cmmayerDas Geschenk

„Mensch, haben Sie keine Augen im Kopf“, entfährt es Valerie, als ein älterer Herr sie beim Verlassen des Supermarktes mit zwei vollgepackten Tüten in den Armen grob anrempelt. „Das tut mir leid, junge Dame“, antwortet dieser, „aber sie sind ja wohl mir in den Weg gelaufen!“ Am liebsten würde Valerie zu einer Schimpftirade ausholen und dem alten Kerl mal so richtig die Meinung geigen, jedoch war dafür gerade keine Zeit. Ihr Freund Thorsten hatte für den Abend eine besondere Überraschung angekündigt, doch das Osterwochenende stand kurz bevor und die letzten Einkäufe mussten wohl oder übel noch getätigt werden. Mit einem gehässigen „Als ob sie nicht den ganzen Tag Zeit zum Einkaufen hätten und nicht uns arbeitendes Volk behindern müssen!“ stürmt die junge Frau quer über den Parkplatz davon und lässt ihren unfreiwilligen Gesprächspartner kopfschüttelnd vor dem Eingang des Supermarktes zurück.

An ihrem Auto angekommen versucht Valerie mehrmals ihren Autoschlüssel aus der Handtasche zu fischen, was ihr aufgrund ihrer vollgepackten Arme nicht gelingen will. „Natürlich, jetzt wo ich es eilig habe, klappt hier gar nichts!“, brodelt es in ihr, bis sie ihre Schlüssel endlich zu fassen bekommt. Hektisch pfeffert Valerie die vollen Tüten mit einer schwungvollen Bewegung in den Kofferraum. Sie wollte auf keinen Fall zu spät zu ihrem Date mit Thorsten kommen! Überstürzt öffnet sie die Autotür, um einzusteigen, und übersieht um ein Haar fast den Zettel, der an der Scheibe ihrer Fahrertür klebt. Er war in der Mitte gefaltet und sorgsam mit Tesafilm angebracht worden. Valerie muss einen kurzen Moment an den einzelnen Streifen fummeln, was ihre Nervosität nur noch mehr steigert, doch kurz bevor sie den Zettel einfach gewaltsam von der Scheibe gerissen hätte, löste sich der letzte Tesastreifen und sie hält das gefaltete Stück Papier unversehrt in ihren Händen. Sie beginnt zu lesen:

Liebste Valerie,

dir steht heute ein besonderer Abend bevor! Ich weiß, du hast schon so lange auf diesen Tag gewartet, deswegen soll er ein ganz besonderer werden. Bitte komm unverzüglich in die Stadionstraße 51. Es wartet eine Überraschung auf dich.

Herzlichst, Du-weißt-schon-wer

Irritiert runzelt Valerie die Stirn. Wie konnte das sein? Hatte Thorsten ihr diesen Brief an die Scheibe gehängt? War er vielleicht nun ernsthaft bereit, den nächsten Schritt zu gehen und sie zu heiraten? Das Thema Hochzeit hatte bei dem Paar in den letzten Monaten immer wieder für Spannungen gesorgt. Valerie fand, dass sieben Jahre Beziehung wirklich genug waren, um sich sicher zu sein, aber ihr Freund hatte sich bisher trotz vielzähliger Versprechungen immer um den Antrag gedrückt. War heute der Tag, an dem er Nägel mit Köpfen machen würde?

Ohne einen zweiten Gedanken zu verschwenden springt Valerie in ihr Auto und macht sich mit Hilfe ihres Navis auf den Weg zur angegebenen Adresse.

