebe zu mir zerbrach. Das Handy in meinen Fingern kollidierte mit seinem Kiefer. Davide brüllte auf, sein Gesichtsausdruck reflektierte die ganze Scheußlichkeit, die in mir verrottete. Das verräterische Telefon traf ihn ein zweites Mal.

Seine Augen mit den langen Wimpern weiteten sich, dem Mund, der so wunderbare Liebesgeständnisse hauchen konnte, entkam ein Keuchen, als sich meine Hände um seinen Hals schlossen. Davide strampelte und zuckte unter mir, schlug mit den Armen um sich, doch er war zu benommen und ich merkte seine Gegenwehr kaum. Zu sehr war ich damit beschäftigt, den anklagenden Blick aus seinem Gesicht zu löschen. Ich hatte bloß einen einzigen Fehler begangen! Ein Fehltritt! Ich hatte seine Verachtung nicht verdient. Azem, Erik, Davide – die Männer in meinem Leben vermischten sich in meinem tobenden Gehirn zu einem einzigen, der Vorwürfe ausspuckte, mich anklagte und ins Fegefeuer schickte. Nein. Nein! Aufheulend schüttelte ich den Kopf. Er musste mir verzeihen, er musste mich weiter lieben, er musste aufhören … musste …

Seine Augen wurden glasig. Die Finger, die sich in meine Unterarme gekrallt hatten, gaben nach. Rutschten herunter und fielen auf das Sofa.

Auf das Sofa, das mich zwei Monatsgehälter gekostet hatte. Das Sofa, auf dem er mich nackt nach der Arbeit empfangen hatte. Auf dem er mir den Rock über die Schenkel geschoben und mich bis zum Orgasmus geleckt hatte. Auf dem er mir vor einem Monat den Ring geschenkt hatte.

Ich sprang erschrocken auf. Mir war schwindelig und kein einziger Gedanke wollte sich formen. Meine Hände schienen nicht mehr zu mir zu gehören. Tief in mir wusste ich, was ich getan hatte, aber die Panik übernahm die Kontrolle über meinen Körper. Sie forderte nur eins: Flucht!

Flucht aus dem Penthouse, das ich mir weit über meine Verhältnisse hinaus gegönnt hatte.

Flucht vor dem jungen Liebhaber, der in erster Linie wegen meiner Großzügigkeit bei mir geblieben war.

Flucht aus dem Luxusleben, das ich durch eine Lüge aufgebaut hatte.

 

4

Erst in der Nacht kam ich zu mir. Ich war blind und taub durch die Straßen geirrt und stellte nun fest, dass ich vor meinem Arbeitsplatz gelandet war. Die Klinik gähnte mir dunkel entgegen. Zitternd durchwühlte ich die Hosentasche, stieß gegen das unheilvolle Handy und fand darunter den Schlüssel.

Was habe ich getan? O mein Gott, was soll ich nur tun?

Auf und ab tanzten meine Gedanken.

Die namenlose Leiche wartete im Kühlhaus auf mich. Aus einem Impuls heraus öffnete ich die Tür der Kühlzelle und zog die Bahre nach draußen. Als würde die Leiche endlich ihr Geheimnis freigeben. In der Akte entdeckte ich einen weiteren Eintrag. Hannes hatte nach meinem Weggang die Obduktion fortgeführt. »Lackspuren am Körper deuten auf Frontalzusammenstoß hin. Fahrerflucht? Unter Fingernägeln wurden Hautspuren gefunden. DNA zur Untersuchung an Labor geschickt.«

Ich starrte die Tote an. Die leeren Höhlen starrten reglos zurück. »Wer bist du? Was willst du von mir?«, flehte ich sie an.

Keine Reaktion.

Mein Blick verschwamm. Tränen schossen mir in die Augen. In weniger als einem Tag war mein gesamtes Leben ruiniert worden. Irgendwie hatte ich geahnt, eines Tages für meinen Fehltritt zu bezahlen. Aber so? »Bist du meine Richterin?«, fragte ich tonlos. Die Beine gaben unter mir nach, ich sank neben der Fremden auf den Boden. In mir wütete ein Aufruhr, der nicht abklingen wollte.

