Matthias WillemsDas Geständnis

Der kahle Raum in den Jonas Bergmann geführt wurde, hatte so gar nichts mit einem Verhörraum gemeinsam, den man immer in Fernsehkrimis sah. Er glich eher einer Abstellkammer, was nicht nur an der Größe und der eher spärlichen Beleuchtung lag. In einer Ecke stapelten sich mehrere Kartons, auf der anderen Seite stand eine zusammengefaltete Klappleiter. „Wir renovieren derzeit“, lautete die knappe Erklärung des großgewachsenen Mannes mit Schnurrbart, der sich Jonas vor knapp 10 Minuten als Kriminalhauptkommissar Bernd Winkler vorgestellt hatte und der nun vor ihm Platz nahm. Jonas saß auf einem unbequemen Bürostuhl, der leise quietschte. Zwischen ihnen stand ein schmaler Tisch, auf dem ein Aufnahmegerät lag. Die kleine Videokamera, die links von ihm auf einem Stativ stand und wahrscheinlich jeden seiner Gesichtszüge registrierte, versuchte Jonas auszublenden.

„Was zu trinken?“, fragte Winkler mit professioneller Höflichkeit. Jonas schüttelte den Kopf. Er war noch zu aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Stunden. Winkler stellte seinen Kaffeebecher vor sich ab und schaltete das Aufnahmegerät ein. „Also gut. Dann erzählen Sie mal, was wirklich passiert ist, Herr Bergmann!“

 

ZUVOR

Jonas sah zum wiederholten Mal auf seine Uhr. Gleich halb Sieben. Die Vernissage in der Kunstgalerie hatte länger gedauert als gedacht. Obwohl er froh war, diesen Termin mit langen Reden von Professoren über alte Skulpturen, die irgendjemand mit viel Geld wieder an ihren Entstehungssort zurückgebracht hatte, endlich hinter sich zu haben, war er immer noch froh, dass man ihm vor vier Monaten den Job als Reporter beim Lokalradio angeboten hatte. Dafür liebte er seinen Beruf zu sehr. Und immerhin hatte er durch seine Arbeit auch seine Freundin Paula kennengelernt, mit der er seit drei Monaten zusammen war. Er lächelte bei dem Gedanken an das geplante Abendessen in einem neuen Restaurant, mit dem er sie heute Abend überraschen wollte. Er wollte um spätestens 19.00 Uhr zuhause sein. Es war Ende September. Jonas war froh, seine Jacke mitgenommen zu haben. Der nahende Herbst kündigte sich mit einem kalten Wind an, der Jonas ins Gesicht wehte, während er zur Bushaltestelle ging. Er besaß schon länger kein eigenes Auto mehr und nutzte bevorzugt Bus und Bahn. Die guten Verbindungen hatten ihn dazu bewogen, sich von seinem alten Ford zu trennen, der sowieso ständig in der Werkstatt war. Eine Jahreskarte der Verkehrsbetriebe war deutlich günstiger. Und für den Notfall gab es auch ein Taxi.

Jonas überquerte die Straße und setzte sich kurz darauf auf die unbequeme Metallbank eines heruntergekommenen Wartehäuschens. Er war allein. Den unangenehmen Geruch von Zigarettenkippen und Alkoholresten versuchte er zu ignorieren. Ein Blick auf den Fahrplanaushang verriet, dass der nächste Bus in 10 Minuten kam. Die Zeit bis dahin wollte er nutzen, um seine Notizen zum Interview mit dem Leiter der Kunstgalerie durchzusehen. Er hatte gerade angefangen, als er das Klingeln eines Handys hörte. Es war aber nicht das vertraute „Highway to Hell“ von AC/DC seines iPhones, das ihn des Öfteren vor unangenehmen Situationen gerettet hatte, sondern ein ganz normaler Standardklingelton. Irritiert sah Jonas sich um. Er war noch immer allein. Hatte jemand sein Handy hier liegenlassen? Jonas sah zuerst unter der Bank und auf dem Bürgersteig nach, konnte aber nichts entdecken. Hatte er sich verhört? Dann fiel sein Blick auf den Papierkorb in der Ecke. Er war ziemlich voll, doch unter irgendwelchen Fastfoodverpackungen lugte etwas hervor. Wer wirft sein funktionierendes Handy weg?, dachte Jonas. Es dauerte eine Weile, bis er das Smartphone schließlich herausgeangelt hatte. Das Klingeln war inzwischen verstummt. Es war kein iPhone, sondern irgendein kleineres Modell eines Herstellers, der Jonas nichts sagte. Das Display hatte schon ein paar Kratzer abbekommen. Ansonsten schien das Handy in Ordnung zu sein. Es steckte in einer auffälligen rosafarbenen Plastikschutzhülle, die glitzerte. Zu seinem Erstaunen war das Gerät sofort entsperrt, als er eine Taste an der Seite drückte. Zuerst sah er die Meldung „Verpasster Anruf von Unbekannt“. Jonas aber starrte nur auf das Foto, das jetzt auf dem Display erschien. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Das ist unmöglich. Vor Schreck hätte er das Handy fast fallengelassen. Er hätte bei diesem rosa Ding ein Mädchen oder eine junge Frau erwartet, aber das Gesicht, das ihn jetzt doof angrinste, war sein eigenes. Paula hatte das Foto beim letzten Mallorcaurlaub am Pool gemacht. Natürlich hatte er von Datendiebstahl gehört. Die meisten Fotos waren auf dem PC in ihrer Wohnung oder auf Paulas Handy und ein halbwegs talentierter Hacker konnte wahrscheinlich mit Leichtigkeit daran kommen. Ein paar Augenblicke später hatte er gut ein Dutzend Fotos mit seinem Gesicht gesehen.

Er wollte Paula anrufen, aber als er sein eigenes Smartphone aus der Tasche holte, stellte er fest, dass der Akku schon wieder fast leer war. Er hatte in der Galerie mehrere Videos für die Website gedreht und auch mit dem Handy Publikumsstimmen aufgezeichnet. Frustriert wollte er es gerade zurück in die Tasche befördern, als die SMS kam. Paula schrieb: „Wo bist du? Die Polizei hat nach dir gefragt“. Jonas starrte auf das Display. Was will die Polizei von mir? Dann wurde der Bildschirm schwarz. „Nein, bitte nicht jetzt“. Er fluchte und drückte ein paar Mal den Startknopf in der Hoffnung, das Gerät so wieder zum Leben zu erwecken. Dann fiel sein Blick wieder auf das rosafarbene Handy, das jetzt neben ihm auf der Bank lag. Dort war der Akku vollgeladen. Aber Paula hatte seit Kurzem eine neue Nummer, die Jonas natürlich nicht auswendig kannte. Jonas wollte das Ding nur noch in die Ecke schleudern und darauf treten. Er hatte schon zum Wurf ausgeholt, als es klingelte. Auf dem Display stand „Unbekannt“.