Nach einer halbstündigen Fahrt kommt sie am Ziel an. Die Gegend war ihr unbekannt, es war eine recht verlassene Straße in der Nähe des Stuttgarter Flughafens. Valerie biegt die letzten Meter auf einen unbeleuchteten Parkplatz, der im Dämmerlicht vor ihr liegt. Niemand ist zu sehen. Unsicher überlegt Valerie, ob sie Thorsten nicht doch eine Nachricht schreiben sollte. Aber was, wenn das seine Überraschung verdarb? Das kann Valerie nicht zulassen, sie hat doch schon so lange von einem Antrag geträumt. Sie nimmt allen Mut zusammen, steigt aus ihrem Auto aus und lässt den Blick über den Parkplatz schweifen. Sie erkennt nur Schemen im Dämmerlicht. Gerade will Valerie schon enttäuscht aufgeben, als sie aus dem Augenwinkel am hinteren Ende des Parkplatzes ein Häuschen entdeckt, an dem ein rosa Ballon an der Türklinke festgebunden ist. Das muss es sein! Mit einem Lächeln auf den Lippen geht sie schnellen Schrittes auf das Gebäude zu. Valerie streckt ihre Hand nach dem Ballon, an dem ein weiterer Brief an einer Schnur baumelt, aus, doch bevor sie diesen zu Greifen bekommt, fühlt sie einen harten Schlag auf den Hinterkopf. In Valeries Augen explodiert ein Sternenmeer. Dann ist da nur noch endlose Dunkelheit.

*

Valerie schlägt die Augen auf. Für einen kurzen, gnädigen Moment weiß sie nicht, wo sie sich befindet und streckt reflexartig ihre Hand nach links aus, dort wo Thorsten jeden Morgen neben ihr im Bett liegt. Doch ihre Hand fühlt nicht die warme Haut ihres Partners, sondern nur kalten, harten Boden. Die Erkenntnis trifft sie mit voller Wucht und Panik breitet sich explosionsartig in Valerie aus. Sie hat keine Ahnung, wo sie sich befindet und kann sich nicht orientieren, da alles um sie herum in Dunkelheit liegt. Es riecht modrig und nass, wie in einem alten Keller. Valerie scheint auf einer Matratze zu liegen. Langsam und leicht schwankend setzt sie sich auf, in ihrem Magen meldet sich eine aufsteigende Übelkeit. Auch ein dumpfes Pochen an ihrem Hinterkopf beginnt sich zu melden. Erinnerungsfetzen wabern langsam zurück in ihre Gedanken. Da war dieser Parkplatz, der rosafarbene Ballon, dann der Schlag auf den Kopf, dann nichts. Wie ist sie hierhergekommen? Wo ist sie überhaupt? Erlaubte sich Thorsten einen geschmacklosen Scherz mit ihr? „Hallo, ist da jemand?“ ruft sie in die Dunkelheit, während sie mit ihrer rechten Hand durch die Haare an ihrem Kopf fühlt. Erleichtert stellt sie fest, dass der Schlag zwar eine dicke Beule hinterlassen hat, aber wenigstens nicht blutet. Doch das beruhigende Gefühl hält nur Sekunden, bevor Valeries Körper wieder voll von der aufkeimenden Panik vereinnahmt wird und ihre Hände zu zittern beginnen. „Hallo, verdammt, was soll das denn?“ ruft sie noch einmal lauter in das Nichts um sie herum.

Plötzlich erscheint neben der Matratze ein grelles Licht, welches Valerie im ersten Moment blendet. Ist das ein Handy?! Im ersten Moment befürchtet Valerie, dass sie bereits halluziniert, aufgrund von Dehydrierung oder des Schlags auf den Hinterkopf. Einen tiefen Atemzug später sieht der Lichtkegel auf dem Boden immer noch aus wie ein leuchtendes Display – sie hat es sich also doch nicht eingebildet. Valerie stürzt nach vorne und greift zitternd nach dem hellen Lichtpunkt auf dem Betonboden. Ungläubig starrt sie das Objekt in ihrer Hand an. Es war tatsächlich ein Smartphone. Nicht ihres, das liegt sicherlich noch in der Mittelkonsole ihres Autos auf diesem vermaledeiten Parkplatz. Plötzlich piepst das Gerät in Valeries und signalisiert einen Nachrichteneingang. Vor Schreck lässt sie es beinahe fallen, fängt sich aber dann doch und öffnet die eingegangene Nachricht. Ihre Augen weiten sich vor Schreck. Hektisch scrollt Valerie durch eine Sammlung an Bildern, die ihr auf dem Display des Smartphones präsentiert werden. Auf allen ist ausschließlich sie selbst zu sehen. Zuhause am Fenster, wie sie in ihr Auto steigt, wie sie Arbeit verlässt, mit Freunden in einem Café. Die Bilder sind nicht nur aus den letzten Tagen und Wochen, sondern teilweise monatealt. Wie kann das sein? Ist sie verfolgt worden? Ihr wird klar, dass Thorsten wohl nie etwas mit der Nachricht an ihrem Auto zu tun hatte und ihr entfährt ein Schluchzen. Alles in ihr zieht sich zusammen und Valeries Organe fühlen sich an, als ob sie in einem unentwirrbaren Berg verknotet wären. Ihr Körper sackt nach vorne und das fremde Smartphone fällt geräuschvoll vor ihr auf den Boden. Ein weiterer Ton signalisiert, dass erneut eine Nachricht eingegangen ist. Valerie greift mit zitternden Fingern nach dem Gerät und liest:

Du wirst für alles büßen, was du mir gestohlen hast!

Der Schrei, der nun aus ihrer Kehle dringt, ist eine Mischung aus gewaltsamer Verzweiflung und animalischem Überlebensinstinkt. Tränen fließen aus Valeries Augen und sie zittert am ganzen Körper, unfähig zu handeln oder einen klaren Gedanken zu fassen.

„Dir beim Heulen zuzusehen ist echt weniger unterhaltsam, als ich dachte.“, bricht plötzlich eine abfällig klingende Frauenstimme aus der Dunkelheit des Raumes. Vor Schock hält Valerie die Luft an. Was zur Hölle ist hier nur los? War sie die ganze Zeit über nicht allein gewesen? „Ich hätte wissen müssen, dass es keinen Spaß macht, so ein behütetes Pflänzlein wie dich dabei zu verfolgen, wie du mein kleines Spiel spielst! Bisher versagst du auf ganzer Linie! Ich gebe dir ein funktionierendes Telefon in die Hand und du versuchst nicht mal, die Polizei zu rufen! Alles was du tust, ist dich selbst bemitleiden. Wo sind deine verdammten Überlebensinstinkte, Valerie?!“ Die unbekannte Stimme klingt mit jedem Satz wütender. „Ach richtig, wie konnte ich es nur vergessen, du musstest bisher nie um dein Leben kämpfen! Alles wurde dir auf dem silbernen Tablett serviert: glückliche Kindheit, erfolgreiches Studium, toller Partner – und deine Eltern immer schön schützend hinter dir. Für dich haben sie das alles getan. Obwohl es nie vorgesehen war, dass dir dieses Leben zu teil wird. Sondern MIR!“ Die letzten Worte spie die Person Valerie förmlich entgegen.

„Entschuldigung, es tut mir wirklich leid, aber ich weiß weder wer sie sind noch wovon sie sprechen.“, antwortet Valerie zaghaft. Sie spürt, dass mit der unbekannten Person, die dort in der Dunkelheit auf sie wartet, nicht zu spaßen ist. „Bitte lassen sie mich wieder gehen!“, kommt flehend aus ihrem Mund.

Aus der Dunkelheit schallt ein lautes Lachen zu Valerie. „Meine Fresse, du bist wirklich noch erbärmlicher, als ich es mir vorgestellt habe.“, sagt die Stimme verächtlich. „Bitte lassen sie mich wieder gehen!“, äfft sie Valeries Verzweiflung nach und bricht dann wieder in Gelächter aus. Valerie schluckt. Ihr Gehirn versucht vergeblich, aus dieser Stimme in der Dunkelheit irgendeinen Sinn zu machen. Es kann doch nicht sein, dass diese Person sie meint! „Ich glaube hier liegt eine Verwechslung vor“, versucht sie ihr Gegenüber zu besänftigen. „Ich habe keinen blassen Schimmer, wer Sie sind!“

Das irre Kichern hört abrupt auf. Während Valerie noch überlegt, ob sie nun den richtigen Nerv bei der Unbekannten betroffen hat, kommt ihr plötzlich ein wütender Wortsturm, stakkatoartig wie Gewehrfeuer, entgegen: „Natürlich weißt du nicht, wer ich bin! Du solltest nämlich eigentlich gar nicht existieren! Du hast mir mein verdammtes Leben gestohlen!“

