micannaDas größte Glück

I

Sie sah sich selbst. Mit einem Glas Rotwein an ihrem Küchentisch sitzend. Und einer leeren Flasche daneben. Weinend. Unmöglich.

Lola wischte auf dem fremden Smartphone nach links, um in das Menü zurückzukehren. Waren noch mehr Fotos von ihr drauf? Sie scrollte durch die Bilder. Auf der Suche nach ihrem Gesicht, ihrer Wohnung, etwas Vertrautem. Ihr wurde schlecht. Da waren noch mehr Fotos, sehr viele Fotos. Entweder war sie zu Hause, einsam, und trank. Mal in der Küche, mal auf der Couch in ihrem kleinen Wohnzimmer, mal im Schlafzimmer beim Zuziehen der Vorhänge. Ihr war noch nie so bewusst geworden, wie fertig sie aussah, wenn niemand hinsah: aufgequollene Augen, rote Nase, die langen Haare in einem schlampigen Dutt auf dem Kopf, in ausgetragenen Klamotten und mit ihrem treuesten Begleiter: einer Flasche Wein. Oder aber die Bilder zeigten sie auf der Arbeit. Im Krankenhaus. Sie mit einem Neugeborenen auf dem Arm.

Das ergibt keinen Sinn. Was passiert hier gerade? Wie ist dieses Smartphone auf dem Arbeitstisch im Sprechstundenzimmer gelandet? Zurück auf Anfang. 

Moment, Moment, atme durch, sammel dich. Heute war ihr freier Tag. Doch Marta hatte morgens angerufen und sie gebeten, die Hebammensprechstunde für sie zu übernehmen, weil ihr Sohn mit Fieber im Bett lag und nicht zur Schule gehen konnte.

Sie kam gegen elf in der Klinik an, hat ihre Sachen im Hebammenzimmer abgeladen und wollte noch kurz Linda und ihre Zwillinge besuchen, bei deren Geburt sie vor zwei Tagen dabei gewesen ist, bevor die Sprechstunde um zwölf begann. Niemand konnte also wissen, dass sie heute hier ist.

Aber es konnte auch kein Zufall sein. Dass dieses Smartphone so prominent auf ihrem Schreibtisch lag. Keine Sperre hat. Und sie beim Aktivieren des Bildschirms, sie hatte lediglich darauf gehofft, Hinweise zum Besitzer zu finden, direkt ein Foto von sich sieht.

Wer konnte Interesse daran haben, sie in solchen langweiligen, wenn auch intimen, Momenten zu beobachten? Gar zu fotografieren. Und es sie wissen zu lassen. Ich werd ja keinen Stalker haben. Lola fand sich nicht hässlich, nur würde sie ihre Erscheinung wohl am ehesten mit „unscheinbar“ beschreiben. Und ein richtiges Privatleben hatte sie auch nicht. Keine glamourösen Reisen, keine durchzechten Nächte, kein Ausgehen mit Freunden, kein vertrautes Zusammenkommen mit der Familie. Sie lebte eigentlich nur für ihre Arbeit. Die sie auch erfüllte. Wie sollte sie da die Aufmerksamkeit von jemandem auf sich gezogen haben? Und selbst wenn, wenn dann dieser Jemand feststellt, dass ihre einzige Freizeitbeschäftigung darin besteht, alleine zu Hause zu hocken und sich zu betrinken, würde es ihn nicht spätestens dann abschrecken?

Stopp. Dich wieder abzuwerten, bringt dich nicht weiter. Such nach Anhaltspunkten dafür, wem das Handy gehört. In Zeiten von Google und Co, wo jeder sein ganzes Leben auf seinem Smartphone speichert, sollte man meinen, dass sich der Besitzer schnell ermitteln lässt. Fehlanzeige. Es gab nur die von Werk aus installierten Apps auf dem Gerät, keine Nachrichten oder E-Mails, keine angelegten Kontakte, weder Musik noch andere Bilder, die etwas anderes zeigten als sie oder ihre Wohnung. Das ist ja wohl ein schlechter Scherz.

Es klopfte an der Tür. „Entschuldigung, hat die Sprechstunde bereits begonnen?“ Lolas Blick schnellte zur Uhr, kurz nach zwölf. „Tut mir leid, Marta kann heute leider nicht kommen, ihr Sohn ist krank. Morgen können Sie sie wieder hier antreffen.“ Lola schnappte sich ihre Tasche, drängte sich an der verdutzten jungen Frau vorbei, schloss das Zimmer ab und eilte aus der Klinik.

Was nun? Lola spürte diesen unbeschreiblichen Drang zu handeln, einen Antrieb. Den sie schon lange nicht mehr gehabt hatte. Denk nach, denk nach.