Jonas drückte auf das grüne Hörersymbol.
„Hallo?“
Zuerst hörte Jonas ein Husten.

„Guten Abend Herr Bergmann. Wie ich sehe, haben Sie mein kleines Geschenk gefunden“ Die Stimme klang seltsam verzerrt. Offensichtlich wollte der Anrufer nicht erkannt werden. Trotzdem fragte Jonas:

„Wer sind Sie?“
„Sie werden mich schon sehr bald kennenlernen. Aber vorher sollten Sie sich gut verstecken“
„Verstecken?“ Jetzt wurde Jonas nervös. Irgendetwas in der Stimme des Anrufers beunruhigte ihn

Der Mann lachte kurz. „Die Polizei sucht Sie doch schon!“
Jonas dachte an die SMS von Paula. Wo bist du? Die Polizei hat nach dir gefragt!„Was wollen Sie von mir?“, fragte er.
Der Anrufer ignorierte die Frage. Er hustete kurz
„Ich würde an Ihrer Stelle jetzt nicht nach Hause fahren“, sagte er und legte auf.
Wieso sucht die Polizei nach mir? War das ein Scherz der Spaßvögel aus der IT-Abteilung des Senders und sie hatten Paula eingeweiht? Jonas glaubte nicht wirklich daran.

 

Steigen Sie heute noch ein oder was?“ ,hörte er plötzlich eine genervte Stimme. Jonas hatte vergessen, dass er noch immer an der Bushaltestelle saß. Der Busfahrer, ein rundlicher kleiner Mann mit Glatze, sah ihn fragend an. „Ich hab nicht den ganzen Monat Zeit“. Jonas holte seine Fahrkarte aus dem Portemonnaie und stieg ein.

Jonas zögerte.

„Alles ok mit Ihnen?“, fragte er. Erst jetzt merkte Jonas, wie sehr seine Hände zitterten. „Ja, Alles bestens“. Seine Antwort war nicht gerade überzeugend, aber der Busfahrer schien sich damit zufriedenzugeben

Der Bus war zur Hälfte voll. Jonas setzte sich in die Nähe der hinteren Tür. Sofort öffnete er den Webbrowser des Handys. Nach wenigen Minuten hatte er die Website einer lokalen Tageszeitung gefunden. Es gab eine Eilmeldung. Eine junge Frau war ermordet worden. Er sah sich das Foto über dem Artikel an. Darauf waren ein Streifenwagen und Beamte der Spurensicherung mit ihren weißen Schutzanzügen zu sehen, die gerade aus dem Eingang eines Hauses kamen, das Jonas nur allzu vertraut war. Sie hatten die Wohnung in dem dreistöckigen Altbau nach langem Suchen gefunden. Jonas überflog den Text. Es handelte sich beim Opfer offenbar um eine 21-jährige Polin, die dort seit kurzem lebte. Jonas konnte sich dunkel erinnern, ihr ein oder zweimal begegnet zu sein. Über Details machte die Polizei wie üblich keine Angaben. Und dann erstarrte er. Im zweiten Teil des Textes gab es einen Fahndungsaufruf. Ein Zeuge hatte einen Mann aus der Wohnung flüchten sehen. Er ist 1,85 Meter groß, hat dunkelblonde, kurze Haare und eine schlanke Statur. Er trug eine dunkelblaue Jacke und eine Jeanshose. Die Beschreibung traf genau auf ihn zu. Langsam ahnte er auch, wem das rosa Handy, das er in der Hand hielt, gehört hatte

Die dunkelblaue Jacke, die er trug, hatte Paula ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt. Ich bin Tatverdächtiger Nr. 1 und habe das Handy des Mordopfers bei mir.