Dann passiert, womit Valerie in ihrer momentanen Situation am wenigsten rechnet: Das Licht geht an. Der Raum wird plötzlich mit der gleißenden Helligkeit mehrerer Glühbirnen durchzogen und im ersten Moment kann sie nur sternförmige Gebilde vor ihren Augen erkennen. Valerie hebt die Hand reflexartig vor ihr Gesicht. Als sie wieder etwas erkennen kann, bietet sich eine bizarre Szene vor ihr dar: Die unbekannte Frau, eine zierliche, blonde Person ihres Alters mit raspelkurzen, weiß blondierten Haaren in einem schwarzen Kleid und Stiefeln, steht inmitten des Raumes nur wenige Meter von Valerie entfernt. Um sie herum auf dem und auch überall an den Wänden verteilt sind Kinderfotos. Es sind nicht viele verschiedene, sondern zahllose Kopien der immer gleichen drei oder vier Aufnahmen. Verwaschene Bilder aus den frühen Achtzigern, auf denen zwei kleine Kinder miteinander zu sehen sind, manchmal in die Kamera grinsend, mal mit Bauklötzen. Das Lächeln des einen Kindes kommt Valerie bekannt vor, und die plötzliche Erkenntnis überrollt sie wie ein Güterzug, der quer über ihr Herz rast und es so schlagartig zum Stillstand bringt. Auf diesen Kinderbildern ist sie selbst zu sehen. Sie erkennt sogar den matschgrünen Teppich ihres Elternhauses wieder. Ihr eigenes Kinderlächeln hypnotisiert Valerie fast. Doch dieses andere Kind, dass da auf diesen Bildern mit ihr spielt, an jenes kann sie nicht erinnern. Auch die Fotos, auf denen die beiden Kinder gemeinsam sind, sind ihr völlig unbekannt. Das kleine Mädchen scheint höchstens ein Jahr älter zu sein als Valerie zum Zeitpunkt der Aufnahmen.

Bisher hatte sich die Unbekannte nicht bewegt und nichts gesagt, doch nun kommt sie mit langsamen Schritten auf Valerie zu. In ihrer rechten Hand blitzt ein großes Fleischermesser. Valerie, noch immer auf der schäbigen Matratze auf dem Boden sitzend, weicht instinktiv zurück gegen die kalte, nasse Wand des Raumes. Wie in Zeitlupe geht die Unbekannte vor ihr in die Hocke und richtet langsam das Messer auf ihr Gesicht. „Na, erinnerst du dich jetzt?“

„Nei-ein“, stammelt Valerie, „bist das du auf den Bildern mit mir?“ Die Frau verdreht die Augen genervt und lässt sich mit einem langen Seufzer rücklings auf den Hintern plumpsen. „Ach Valerie, du bist genauso so dumm und langweilig, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Natürlich bin ICH das auf den Bildern mit dir. Du hast dein ganzes verdammtes Leben mit dem goldenen Löffel im Mund gelebt, ohne zu checken, dass du überhaupt nie das Recht dazu hattest.“ Valerie schluckt, die Messerklinge ein paar Zentimeter von ihren Augen entfernt schwebend. „Ich kapiere nicht, warum ich hier in irgendeinem Verlies sitzen muss, um mir Kinderbilder von uns anzusehen.“, gibt sie mit trotzigem Tonfall in der Stimme zurück, die ihr Gegenüber zu einem höhnischen Lächeln verleitet. „Warum du?“, kommen die Worte kalt aus dem Mund der Unbekannten. „Weil du gar nicht leben solltest. Weil du das Leben gelebt hast, das mir zustand, Schwesterherz.“ Valerie kann nicht glauben, was sie da hört. „Schwesterherz? Ich habe keine Geschwister.“, stammelt sie unsicher.

„Ja weil deine Eltern mich wie einen Schädlingsbefall entsorgt haben, als du, ihr geheiligtes Wunderkind, auf die Welt gekommen bist, du verschissene Schlampe!“, brüllt die Unbekannte ihr nun entgegen und bohrt das Messer leicht in Valeries Wange, so dass diese unter dem Schmerz zusammenzuckt. „Ich verstehe das alles nicht…“, antwortet sie mit gebrochener Stimme.