 

 

II

Der erste Schritt wäre getan. Das hat sie ja ganz schön aus der Bahn geworfen, wie sie aus dem Sprechzimmer gestürmt ist. Zu schade, dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, als sie das Foto, oder womöglich sogar alle Fotos, von sich gesehen hat. Es ist wirklich an der Zeit, dass ihr normales und unbehelligtes Leben ein Ende nimmt. Und sie zur Verantwortung gezogen wird. Sie hat mein Leben ruiniert. Und nicht nur das. Jetzt wird sie dafür büßen. Ob es ihr in ihrer Scheinheiligkeit wohl dämmert? Ich bin gespannt, wie sie sich schlagen wird. Denn das war erst der Anfang.

 

 

III

Lola stieg in ihr Auto, schmiss ihre Tasche hinter sich auf die Rückbank und startete den Wagen. Sie wählte Martas Nummer. „Hey, ich will dich nicht lange stören. Hast du irgendwem erzählt, dass ich dich heute vertrete?“ „Nee. Seitdem wir telefoniert haben, hab ich mich die ganze Zeit um Lukas gekümmert. Ist alles in Ordnung?“ „Jaja, ich muss auflegen.“ Bevor Marta was sagen konnte, hatte Lola das Gespräch beendet.

Sie trommelte mit den Fingern auf ihrem Lenkrad. Ein Gefühl der Überforderung überkam sie. Lola wusste nicht, was sie als Nächstes tun sollte. Wie gerne hätte sie ihren Partner angerufen, der ihr versichern würde, dass sich da bloß jemand einen dummen Scherz erlaubt hat. Oder ihre beste Freundin, die ihr zugehört und die Angst genommen hätte. Oder ihre Eltern, die sie zu sich nach Hause auf einen Kaffee eingeladen hätten, das Ganze vernünftig analysiert hätten und zu dem Schluss gekommen wären, dass die einzige logische Möglichkeit darin bestand, dass eine Kollegin sie ärgern wollte.

Doch das war ausgeschlossen. Denn keiner von ihnen existierte. Sie war ganz allein.

Dann versuch ich eben, bei der Polizei Informationen über den Handybesitzer herauszubekommen. Womöglich wirft das zunächst nicht das beste Licht auf mich. Denn wer wühlt schon auf einem fremden Handy rum? Es erschien ihr der einzige Anhaltspunkt. Niemand hat gewusst, dass ich in der Klinik sein werde. Wer auch immer das Smartphone im Sprechstundenzimmer platziert hat, absichtlich platziert hat, wusste, dass ich es finde. Wollte, dass ich es finde. Also muss derjenige, ja was? Mich verfolgt haben? Lola warf einen paranoiden Blick in den Rückspiegel. Hinter ihr fuhr ein Kleintransporter von irgendeinem Malerbetrieb und auch die anderen Verkehrsteilnehmer wirkten völlig normal. Ein gewöhnlicher siebter Februar in einem weiteren beliebigen Jahr. Aber was heißt das schon? Wie erkennt man einen Verfolger? Und vor allem: Wieso sollte es jemand auf sie abgesehen haben? Jemand wollte sie offensichtlich wissen lassen, dass er sie beobachtet. Wie sie zu Hause sitzt. Allein. Heult und trinkt. Oder aber arbeitet. Und das auf eine recht beunruhigende Art und Weise. Wieso? Lola stieg aus und streckte ihre Hand gerade nach der Hintertür aus, um ihre Handtasche von der Rückbank zu fischen, da gefror ihr das Blut in den Adern. Auf ihrer Rückbank war eine Puppe in einer fremden Babyschale festgeschnallt.

 

 

IV

Ich hab so lange warten müssen. Wie hab ich diesem Tag entgegengefiebert. Der Gerechtigkeit. Und dem Trost. Dass mein Schmerz gelindert wird. All die Jahre war ich allein mit meinem Leid. Und machtlos. Doch das hat nun ein Ende. Sie wird büßen. Mehr noch. Endlich zur Rechenschaft gezogen werden. Meine Geduld muss belohnt werden, deswegen werde ich jeden Moment genießen.

 

 

V

„Guten Tag, ich hätte ein vielleicht etwas ungewöhnliches Anliegen.“ Die Polizistin schaute Lola, die mit einer Puppe in einer Babyschale vor ihr stand, verdutzt an. „Das hab ich auf meinem Rücksitz und dieses Smartphone bei mir auf der Arbeit gefunden. Darauf sind Fotos von mir. Jemand muss sie heimlich aufgenommen haben.“ Die Frau am Empfang schien immer noch nicht ganz überzeugt, winkte sie jedoch durch. Während sie auf einen Beamten wartete, der sich ihrer annahm, überkam sie ein mulmiges Gefühl. Diese Atmosphäre, sie wollte möglichst schnell wieder raus. Dabei sollte sie sich doch bei der Polizei gut aufgehoben fühlen.