Wieder klingelte das Handy.
„Sie waren das, oder?“, fragte er, ehe der Mann etwas sagen konnte.
„Aber die Polizei ist anderer Meinung“
„Sie haben einen Menschen umgebracht“ Jonas musste sich bremsen, um nicht laut zu werden, um die anderen Fahrgäste nicht aufzuschrecken.
„Erinnern Sie sich, dass bei Ihnen eingebrochen wurde?“
„Woher-“ fing Jonas an und dann dämmerte ihm, worauf der Anrufer hinauswollte. Tatsächlich waren er und Paula nur eine Woche, nachdem sie eingezogen waren, Opfer eines Einbruchs geworden. Die Polizei hatte ihnen damals wenig Hoffnung gemacht, dass man die Täter fand. Jonas konnte sich erinnern, dass laut Statistik weniger als 20 Prozent aller Wohnungseinbrüche in Deutschland aufgeklärt wurden. Damals hatten sie sich gewundert, warum nichts Wertvolles gestohlen worden war. Jetzt war ihm klar warum.
„Sie haben meine DNA gebraucht!“
„Die Mittel der Spurensicherung sind heute sehr gut“, sagte der Anrufer nur. „Und es gibt einen Augenzeugen, der sich sehr gut an sie erinnern kann.“ Dann legte er auf.
Jonas versuchte, so ruhig zu bleiben wie möglich, während der Bus sich langsam durch den Verkehr quälte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die anderen Fahrgäste auf ihre Smartphones starrten. Manche hatten Kopfhörer an und hörten sich Musik an. Doch ein Mord war in dieser Stadt so selten wie weiße Weihnachten. Die Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer über alle Kanäle verbreiten. Er zog vorsichtig die Jacke aus und versuchte, sie möglichst unauffällig unter den Sitz fallenzulassen.
Jonas zuckte zusammen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und sah einem jungen Mann in die Augen. Er trug einen verschwitzten Trainingsanzug und tippte auf sein Handgelenk. „Können Sie mir sagen, wieviel Uhr es ist?“
Jonas starrte ihn an. „Wieviel Uhr?“, wiederholte der Mann leicht genervt seine Frage und deute auf Jonas‘ Armbanduhr.
„Viertel vor Sieben“, sagte Jonas leise. Der Mann nickte.
„Danke. Alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Warum?“
„Ich mein‘ ja nur. Sie sehen so blass aus“
„Alles bestens“. Jonas versuchte zu lächeln. Hatte der Mann auf das rosa Handy gestarrt oder bildete er sich das nur ein?
Er musste aus dem Bus raus. Wenn ihn jemand hier erkannte, dann… Er malte sich verschiedene Szenarien aus, die alle den gleichen bösen Verlauf hatten.
Nach einer Zeit, die Jonas wie eine Ewigkeit vorkam, hielt der Bus an. Jonas sprang auf und eilte zur Tür, als hinter ihm jemand rief
„He, Sie da!“
Jonas erstarrte. Langsam drehte er sich rum. Der Typ in dem Trainingsanzug, der in der Reihe hinter ihm gesessen hatte, hielt die blaue Jacke hoch, die Jonas absichtlich hatte liegenlassen wollen.
„Sie haben Ihre Jacke vergessen!“
Jonas nahm sie schnell und murmelte ein Danke und stürzte dann hinaus.
Dabei rannte er fast einen kleinen Jungen um, der an der Hand seiner Mutter einsteigen wollte. „Haben Sie keine Augen im Kopf?“ hörte er die verärgerte Frau hinter sich rufen. Jonas stammelte eine Entschuldigung und ging schnellen Schrittes weiter. Erst nachdem der Bus weitergefahren war, blieb er stehen. Dann entsorgte er seine Jacke im nächsten Abfallbehälter. Er orientierte sich kurz und stellte fest, dass er am Stadtpark war, in dem er bei Besuchen mit seinen Eltern als Kind die Enten gefüttert hatte. Jetzt waren die Grünanlagen dunkel und verlassen. Jonas zuckte zusammen, als irgendwo ein Hund bellte.
Das Handy klingelte. „Haben Sie sich gut versteckt?“, fragte der Anrufer.
„Was wollen Sie wirklich von mir?“ Jonas wurde wütend.
Er sah gerade noch rechtzeitig den Streifenwagen, der an ihm vorbeifuhr und drehte sich von der Straße weg.
„Wollen Sie Geld?“ Der Mann lachte. Dann war wieder ein Husten zu hören.
„Von Ihnen? Ich glaube nicht, dass bei einem Radioreporter und einer Erzieherin viel zu holen ist. Übrigens. Ihre Freundin wird gerade von der Polizei vernommen, nachdem man Fotos von Ihnen in der Wohnung der Toten entdeckt hat“
„Was wollen Sie dann?“
„Haben Sie jetzt Angst?“
„Ja. Ich habe Angst, verdammt“
„Gut. Ich möchte dass Sie einen Mord gestehen!“
„Ich habe niemanden umgebracht“
„Ich wäre mir da nicht so sicher“
„Sie haben es selbst zugegeben“
„Die polnische Hure, die ihr Kind geschlagen hat? Das war ich. Aber das meinte ich nicht“
„Ich habe nie etwas so Abscheuliches gemacht“
„Sie lügen! Aber bevor die Polizei sie gleich schnappt, würde ich vorschlagen, dass wir uns endlich kennenlernen“
Jonas wusste, dass er keine Wahl hatte. „Wo muss ich hin?“
Die Fahrt mit dem Taxi dauerte 20 Minuten und führte durch die halbe Stadt. Der Fahrer war ein Afrikaner, der gut gelaunt über den geplanten Besuch seiner Verwandschaft plauderte. Jonas hörte nicht wirklich zu und sagte auch kein Wort.
Die Sonnenallee war das teuerste Viertel der Stadt. Jonas kannte es eher aus der Zeitung. Allzu oft war er nicht an den Villen von irgendwelchen Rechtsanwälten und Ärzten vorbeigefahren, die sich teils hinter meterhohen Hecken und Mauern verbargen. Das Haus Nummer 5, vor dem das Taxi schließlich hielt, bildete da keine Ausnahme.
„Sein Erpresser besaß Geld. Das bedeutete in der Regel oft Macht und Einfluss. Als er sich dem Haus näherte, sah er die erste Kamera, die an einem Mast befestigt war. Eine Zweite war bei dem schmiedeeisernen Tor zu sehen, das weit offen stand. Jonas spürte regelrecht die Blicke, die auf ihm ruhten.
Es verwunderte ihn nicht, dass auch die Haustür offenstand. Sein Gastgeber erwartete ihn bereits.
Er trat in eine große Eingangshalle, die jetzt im Halbdunkel lag. Eine Treppe führte nach oben, doch die klassische Musik, die jetzt zu hören war, erregte Jonas‘ Aufmerksamkeit. Dann sah er ein Flimmern. Es kam aus einem Raum links von der Treppe, der sich als riesiges Wohnzimmer mit Kamin und teuren Möbeln entpuppte. Alles lag kreuz und quer auf dem Boden. Die Scheibe einer Glastür, die auf eine Terrasse führte, war eingeschlagen. Die Vorhänge wehten im Wind. Das Flimmern kam von einem riesigen Flachbildschirm, wo ein Bild zu sehen war, das eine Gruppe Jugendliche am Ufer eines Sees zeigte. Einige der Gesichter, die in die Kamera lächelten, lagen im Schatten. Jonas wollte das Bild genauer ansehen, als er das vertraute Husten hinter sich hörte. Er dreht sich um.

Eine Gestalt stand im Türrahmen. Hallo Jonas“ sagte der Mann, der einen grauen Bademantel trug und jetzt langsam auf ihn zukam. Die Stimme war jetzt klar und deutlich, nicht mehr verzerrt. Jonas sah einem Mann in die Augen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er konnte das Gesicht mit den hohlen Wangenknochen und den dünnen Augenbrauen nur nicht einordnen. Der Mann war hager und gut einen Kopf kleiner als Jonas. Er war etwa im gleichen Alter, aber hatte eine kränkliche, blasse Haut. „Endlich sehen wir uns wieder. Nach all den Jahren.“, hüstelte er. In seiner Stimme lag Verachtung. „Ich verzeihe dir, dass du mich nicht erkannt hast. Ich habe mich ein wenig verändert, im Gegensatz zu dir“, sagte der Mann, als er Jonas‘ Verwirrung bemerkte. Ich helfe dir ein wenig auf die Sprünge. Es ist 17 Jahre her. Ich hatte eine kleine Schwester.“
Ganz langsam fing Jonas an, sich zu erinnern. Der Mann vor ihm begann sich vor seinem geistigen Auge zu verändern. Die Haare wurden länger. Das Gesicht fülliger, der Körper breiter. Dann stand dieser pummelige Junge wieder vor ihm.
„Martin Winter“, sagte Jonas.
„Na geht doch“ sagte der Mann und lächelte. „Da bin ich wieder“.
Jonas sagte kein Wort. Er wandte sich wieder dem Bild zu. Der Sommer vor 17 Jahren. Es war ein heißer Augusttag gewesen. Sie hatten am Baggersee eine Party gefeiert.
„Erinnerst du dich nun endlich“, sagte Martin.
„Ja“, sagte Jonas leise und dachte an die schlimmsten Stunden seines Lebens. Die Ereignisse hatte er in den hintersten Winkel seines Gehirns verbannt und fest eingeschlossen. Und jetzt hatte jemand diese Tür wieder geöffnet.