„Du wirst jetzt einfach mal die Fresse halten und mir zuhören. Jetzt ist meine Zeit endlich gekommen“. Valerie schweigt und nickt, in der Hoffnung, dass die Unbekannte das Messer nicht noch tiefer in ihr Fleisch rammt. Diese nimmt die Waffe endlich aus Valeries Gesicht und fängt an, es wild hin und her zu schwingen, während sie beginnt ihre Geschichte erzählen: „Wir schreiben das Jahr 1989. Ein Ehepaar versucht seit Jahren, ein Kind zu bekommen, doch es will nicht klappen. Sie die Hoffnung aufgegeben und sich bei verschiedenen Adoptionsagenturen angemeldet. Es ist schon Spätherbst, als sie endlich den lang ersehnten Anruf erhalten – ein Neugeborenes wurde gerade durch die Babyklappe gegeben und das Paar würde sich dafür eignen. Erstmal müssten sie eine Pflegeelternschaft übernehmen, aber das wären nur Formalia, sie könnten das Kind nach Ablauf der Zeit auch adoptieren. Für das Baby begann damit eine glorreiche Zeit – der Vater gerade Anwalt geworden und die Mutter als Hausfrau mit genug Zeit, um sich ideal um es kümmern zu können. Wer weiß welcher crackabhängige Teenager es in die Babyklappe gelegt hatte. Sie waren eine so perfekte kleine Familie. Bis zum Jahresanfang 1991. Da hatte das traumhafte Leben des Babys ein jähes Ende.“ Die Unbekannte stoppte in ihrer Erzählung und sah Valerie erwartungsvoll an. Diese schluckt und antwortet leise: „Ich bin im Januar 1991 zur Welt gekommen.“

Aufgeregt klatscht ihr Gegenüber in die Hände. „Jackpot! Das ist richtig, liebe Valerie! So dumm wie du dich bisher gegeben hast, bist du wohl doch nicht! Du kamst auf die Welt 1991 und mein Leben endete kurze Zeit später. Deine Eltern hatten nämlich endlich das, was sie immer wollten: Ein leibliches Kind. Ich war ein netter Zeitvertreib gewesen, aber als der Moment kam, an dem sie mich hätten adoptieren können, entschieden sie sich, nicht einmal mehr meine Pflegeeltern sein zu wollen. Ich war noch nicht einmal drei Jahre alt, und all meine Chancen im Leben waren bereits vertan. Weil du unbedingt geboren werden musstest!“

Die Unbekannte packt Valerie unvermittelt an den Hals und der kräftige Druck der Hand schnürt ihr die Luft ab. „Bitte… nicht.“, krächzt sie hilflos. Ihre Gegenspielerin schleudert sie mit ungestümer Wucht an die Wand. „Keine Angst, Schwester, ich werde dir nichts tun. Du wirst später selbst entscheiden, wie es weitergeht. Aber nun, wir wollen doch keine Zeit verlieren, ich erzähle nun meine Geschichte weiter und du schweigst.“ Nachdrücklich sieht die blonde Frau Valerie ins Gesicht, diese reibt sich den Hals und nickt zur Bestätigung.

„Wie ging es nun nur weiter mit dem unschuldigen Baby? Na, nachdem ich mit dir hier sitze, hab ich wohl den wichtigsten Spoiler schon gegeben, nicht wahr?“, schmunzelt die Unbekannte, bis sich Sekunden später in ihren Augen wieder kalte Wut spiegelte. „Es war die Hölle. Klar, neue Pflegeeltern fanden sich für ein Kleinkind schnell. Doch es waren leider wieder keine, die dem Kind ein schönes Leben geben wollten. Ganz im Gegenteil. Ich war noch kein Schulkind, da hatte ich schon mehr Genitalien gesehen als du vermutlich in deinem ganzen beschissen unschuldigen Erwachsenenleben. Irgendwann als ich acht war, war ein Nachbar endlich aufmerksam genug und meine sogenannten Eltern wurden verhaftet. Am Anfang machte mir das Hoffnung, aber ich kam in ein Heim. War das extrem traumatisierte Kind mit den Entwicklungsstörungen, um das sich keiner kümmern wollte. Im Heim ging es dann munter weiter – und mit 12 oder 13 hatte ich auch raus, dass man schon so jung mit sexuellen Dienstleistungen alles bekommen konnte. Von meiner ersten Abtreibung mit 15 hat das Jugendamt nie erfahren. All mein Verhalten wurde auf meine alten Erlebnisse geschoben, ein personifiziertes Trauma, obwohl ich immer und immer weiter verletzt wurde. Niemanden hat es gekümmert, ich war ja schon ein Totalschaden. Mit 18 wollten sie mich in eine andere Einrichtung stecken. Ich ließ mir meine Unterlagen aushändigen und schlief lieber jahrelang auf der Straße, als mich noch einmal anderen Menschen Macht über mich zu gewähren. Prostitution, Drogen, dies das, du kannst es dir denken – eine gescheiterte Existenz. Bis ich die Unterlagen vom Jugendamt vor ein paar Jahren nochmal genauer in Augenschein genommen habe und herausfand, dass ich niemals so hätte enden müssen. Dass mein Leben eigentlich deines hätte sein sollen, Valerie. Ich hätte es verdient gehabt, glücklich und erfolgreich zu sein und nicht von dir vertrieben und wie ein lästiges Haustier entsorgt zu werden.“ „Es tut mir leid.“, antwortet Valerie leise. Es ist alles, was sie im Moment sagen kann. Was haben ihre Eltern nur getan?