„Dolores Gert? Kommen Sie bitte rein.“ Sie folgte dem Beamten in sein kleines, kahles Büro. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Lola schilderte, wie sie das Smartphone gefunden hatte, dass sie außerplanmäßig für eine Kollegin eingesprungen war, sodass niemand gewusst haben konnte, dass sie im Büro sein wird. Und dann noch diese Puppe auf dem Rücksitz. „Könnte sich jemand einen Scherz erlaubt haben? Kollegen? Freunde?“ „Das kann ich ausschließen. Hören Sie, jemand muss mich beobachtet haben. Sowohl um diese Bilder machen zu können als auch, um zu wissen, dass ich heute Dienst habe. Abgesehen davon hat sich jemand irgendwie Zugang zu meinem Auto verschafft.“ „Wo bewahren Sie den Zweitschlüssel denn auf?“ „Der liegt bei mir zu Hause.“ „Hat vielleicht…“ „Ich wohne alleine. Und niemand hat einen Zweitschlüssel zu meiner Wohnung. Ich kann mir das wirklich nicht erklären.“ Sie merkte, dass der Polizist die Geschichte ebenfalls merkwürdig fand. War sich aber nicht sicher, ob er ihr in allen Punkten Glauben schenkte. „Wir werden die Objekte auf Fingerabdrücke und weitere Hinweise bezüglich des Eigentümers untersuchen. Aber ich möchte Ihnen da nicht zu viel Hoffnung machen.“ „Und das Handy? Können Sie den Besitzer ermitteln?“ „Das ist nicht so einfach. Aber eins nach dem anderen. Wollen Sie denn Anzeige erstatten?“ Lola nickte. „Dann muss ich zunächst Ihre Personalien aufnehmen. Hätten Sie Ihren Personalausweis für mich?“ Sie reichte ihm den Ausweis und er begann, in die Tastatur zu hämmern. Lola widmete sich erneut den Fotos. Heißt es nicht, man merkt, wenn man beobachtet wird? Dass man den Blick spürt? Wie konnte dieser Irre mich vor allem unbemerkt im Krankenhaus knipsen? Wie ich frischgebackenen Eltern zeige, wie sie ihre Kleinen wickeln oder beim Bäuerchen machen unterstützen? Oder einfach die Kleinen auf dem Arm halte. Kaum hatte sich Lola dazu entschieden, als Nächstes ins Krankenhaus zu fahren und dort nach einem bereits aufgefallenen Unbekannten zu fragen, wurde sie von einem Räuspern in die Realität zurückgeholt. „Wie ich sehe, sind Ihre Daten bereits in unserer Datenbank.“ „Wie bitte?“ Er blickte sie irritiert an. Bevor sie was entgegnen könnte, vernahm sie ein Vibrieren in ihrer Hand. Das unbekannte Smartphone. Ein unbekannter Anrufer. Lola signalisierte dem Polizeibeamten, dass sie drangehen muss, und ging vor die Tür. „Hallo?“ „Na, hast du das Puzzle schon gelöst?“, fragte sie eine verzerrte Stimme. „Wer ist da? Was soll das mit der Puppe und dem Rumgestalke? Ich bin gerade bei der Polizei.“ „Wunderbar, dann kannst du gleich ein Geständnis ablegen.“ „Wa…“ „Ich habe zu Hause eine Kleinigkeit für dich vorbereitet.“ Das Freizeichen glich einem quälenden Dröhnen in Lolas Ohr. Sie stürmte aus der Wache. Zu Hause? Oh Gott, dieser Verrückte kann unmöglich bei mir zu Hause gewesen sein!

Bei sich angekommen, nahm sie zwei Stufen auf einmal und riss vollkommen außer Atem die Haustür ihrer Zweizimmerwohnung auf. Ihr Schrei drang bis auf den Hinterhof zu den spielenden Kindern. Vor sich fand Lola eine Blutlache, in der ein Strampler lag.

 

 

VI

Ihr Schrei ist eine Genugtuung. Aber noch lange nicht genug. Ich will sie nicht vor Schreck schreien hören, aus Ekel oder gar Angst. Sondern aus purer Verzweiflung. Ich will hören, wie der Schmerz sie auffrisst. So wie er sich jahrelang von meiner Seele genährt hat. Sehen, wie sie im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig wird. Was auch mir fast passiert ist. Denn das hat sie verdient. Und ich hab das verdient. Unsere kleine Familie hats verdient. Denn das allein wäre ihre gerechte Strafe.