Er war betrunken gewesen, als er sich in seinen Wagen gesetzt hatte. Das Mädchen, das zu Fuß auf dem Heimweg war, hatte er nicht gesehen. Er hatte nur einen Knall gehört. Erst im Rückspiegel hatte er gesehen, dass das Kind blutend auf der Straße gelegen hatte. Aber Jonas hatte nicht angehalten. Nicht geholfen. Er hatte Panik bekommen, war weitergefahren und hatte sich dann zwei Tage lang versteckt. Später hatte er gehört, dass sie tot war. Er hatte sich immer eingeredet keine Schuld zu haben. Am Wagen hatte er alle Spuren beseitigt. Niemand hatte ihn beobachtet. Da war er sich sicher. Bis jetzt.

Martins Stimme brachte ihn wieder in die Gegenwart.
„Ich habe meine kleine Schwester nie vergessen. Ich werde niemals diese Bilder aus dem Kopf bekommen. Wie sie voller Blut im Straßengraben liegt wie ein totes Reh. Ich habe noch immer Albträume. Ich war danach monatelang in Therapie. Als ich hörte, dass du wieder in der Stadt bist, wusste ich, was ich noch machen wollte, bevor ich diese Welt verlasse“.
Jonas musste schlucken, aber er sagte nichts.
„Lungenkrebs“ sagte Martin und hustete wie zur Bestätigung. „In 4 Wochen oder so bin ich unter der Erde. Aber ich wollte es von dir hören. Dass du sie umgebracht hast.
Jonas zuckte zusammen, als er in den Lauf einer Pistole schaute, die Martin jetzt auf ihn gerichtet hielt. Er war sichtlich nervös. Jonas glaubte sogar einen Moment lang Tränen in seinen Augen zu erkennen. Er selbst zitterte. Die letzten Stunden waren ihm wie ein einziger Albtraum vorgekommen. Er dachte an Paula, wie sie von der Polizei verhört wurde, an seine Kollegen, die nun glaubten, einen Mörder in ihren Reihen zu haben. Im Kopf erschienen die Schlagzeilen.
„Ich will, dass du hier und jetzt alles gestehst“. Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem Jonas Platz nahm.
Dann nahm er sein Handy heraus.
„Erzähl, was damals passiert ist. Alles“
Als er geendet hatte, sagte Martin lange Zeit nichts. Tränen standen in seinen Augen.
„Sie wäre vielleicht noch am Leben, wenn du damals nicht so feige gewesen wärst““
„Es tut mir leid, was dir passiert ist.“, sagte Jonas. „Ich war ein Feigling. Aber es war ein Unfall“. Jonas zitterte.
Martin schüttelte den Kopf.
„Du hast meine Schwester umgebracht! Du bist ein Mörder!“, schrie er.
„Wieso bist du nicht zur Polizei gegangen, wenn du dir so sicher warst?“
„Weil ich keine Beweise hatte. Jetzt habe ich Sie“.
Und für all das bringst du eine unschuldige Frau um?“ ,fragte Jonas.
„Nicht unschuldig. Ich sagte bereits eine Hure, die ihr Kind geschlagen hat“.
Jetzt loderte der Hass in Martins Augen auf.
„Aber jetzt kommst du doch noch für Mord ins Gefängnis“
„Das mit der DNA hast du clever gemacht. Sie zu stehlen und dann nach dem Mord in der Wohnung zu verteilen“
„Du solltest deine Fenster besser sichern. Meine Leute hatten leichtes Spiel“
Jonas sagte nichts.
„Ich habe übrigens die Polizei gerufen. Sie dürfte jeden Augenblick hier sein. Ich habe denen erzählt, dass ein Einbrecher in meinem Haus ist“ , sagte er und deutete auf das Chaos ringsherum. „Was Sie erst sagen werden, wenn es der gesuchte Mörder ist?“
Wie aufs Stichwort war in der Ferne schon ein Martinshorn zu hören.
Jonas nahm das Handy hervor. „Und das Handy der Toten hast du auch bei dir!, sagte Martin.
„Dann warten wir mal“, sagte Jonas gelassen. „Lassen wir Sie kommen“
Zum ersten Mal sah er eine leichte Verwirrung im Gesicht seines Gegenübers.
„Auch alte Handys haben eine Diktierfunktion. Ich habe unser nettes Gespräch gerade aufgezeichnet“ Martin starrte ihn fassungslos an.
„Ich bin Reporter. Ich habe gelernt die richtigen Fragen zu stellen“
Den Plan hatte sich Jonas im Taxi zurechtgelegt. Jetzt war er es, der die Oberhand gewann.

Martin sah ihn an. Dann lachte er laut auf. Er lachte und dann nahm er seine Pistole und schoss sich in den Kopf. Jonas schrie nicht, als er von Blutspritzern übersät wurde, die sich überall in seinem Gesicht und seiner Kleidung verteilten. Er war geschockt. Diese Bilder würde er nie wieder vergessen. In gewisser Weise hatte Martin seine Rache bekommen. „Polizei. Hände hoch“. Die Stimme hinter ihm hörte er nur noch gedämpft. Er gehorchte. Dann packte ihn jemand und er spürte nur noch das kalte Metall der Handschellen, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

SPÄTER

Hauptkommissar Winkler sah Jonas lange an. „Das war alles?“ ,fragte er dann. Jonas nickte. Er saß jetzt seit knapp 2 Stunden im Verhörraum. Vom Sitzen auf dem unbequemen Stuhl war er schon ganz steif geworden. Winkler hatte ihm zugehört, nur wenige Zwischenfragen gestellt. Jonas hatte ihm die Aufnahme seines Smartphones vorgespielt. Winkler sah ihn lange an.
„Unglaublich“, sagte er nur. „Sieht so aus, als hätte Herr Winter das alles lange geplant.
„Was passiert jetzt?“, fragte Jonas.
„Sie sind unschuldig. Unterschreiben Sie nur noch die Zeugenaussage und Sie dürfen gehen“. Er reichte ihm einen Kugelschreiber und ein Formular.
Jonas spürte, wie er ausatmete. Beinahe wäre er dem Kripobeamten vor Freude um den Hals gefallen. Stattdessen standen ihm jetzt vor Erleichterung Tränen im Gesicht.
Als er eine Viertelstunde später das Polizeirevier verließ, entdeckte er Paula.
Sie war sofort hergekommen, als sie erfahren hatte, was passiert war. Als sie ihn sah, kam sie zu ihm gelaufen. „Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung“, begann sie und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. Sie umarmten sich. „Schon ok. Alles ist gut ausgegangen“. Draußen hatte es angefangen zu regnen. „Hast du Hunger?“, fragte er sie und versuchte zu lächeln. Paula nickte. „Einen Mordshunger“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der kahle Raum in den Jonas Bergmann geführt wurde, hatte so gar nichts mit einem Verhörraum gemeinsam, den man immer in Fernsehkrimis sah. Er glich eher einer Abstellkammer, was nicht nur an der Größe und der eher spärlichen Beleuchtung lag. In einer Ecke stapelten sich mehrere Kartons, auf der anderen Seite stand eine zusammengefaltete Klappleiter. „Wir renovieren derzeit“, lautete die knappe Erklärung des großgewachsenen Mannes mit Schnurrbart, der sich Jonas vor knapp 10 Minuten als Kriminalhauptkommissar Bernd Winkler vorgestellt hatte und der nun vor ihm Platz nahm. Jonas saß auf einem unbequemen Bürostuhl, der leise quietschte. Zwischen ihnen stand ein schmaler Tisch, auf dem ein Aufnahmegerät lag. Die kleine Videokamera, die links von ihm auf einem Stativ stand und wahrscheinlich jeden seiner Gesichtszüge registrierte, versuchte Jonas auszublenden.