„Es muss dir nicht leidtun, Schwesterherz.“, sagt die Unbekannte mit einem fröhlichen Plauderton in der Stimme. „Ich werde fairer zu dir sein, als das Leben es zu mir gewesen ist.“ Mit diesen Worten zieht sie eine hölzerne Schachtel aus einer Tasche an ihrer rechten Hüfte und überreicht diese Valerie. „Die Tür dort hinten ist offen, sie war niemals abgeschlossen. Du hast die Wahl. Viel Glück, Schwester.“ Mit diesen Worten erhebt die Unbekannte sich und verlässt mit schweren Schritten den Raum durch eine knarzende Holztür am Ende des Raumes. Valerie rappelt sich auf, greift das Holzkästchen vor ihr und rennt der Unbekannten hinterher, doch als sie ebenfalls durch die Tür schreitet, kann sie keinen Menschen mehr erkennen. Sie steht in Freiheit auf einem verlassenen Industriegelände. Ihr blickt senkt sich auf die Schatulle in ihrer Hand.

*

In ihrem Lieblingsrestaurant Da Gennaro herrscht reges Treiben. Wie versteinert sitzt Valerie an dem Vierertisch, den ihr Stammkellner Marco ihr kurzfristig organisiert hatte, gleich im großen, hellen Eingangsbereich des Ladens. Es herrscht ein geschäftiges Treiben, der Laden ist voll. Stimmen schwirren von den verschiedenen Tischen zu Valerie herüber. Sie lässt ihren Blick über die römischen Fresken an der Wand schweifen, als die Eingangstür sich mit einem hellen Gebimmel öffnete und ihre Eltern mit ihrem Partner Thorsten zur Tür hereinkommen. Valerie steht auf und begrüßt alle drei mit einer Umarmung, die jeweils Sekunden länger als normalerweise dauert. „Na das war ja eine Überraschung, dass du uns so kurzfristig hier ins Restaurant bestellt hast“, meint ihre Mutter. Ihr Vater ergänzt grummelnd: „Ich musste dafür extra den Skatabend im Verein absagen.“ Valerie murmelt ein leises, kraftloses „Danke, dass ihr gekommen seid.“. Auch Thorsten scheint verwirrt zu sein, nachdem er erst eine halbe Stunde zuvor von Valerie angefleht wurde, sie doch bitte hier im Restaurant zu treffen anstatt wie vereinbart Thorstens geplante Überraschung stattfinden zu lassen.