An dem Handy klebte Blut. Davides Blut. Wie betäubt scrollte ich ein weiteres Mal durch die Galerie. Erst nach einer Viertelstunde voller Bilder von mir erschien eine junge Frau auf dem Display. Obwohl Schnitte und Prellungen das Gesicht der Toten verunstalteten, erkannte ich es hinter dem unbeschwerten Lächeln auf dem Foto sofort. Der Mann daneben, der dieselbe Hautfarbe, das Strahlen in den Augen und die wild gelockten Haare wie sie besaß, war Azem. Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, ihr Kopf ruhte an seinem. Gemeinsam lachten sie mir entgegen.

Ich kannte nicht nur ihn. Ich kannte auch sie. Ihr Name fiel mir nicht ein, aber ich hatte sie getroffen. Eines Abends hatte sie mich vor dem Klinikum aufgehalten und angefleht, Gerechtigkeit für ihren Bruder zu ermöglichen. Unwillig hatte ich sie abgeschüttelt. Jetzt wurde mir klar, dass sie meinen Weg immer wieder gekreuzt hatte. Während ich das Geld ausgegeben hatte, das die Fälschung von Azems Obduktionsbericht mir eingebracht hatte, hatte sie versucht, an mein gutes Herz zu appellieren. Mich dazu zu bringen, das Unrecht, das ihrem Bruder widerfahren war, gutzumachen.

Das letzte Bild war kein Foto. Sondern der Screenshot einer Nummer.

Ich tippte sie ab, mein Finger schwebte über dem Anrufbutton. Dann drückte ich darauf.

»Hallo, Nora«, erklang eine mechanisch verzerrte weibliche Stimme. Eine Aufzeichnung. »Ich habe gehofft, dass du anrufst. Ich bin Heba, die Schwester von Azem. Nachdem du die Nachricht abgehört hast, wird sie sich löschen.

Die letzten zwei Jahre habe ich alles probiert, um dich zu überzeugen, das Richtige zu tun. Meinen Bruder nicht als anonymes Opfer in der Statistik verschwinden zu lassen. Wir wissen beide, was du getan hast. Trotzdem konnte ich keine konkreten Beweise gegen dich oder Erik Dänekamp auftreiben. Du bist zu gut in deinem Job und hast alle Spuren verwischt. Ein paar Fotos von euren halbjährlichen Treffen und ein Anruf bei dem Fernsehsender werden nicht ausreichen.

Wenn ich dich für die Vertuschung des Mordes an meinem Bruder nicht zur Rechenschaft ziehen kann, dann wirst du für einen anderen Mord büßen. Für meinen. Mir ist in diesem Leben nichts mehr geblieben, doch ich werde von einer anderen Welt aus zusehen, wie du für deine Missetat untergehst. Leider musste ich dein kostbares Auto demolieren, damit die Spuren an meinem Körper mit dem Schaden übereinstimmen. Hast du den Lack in meinen Haaren gefunden? Die DNA unter den Nägeln? Hast du sie routinemäßig eingetütet und ans Labor geschickt, dich darüber lustig gemacht, wie dumm manche Täter sind? Du wirst nicht als Letzte lachen.

Tagelang bin ich bei euch ein- und ausgegangen und dein junger Kerl hat nicht einmal Verdacht geschöpft. Hat geglaubt, ich wäre eine Putzfrau, die du angeheuert hast. So konnte ich alles besorgen, was ich brauchte. Hast du die Nachrichten auf meinem Handy gelesen? Die Polizei wird sie auf deinen privaten Computer zurückverfolgen. Genauso wie die anonymen Anrufe.

Nora, ich hätte dir gern eine Chance gegeben. Du hast mir keine andere Wahl gelassen. Azem kann nun in Frieden ruhen. Mein Leben gegen deins. Das erscheint mir ein fairer Tausch.«

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