„Was zu trinken?“, fragte Winkler mit professioneller Höflichkeit. Jonas schüttelte den Kopf. Er war noch zu aufgewühlt von den Ereignissen der letzten Stunden. Winkler stellte seinen Kaffeebecher vor sich ab und schaltete das Aufnahmegerät ein. „Also gut. Dann erzählen Sie mal, was wirklich passiert ist, Herr Bergmann!“

 

ZUVOR

 

Jonas sah zum wiederholten Mal auf seine Uhr. Gleich halb Sieben. Die Vernissage in der Kunstgalerie hatte länger gedauert als gedacht. Obwohl er froh war, diesen Termin mit langen Reden von Professoren über alte Skulpturen, die irgendjemand mit viel Geld wieder an ihren Entstehungssort zurückgebracht hatte, endlich hinter sich zu haben, war er immer noch froh, dass man ihm vor vier Monaten den Job als Reporter beim Lokalradio angeboten hatte. Dafür liebte er seinen Beruf zu sehr. Und immerhin hatte er durch seine Arbeit auch seine Freundin Paula kennengelernt, mit der er seit drei Monaten zusammen war. Er lächelte bei dem Gedanken an das geplante Abendessen in einem neuen Restaurant, mit dem er sie heute Abend überraschen wollte. Er wollte um spätestens 19.00 Uhr zuhause sein. Es war Ende September. Jonas war froh, seine Jacke mitgenommen zu haben. Der nahende Herbst kündigte sich mit einem kalten Wind an, der Jonas ins Gesicht wehte, während er zur Bushaltestelle ging. Er besaß schon länger kein eigenes Auto mehr und nutzte bevorzugt Bus und Bahn. Die guten Verbindungen hatten ihn dazu bewogen, sich von seinem alten Ford zu trennen, der sowieso ständig in der Werkstatt war. Eine Jahreskarte der Verkehrsbetriebe war deutlich günstiger. Und für den Notfall gab es auch ein Taxi.

Jonas überquerte die Straße und setzte sich kurz darauf auf die unbequeme Metallbank eines heruntergekommenen Wartehäuschens. Er war allein. Den unangenehmen Geruch von Zigarettenkippen und Alkoholresten versuchte er zu ignorieren. Ein Blick auf den Fahrplanaushang verriet, dass der nächste Bus in 10 Minuten kam. Die Zeit bis dahin wollte er nutzen, um seine Notizen zum Interview mit dem Leiter der Kunstgalerie durchzusehen. Er hatte gerade angefangen, als er das Klingeln eines Handys hörte. Es war aber nicht das vertraute „Highway to Hell“ von AC/DC seines iPhones, das ihn des Öfteren vor unangenehmen Situationen gerettet hatte, sondern ein ganz normaler Standardklingelton. Irritiert sah Jonas sich um. Er war noch immer allein. Hatte jemand sein Handy hier liegenlassen? Jonas sah zuerst unter der Bank und auf dem Bürgersteig nach, konnte aber nichts entdecken. Hatte er sich verhört? Dann fiel sein Blick auf den Papierkorb in der Ecke. Er war ziemlich voll, doch unter irgendwelchen Fastfoodverpackungen lugte etwas hervor. Wer wirft sein funktionierendes Handy weg?, dachte Jonas. Es dauerte eine Weile, bis er das Smartphone schließlich herausgeangelt hatte. Das Klingeln war inzwischen verstummt. Es war kein iPhone, sondern irgendein kleineres Modell eines Herstellers, der Jonas nichts sagte. Das Display hatte schon ein paar Kratzer abbekommen. Ansonsten schien das Handy in Ordnung zu sein. Es steckte in einer auffälligen rosafarbenen Plastikschutzhülle, die glitzerte. Zu seinem Erstaunen war das Gerät sofort entsperrt, als er eine Taste an der Seite drückte. Zuerst sah er die Meldung „Verpasster Anruf von Unbekannt“. Jonas aber starrte nur auf das Foto, das jetzt auf dem Display erschien. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Das ist unmöglich. Vor Schreck hätte er das Handy fast fallengelassen. Er hätte bei diesem rosa Ding ein Mädchen oder eine junge Frau erwartet, aber das Gesicht, das ihn jetzt doof angrinste, war sein eigenes. Paula hatte das Foto beim letzten Mallorcaurlaub am Pool gemacht. Natürlich hatte er von Datendiebstahl gehört. Die meisten Fotos waren auf dem PC in ihrer Wohnung oder auf Paulas Handy und ein halbwegs talentierter Hacker konnte wahrscheinlich mit Leichtigkeit daran kommen. Ein paar Augenblicke später hatte er gut ein Dutzend Fotos mit seinem Gesicht gesehen.

Er wollte Paula anrufen, aber als er sein eigenes Smartphone aus der Tasche holte, stellte er fest, dass der Akku schon wieder fast leer war. Er hatte in der Galerie mehrere Videos für die Website gedreht und auch mit dem Handy Publikumsstimmen aufgezeichnet. Frustriert wollte er es gerade zurück in die Tasche befördern, als die SMS kam. Paula schrieb: „Wo bist du? Die Polizei hat nach dir gefragt“. Jonas starrte auf das Display. Was will die Polizei von mir? Dann wurde der Bildschirm schwarz. „Nein, bitte nicht jetzt“. Er fluchte und drückte ein paar Mal den Startknopf in der Hoffnung, das Gerät so wieder zum Leben zu erwecken. Dann fiel sein Blick wieder auf das rosafarbene Handy, das jetzt neben ihm auf der Bank lag. Dort war der Akku vollgeladen. Aber Paula hatte seit Kurzem eine neue Nummer, die Jonas natürlich nicht auswendig kannte. Jonas wollte das Ding nur noch in die Ecke schleudern und darauf treten. Er hatte schon zum Wurf ausgeholt, als es klingelte. Auf dem Display stand „Unbekannt“.