Valerie schließt die Augen und atmet einen Moment tief durch. Sie hebt ihre Handtasche vom Boden, schiebt ihren Stuhl zurück und steht auf. Mit einer schnellen Bewegung zieht sie eine schwarze Pistole aus der Tasche. Sie war das Geschenk aus der Box. Die Augen ihrer Mutter weiten sich, doch es bleibt keine Zeit mehr zu reagieren. Die Gespräche an den Nachbartischen verstummen abrupt, als die ersten anderen Gäste merken, dass hier etwas nicht stimmt. Ihre Augen weit geöffnet hebt sie die Waffe, ohne zu zögern, an ihre Schläfe. „Es tut mir leid, ich liebe euch.“, sind Valeries letzte Worte, bevor sie den Abzug der Pistole betätigt und ein ohrenbetäubender Knall den Raum erfüllt. Für einen Moment erscheint es, als wäre die Zeit angehalten, doch dann stößt eine ältere Dame am Nachbartisch einen spitzen Schrei aus und Chaos breitet sich explosionsartig aus. Thorsten sitzt völlig versteinert da, sein Gesicht von blutigen Spritzern und Gewebe überzogen. Es ging alles so schnell, dass er nicht einmal versuchen konnte, Valerie aufzuhalten. Er wagt einen kurzen Blick auf den Boden neben sich und aus dem Augenwinkel erhascht er einen Blick auf das, was einmal Valeries Kopf gewesen ist. Thorsten muss sich abwenden und sein Schädel fühlt sich mit einem Mal zu eng für all seine Gedanken an, als würde er gleich aufreißen und sein Gehirn offenbaren, so wie Valeries, das verteilt auf ihm und dem Boden liegt. Er schlägt mit der Faust gewaltvoll auf dem Tisch, eine kleine Schatulle in dieser haltend, die er nur Momente zuvor aus seiner Anzugtasche gezogen hatte.

*

Die rhythmischen Bewegungen der blauen Leuchten des Krankenwagens und der zwei Polizeifahrzeuge tauchen das mittlerweile leere Restaurant in ein gespenstisches, pulsierendes Licht. Weiträumig wurden der Parkplatz und das Gebäude mit rot-weißem Absperrband abgeriegelt und vier Polizisten schützen den Eingang des Restaurants vor den neugierigen Blicken einer Traube Anwohner, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite gebildet hat. Ein großgewachsener Mann steigt aus einem der Fahrzeuge und geht mit schweren Schritten Richtung Tatort. Er zieht seine Marke und einer der Polizeibeamten am Eingang gewährt ihm Einlass ins Restaurant. Sorgsam zieht er sich Schoner über die Schuhe sowie Latexhandschuhe an. Eine Frau in einem weißen Ganzkörperanzug kniet in der Nähe der Leiche einer jungen Frau. „Hey Helga, warum wurden wir denn gerufen, war das hier nicht ein Selbstmord?“ ruft er ihr während er sich noch einen Plastikschutz über die Jacke zieht, zu. Die Frau steht mit einer beschwerlichen Bewegung aus den Knien auf und geht auf ihren Kollegen zu: „Ja, ich dachte auch, dass hier wäre ein einfacher Fall, aber sieh mal, was ich in ihrer Tasche gefunden habe“. Mit diesen Worten überreicht sie eine Plastiktüte zur Beweissicherung, in der ein verknittertes Blatt zu sehen ist. Der Kommissar beginnt zu lesen:

Liebste Valerie,

es ist ganz einfach – mein Leid gegen dein Leid. Deine Familie stirbt durch meine Hand oder du opferst dich für sie. Dein Verlust ersetzt meinen – und wir werden in der Hölle vereint sein.

Herzlichst, Du-weißt-schon-wer

*

One thought on “Das Geschenk

  1. Liebe Cm Mayer,
    Ich bin begeistert, begeistert von ihrer Geschichte. Mamma Mia
    Sie ist extrem gut geschrieben, spannend und manchmal echt gruslig. .)
    Für mich persönlich eine perfekte Mischung und der Schluss macht Freude auf mehr. Die Rechtschreibung ist absolut klasse, Kommasetzung passt wie eine Eins.
    Die Handlung und die Figuren wurde absolut top beschrieben.
    Wirklich eine sehr gute Geschichte für mich persönlich eine glatte 1,0. 🙂
    Also mir fehlen grad echt die Worte.
    Ich find sie klasse 🙂

    Auch dass lesen viel einem extrem einfach, es ging runter wie Wasser 🙂 Wie ein Wörterfluss wo man nicht aufhören will mit lesen. Super 🙂
    Dass hat richtig Spaß gemacht 🙂

    Einziger Kritik Punkt vllt also mich hätte es persönlich noch gefreut wenn sie noch ein bischen länger gewesen wäre 🙂
    Trotzdem hat diese Geschichte aufjedenfall ein Herz verdient 🙂

    Vielleicht hätten sie auch noch Lust Meine Geschichte durchzulesen “Beobachtet”

    Viele Grüße James
    (Andi)

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