Jonas drückte auf das grüne Hörersymbol.

„Hallo?“

Zuerst hörte Jonas ein Husten.

„Guten Abend Herr Bergmann. Wie ich sehe, haben Sie mein kleines Geschenk gefunden“ Die Stimme klang seltsam verzerrt. Offensichtlich wollte der Anrufer nicht erkannt werden. Trotzdem fragte Jonas:

„Wer sind Sie?“

„Sie werden mich schon sehr bald kennenlernen. Aber vorher sollten Sie sich gut verstecken“

„Verstecken?“ Jetzt wurde Jonas nervös. Irgendetwas in der Stimme des Anrufers beunruhigte ihn

Der Mann lachte kurz. „Die Polizei sucht Sie doch schon!“

Jonas dachte an die SMS von Paula. Wo bist du? Die Polizei hat nach dir gefragt!

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er.

Der Anrufer ignorierte die Frage. Er hustete kurz

„Ich würde an Ihrer Stelle jetzt nicht nach Hause fahren“, sagte er und legte auf.

Wieso sucht die Polizei nach mir? War das ein Scherz der Spaßvögel aus der IT-Abteilung des Senders und sie hatten Paula eingeweiht? Jonas glaubte nicht wirklich daran.

 

Steigen Sie heute noch ein oder was?“ ,hörte er plötzlich eine genervte Stimme. Jonas hatte vergessen, dass er noch immer an der Bushaltestelle saß. Der Busfahrer, ein rundlicher kleiner Mann mit Glatze, sah ihn fragend an. „Ich hab nicht den ganzen Monat Zeit“. Jonas holte seine Fahrkarte aus dem Portemonnaie und stieg ein.

Jonas zögerte.

„Alles ok mit Ihnen?“, fragte er. Erst jetzt merkte Jonas, wie sehr seine Hände zitterten. „Ja, Alles bestens“. Seine Antwort war nicht gerade überzeugend, aber der Busfahrer schien sich damit zufriedenzugeben

Der Bus war zur Hälfte voll. Jonas setzte sich in die Nähe der hinteren Tür. Sofort öffnete er den Webbrowser des Handys. Nach wenigen Minuten hatte er die Website einer lokalen Tageszeitung gefunden. Es gab eine Eilmeldung. Eine junge Frau war ermordet worden. Er sah sich das Foto über dem Artikel an. Darauf waren ein Streifenwagen und Beamte der Spurensicherung mit ihren weißen Schutzanzügen zu sehen, die gerade aus dem Eingang eines Hauses kamen, das Jonas nur allzu vertraut war. Sie hatten die Wohnung in dem dreistöckigen Altbau nach langem Suchen gefunden. Jonas überflog den Text. Es handelte sich beim Opfer offenbar um eine 21-jährige Polin, die dort seit kurzem lebte. Jonas konnte sich dunkel erinnern, ihr ein oder zweimal begegnet zu sein. Über Details machte die Polizei wie üblich keine Angaben. Und dann erstarrte er. Im zweiten Teil des Textes gab es einen Fahndungsaufruf. Ein Zeuge hatte einen Mann aus der Wohnung flüchten sehen. Er ist 1,85 Meter groß, hat dunkelblonde, kurze Haare und eine schlanke Statur. Er trug eine dunkelblaue Jacke und eine Jeanshose. Die Beschreibung traf genau auf ihn zu. Langsam ahnte er auch, wem das rosa Handy, das er in der Hand hielt, gehört hatte

Die dunkelblaue Jacke, die er trug, hatte Paula ihm im vergangenen Jahr zu Weihnachten geschenkt. Ich bin Tatverdächtiger Nr. 1 und habe das Handy des Mordopfers bei mir.

Wieder klingelte das Handy.

„Sie waren das, oder?“, fragte er, ehe der Mann etwas sagen konnte.

„Aber die Polizei ist anderer Meinung“

„Sie haben einen Menschen umgebracht“ Jonas musste sich bremsen, um nicht laut zu werden, um die anderen Fahrgäste nicht aufzuschrecken.

„Erinnern Sie sich, dass bei Ihnen eingebrochen wurde?“

„Woher-“ fing Jonas an und dann dämmerte ihm, worauf der Anrufer hinauswollte. Tatsächlich waren er und Paula nur eine Woche, nachdem sie eingezogen waren, Opfer eines Einbruchs geworden. Die Polizei hatte ihnen damals wenig Hoffnung gemacht, dass man die Täter fand. Jonas konnte sich erinnern, dass laut Statistik weniger als 20 Prozent aller Wohnungseinbrüche in Deutschland aufgeklärt wurden. Damals hatten sie sich gewundert, warum nichts Wertvolles gestohlen worden war. Jetzt war ihm klar warum.

„Sie haben meine DNA gebraucht!“

„Die Mittel der Spurensicherung sind heute sehr gut“, sagte der Anrufer nur. „Und es gibt einen Augenzeugen, der sich sehr gut an sie erinnern kann.“ Dann legte er auf.

Jonas versuchte, so ruhig zu bleiben wie möglich, während der Bus sich langsam durch den Verkehr quälte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die anderen Fahrgäste auf ihre Smartphones starrten. Manche hatten Kopfhörer an und hörten sich Musik an. Doch ein Mord war in dieser Stadt so selten wie weiße Weihnachten. Die Nachricht würde sich wie ein Lauffeuer über alle Kanäle verbreiten. Er zog vorsichtig die Jacke aus und versuchte, sie möglichst unauffällig unter den Sitz fallenzulassen.

Jonas zuckte zusammen, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er drehte sich um und sah einem jungen Mann in die Augen. Er trug einen verschwitzten Trainingsanzug und tippte auf sein Handgelenk. „Können Sie mir sagen, wieviel Uhr es ist?“

Jonas starrte ihn an. „Wieviel Uhr?“, wiederholte der Mann leicht genervt seine Frage und deute auf Jonas‘ Armbanduhr.

„Viertel vor Sieben“, sagte Jonas leise. Der Mann nickte.

„Danke. Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Warum?“

„Ich mein‘ ja nur. Sie sehen so blass aus“

„Alles bestens“. Jonas versuchte zu lächeln. Hatte der Mann auf das rosa Handy gestarrt oder bildete er sich das nur ein?

Er musste aus dem Bus raus. Wenn ihn jemand hier erkannte, dann… Er malte sich verschiedene Szenarien aus, die alle den gleichen bösen Verlauf hatten.

Nach einer Zeit, die Jonas wie eine Ewigkeit vorkam, hielt der Bus an. Jonas sprang auf und eilte zur Tür, als hinter ihm jemand rief

„He, Sie da!“

Jonas erstarrte. Langsam drehte er sich rum. Der Typ in dem Trainingsanzug, der in der Reihe hinter ihm gesessen hatte, hielt die blaue Jacke hoch, die Jonas absichtlich hatte liegenlassen wollen.

„Sie haben Ihre Jacke vergessen!“

Jonas nahm sie schnell und murmelte ein Danke und stürzte dann hinaus.

Dabei rannte er fast einen kleinen Jungen um, der an der Hand seiner Mutter einsteigen wollte. „Haben Sie keine Augen im Kopf?“ hörte er die verärgerte Frau hinter sich rufen. Jonas stammelte eine Entschuldigung und ging schnellen Schrittes weiter. Erst nachdem der Bus weitergefahren war, blieb er stehen. Dann entsorgte er seine Jacke im nächsten Abfallbehälter. Er orientierte sich kurz und stellte fest, dass er am Stadtpark war, in dem er bei Besuchen mit seinen Eltern als Kind die Enten gefüttert hatte. Jetzt waren die Grünanlagen dunkel und verlassen. Jonas zuckte zusammen, als irgendwo ein Hund bellte.

Das Handy klingelte.

„Haben Sie sich gut versteckt?“, fragte der Anrufer.

„Was wollen Sie wirklich von mir?“ Jonas wurde wütend.

Er sah gerade noch rechtzeitig den Streifenwagen, der an ihm vorbeifuhr und drehte sich von der Straße weg.

„Wollen Sie Geld?“ Der Mann lachte. Dann war wieder ein Husten zu hören.

„Von Ihnen? Ich glaube nicht, dass bei einem Radioreporter und einer Erzieherin viel zu holen ist. Übrigens. Ihre Freundin wird gerade von der Polizei vernommen, nachdem man Fotos von Ihnen in der Wohnung der Toten entdeckt hat“

„Was wollen Sie dann?“

„Haben Sie jetzt Angst?“

„Ja. Ich habe Angst, verdammt“

„Gut. Ich möchte dass Sie einen Mord gestehen!“

„Ich habe niemanden umgebracht“

„Ich wäre mir da nicht so sicher“

„Sie haben es selbst zugegeben“

„Die polnische Hure, die ihr Kind geschlagen hat? Das war ich. Aber das meinte ich nicht“

„Ich habe nie etwas so Abscheuliches gemacht“

„Sie lügen! Aber bevor die Polizei sie gleich schnappt, würde ich vorschlagen, dass wir uns endlich kennenlernen“

Jonas wusste, dass er keine Wahl hatte. „Wo muss ich hin?“

 

Die Fahrt mit dem Taxi dauerte 20 Minuten und führte durch die halbe Stadt. Der Fahrer war ein Afrikaner, der gut gelaunt über den geplanten Besuch seiner Verwandschaft plauderte. Jonas hörte nicht wirklich zu und sagte auch kein Wort.

Die Sonnenallee war das teuerste Viertel der Stadt. Jonas kannte es eher aus der Zeitung. Allzu oft war er nicht an den Villen von irgendwelchen Rechtsanwälten und Ärzten vorbeigefahren, die sich teils hinter meterhohen Hecken und Mauern verbargen. Das Haus Nummer 5, vor dem das Taxi schließlich hielt, bildete da keine Ausnahme.

„Sein Erpresser besaß Geld. Das bedeutete in der Regel oft Macht und Einfluss. Als er sich dem Haus näherte, sah er die erste Kamera, die an einem Mast befestigt war. Eine Zweite war bei dem schmiedeeisernen Tor zu sehen, das weit offen stand. Jonas spürte regelrecht die Blicke, die auf ihm ruhten.

Es verwunderte ihn nicht, dass auch die Haustür offenstand. Sein Gastgeber erwartete ihn bereits.

Er trat in eine große Eingangshalle, die jetzt im Halbdunkel lag. Eine Treppe führte nach oben, doch die klassische Musik, die jetzt zu hören war, erregte Jonas‘ Aufmerksamkeit. Dann sah er ein Flimmern. Es kam aus einem Raum links von der Treppe, der sich als riesiges Wohnzimmer mit Kamin und teuren Möbeln entpuppte. Alles lag kreuz und quer auf dem Boden. Die Scheibe einer Glastür, die auf eine Terrasse führte, war eingeschlagen. Die Vorhänge wehten im Wind. Das Flimmern kam von einem riesigen Flachbildschirm, wo ein Bild zu sehen war, das eine Gruppe Jugendliche am Ufer eines Sees zeigte. Einige der Gesichter, die in die Kamera lächelten, lagen im Schatten. Jonas wollte das Bild genauer ansehen, als er das vertraute Husten hinter sich hörte. Er dreht sich um.

 

 

Eine Gestalt stand im Türrahmen. Hallo Jonas“ sagte der Mann, der einen grauen Bademantel trug und jetzt langsam auf ihn zukam. Die Stimme war jetzt klar und deutlich, nicht mehr verzerrt. Jonas sah einem Mann in die Augen, der ihm irgendwie bekannt vorkam. Er konnte das Gesicht mit den hohlen Wangenknochen und den dünnen Augenbrauen nur nicht einordnen. Der Mann war hager und gut einen Kopf kleiner als Jonas. Er war etwa im gleichen Alter, aber hatte eine kränkliche, blasse Haut. „Endlich sehen wir uns wieder. Nach all den Jahren.“, hüstelte er. In seiner Stimme lag Verachtung. „Ich verzeihe dir, dass du mich nicht erkannt hast. Ich habe mich ein wenig verändert, im Gegensatz zu dir“, sagte der Mann, als er Jonas‘ Verwirrung bemerkte. Ich helfe dir ein wenig auf die Sprünge. Es ist 17 Jahre her. Ich hatte eine kleine Schwester.“

Ganz langsam fing Jonas an, sich zu erinnern. Der Mann vor ihm begann sich vor seinem geistigen Auge zu verändern. Die Haare wurden länger. Das Gesicht fülliger, der Körper breiter. Dann stand dieser pummelige Junge wieder vor ihm.

„Martin Winter“, sagte Jonas.

„Na geht doch“ sagte der Mann und lächelte. „Da bin ich wieder“.

Jonas sagte kein Wort. Er wandte sich wieder dem Bild zu. Der Sommer vor 17 Jahren. Es war ein heißer Augusttag gewesen. Sie hatten am Baggersee eine Party gefeiert.

„Erinnerst du dich nun endlich“, sagte Martin.

„Ja“, sagte Jonas leise und dachte an die schlimmsten Stunden seines Lebens. Die Ereignisse hatte er in den hintersten Winkel seines Gehirns verbannt und fest eingeschlossen. Und jetzt hatte jemand diese Tür wieder geöffnet.

Er war betrunken gewesen, als er sich in seinen Wagen gesetzt hatte. Das Mädchen, das zu Fuß auf dem Heimweg war, hatte er nicht gesehen. Er hatte nur einen Knall gehört. Erst im Rückspiegel hatte er gesehen, dass das Kind blutend auf der Straße gelegen hatte. Aber Jonas hatte nicht angehalten. Nicht geholfen. Er hatte Panik bekommen, war weitergefahren und hatte sich dann zwei Tage lang versteckt. Später hatte er gehört, dass sie tot war. Er hatte sich immer eingeredet keine Schuld zu haben. Am Wagen hatte er alle Spuren beseitigt. Niemand hatte ihn beobachtet. Da war er sich sicher. Bis jetzt.

Martins Stimme brachte ihn wieder in die Gegenwart.

„Ich habe meine kleine Schwester nie vergessen. Ich werde niemals diese Bilder aus dem Kopf bekommen. Wie sie voller Blut im Straßengraben liegt wie ein totes Reh. Ich habe noch immer Albträume. Ich war danach monatelang in Therapie. Als ich hörte, dass du wieder in der Stadt bist, wusste ich, was ich noch machen wollte, bevor ich diese Welt verlasse“.

Jonas musste schlucken, aber er sagte nichts.

„Lungenkrebs“ sagte Martin und hustete wie zur Bestätigung. „In 4 Wochen oder so bin ich unter der Erde. Aber ich wollte es von dir hören. Dass du sie umgebracht hast.

Jonas zuckte zusammen, als er in den Lauf einer Pistole schaute, die Martin jetzt auf ihn gerichtet hielt. Er war sichtlich nervös. Jonas glaubte sogar einen Moment lang Tränen in seinen Augen zu erkennen. Er selbst zitterte. Die letzten Stunden waren ihm wie ein einziger Albtraum vorgekommen. Er dachte an Paula, wie sie von der Polizei verhört wurde, an seine Kollegen, die nun glaubten, einen Mörder in ihren Reihen zu haben. Im Kopf erschienen die Schlagzeilen.

 

„Ich will, dass du hier und jetzt alles gestehst“. Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem Jonas Platz nahm.

Dann nahm er sein Handy heraus.

„Erzähl, was damals passiert ist. Alles“

Als er geendet hatte, sagte Martin lange Zeit nichts. Tränen standen in seinen Augen.

„Sie wäre vielleicht noch am Leben, wenn du damals nicht so feige gewesen wärst““

„Es tut mir leid, was dir passiert ist.“, sagte Jonas. „Ich war ein Feigling. Aber es war ein Unfall“. Jonas zitterte.

Martin schüttelte den Kopf.

„Du hast meine Schwester umgebracht! Du bist ein Mörder!“, schrie er.

„Wieso bist du nicht zur Polizei gegangen, wenn du dir so sicher warst?“

„Weil ich keine Beweise hatte. Jetzt habe ich Sie“.

 

Und für all das bringst du eine unschuldige Frau um?“ ,fragte Jonas.

„Nicht unschuldig. Ich sagte bereits eine Hure, die ihr Kind geschlagen hat“.

Jetzt loderte der Hass in Martins Augen auf.

„Aber jetzt kommst du doch noch für Mord ins Gefängnis“

„Das mit der DNA hast du clever gemacht. Sie zu stehlen und dann nach dem Mord in der Wohnung zu verteilen“

„Du solltest deine Fenster besser sichern. Meine Leute hatten leichtes Spiel“

Jonas sagte nichts.

„Ich habe übrigens die Polizei gerufen. Sie dürfte jeden Augenblick hier sein. Ich habe denen erzählt, dass ein Einbrecher in meinem Haus ist“ , sagte er und deutete auf das Chaos ringsherum. „Was Sie erst sagen werden, wenn es der gesuchte Mörder ist?“

Wie aufs Stichwort war in der Ferne schon ein Martinshorn zu hören.

Jonas nahm das Handy hervor. „Und das Handy der Toten hast du auch bei dir!, sagte Martin.

„Dann warten wir mal“, sagte Jonas gelassen. „Lassen wir Sie kommen“

Zum ersten Mal sah er eine leichte Verwirrung im Gesicht seines Gegenübers.

„Auch alte Handys haben eine Diktierfunktion. Ich habe unser nettes Gespräch gerade aufgezeichnet“ Martin starrte ihn fassungslos an.

„Ich bin Reporter. Ich habe gelernt die richtigen Fragen zu stellen“

Den Plan hatte sich Jonas im Taxi zurechtgelegt. Jetzt war er es, der die Oberhand gewann.

Martin sah ihn an. Dann lachte er laut auf. Er lachte und dann nahm er seine Pistole und schoss sich in den Kopf. Jonas schrie nicht, als er von Blutspritzern übersät wurde, die sich überall in seinem Gesicht und seiner Kleidung verteilten. Er war geschockt. Diese Bilder würde er nie wieder vergessen. In gewisser Weise hatte Martin seine Rache bekommen. „Polizei. Hände hoch“. Die Stimme hinter ihm hörte er nur noch gedämpft. Er gehorchte. Dann packte ihn jemand und er spürte nur noch das kalte Metall der Handschellen, bevor ihm schwarz vor Augen wurde.

SPÄTER

 

Hauptkommissar Winkler sah Jonas lange an. „Das war alles?“ ,fragte er dann. Jonas nickte. Er saß jetzt seit knapp 2 Stunden im Verhörraum. Vom Sitzen auf dem unbequemen Stuhl war er schon ganz steif geworden. Winkler hatte ihm zugehört, nur wenige Zwischenfragen gestellt. Jonas hatte ihm die Aufnahme seines Smartphones vorgespielt. Winkler sah ihn lange an.

„Unglaublich“, sagte er nur. „Sieht so aus, als hätte Herr Winter das alles lange geplant.

„Was passiert jetzt?“, fragte Jonas.

„Sie sind unschuldig. Unterschreiben Sie nur noch die Zeugenaussage und Sie dürfen gehen“. Er reichte ihm einen Kugelschreiber und ein Formular.

Jonas spürte, wie er ausatmete. Beinahe wäre er dem Kripobeamten vor Freude um den Hals gefallen. Stattdessen standen ihm jetzt vor Erleichterung Tränen im Gesicht.

Als er eine Viertelstunde später das Polizeirevier verließ, entdeckte er Paula.

Sie war sofort hergekommen, als sie erfahren hatte, was passiert war. Als sie ihn sah, kam sie zu ihm gelaufen. „Es tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung“, begann sie und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. Sie umarmten sich. „Schon ok. Alles ist gut ausgegangen“. Draußen hatte es angefangen zu regnen. „Hast du Hunger?“, fragte er sie und versuchte zu lächeln. Paula nickte. „Einen Mordshunger“.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2 thoughts on “Das Geständnis

Schreibe einen Kommentar