 

 

VII

Der Schweiß stand Lola auf der Stirn. Verschwommene Bilder flackerten auf. Schreie, Stille, hysterisches Weinen. Noch während die Panikattacke drohte, sie zu überrollen, wurde sie vom Vibrieren des gefundenen Smartphones zurückgeholt. „Was soll dieser krank…“ „Krank? Das ist ein gutes Stichwort. Wie schaffst du es eigentlich, morgens aus dem Bett zu kommen? Aufzustehen, dich fertig zu machen und zur Arbeit zu gehen? Dich tagein, tagaus mit werdenden Müttern, jungen Müttern und Neugeborenen zu umgeben?“, die verzerrte Stimme war ganz außer sich. „Was wollen Sie von mir? Ich liebe meine Arbeit.“ „Oh ja, ich hab gesehen, wie sehr du dich engagierst. Ist das dein Versuch der Wiedergutmachung?“ „Was?“ „Hör auf mit deinem Getue. Ich weiß es. Du hast ein Leben genommen. Findest du nicht, dass du dafür zur Rechenschaft gezogen werden musst? Da die Justiz versagt hat, werde ich für Gerechtigkeit sorgen.“ Bevor Lola etwas entgegnen konnte, hatte der unbekannte Anrufer aufgelegt.

Was sind das denn bitte für Anschuldigungen?! Der ist doch vollkommen durchgeknallt! Atme, atme, atme. Wieso sollte jemand sie quälen wollen? Lola lief in ihrer Wohnung auf und ab. Denk nach, denk nach.

Smartphone, Bilder von ihr, eine Babypuppe im Kindersitz. Ein Strampler in Blut. „Oh Gott.“ Lola lief zu ihrer Arbeitsecke und begann, ihre Ordner zu durchwühlen. Wie ich sehe, sind Ihre Daten bereits in unserer Datenbank. Das hatte der Polizist doch gesagt. Lola fand den Brief, nach dem sie gesucht hatte. Betreff: Einstellung des Verfahrens. Die Frau schien am Ende doch eingesehen zu haben, dass der Arzt und sie als assistierende Hebamme bei der Geburt alles in ihrer Macht Stehende getan hatten und das Kind nicht gerettet werden konnte. Weil die Hochschwangere einfach zu spät im Krankenhaus angekommen war.

Oder war das damals nur Taktik und nun wollte die Frau sich in „Selbstjustiz“ üben? Sie musste die Frau sprechen. Zum Glück war die Digitalisierung an ihr und ihren Kolleginnen nicht spurlos vorbeigegangen, sodass sie alle Patientenakten online abrufen konnte. Bingo!

Noch während sie die Telefonnummer wählte, schnappte sie sich ihren Autoschlüssel und stürmte aus der Wohnung. Die Frau hat ein unglaubliches Trauma erlitten. Vielleicht hat sie es noch nicht verarbeitet. Ich werde mit ihr reden. Und falls das nichts bringt, werde ich die Polizei hinzuziehen. Der Anruf wurde nicht entgegengenommen. Egal. Sie hatte die Adresse.

Als sie vor dem Reihenhaus parkte, nahm Lola sich einen Augenblick Zeit. Nur weil sie sich nichts vorzuwerfen hatte, hieß es nicht, dass die anstehende Begegnung angenehm oder gar gut verlaufen müsste. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge und zwang sich zum Aussteigen.

Als die Tür geöffnet wurde, merke Lola sofort, dass die Frau sie erkannte. „Was machen Sie hier?“, fragte sie kühl. „Ich hab versucht, Sie anzurufen,“ Lola räusperte sich. „Ich wollte mich mit Ihnen über ein paar Dinge unterhalten. Die Vorfälle heute.“ Die Augen ihrer Gegenüber wurden zu schmalen Schlitzen. Lola zeigte ihr das Handy. „Das lag in meinem Büro.“ Nachdem die Frau nicht reagierte, fuhr Lola fort. „Die Bilder darauf und die Aktion mit der Babyschale, ich weiß auch nicht…“ „Was wollen Sie von mir? Nach fünf Jahren tauchen Sie bei mir auf und faseln so ein Zeug?“ „Entschuldigen Sie mal…“ „Ich habe meinen Frieden mit der Vergangenheit geschlossen, ich habe Ihnen verziehen und gebe Ihnen keine Schuld mehr. Aber das heißt noch lange nicht, dass Ihr Auftauchen hier keine Wunden aufreißt. Und dann reden Sie noch so wirr.“ „Sie sagen also, das Handy gehört Ihnen nicht und mit dem Rest haben Sie auch nichts zu tun?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich würde Sie bitten zu gehen.“ Total perplex, mit solch einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet, setzte der Fluchtinstinkt ein. Du musst nachdenken, du brauchst Zeit. Lola drehte sich um und eilte zu ihrem Wagen.

Als sie um die erste Ecke abgebogen war, hielt sie an. Was nun? Hat sie gelogen? Bin ich zu naiv? Wer soll denn sonst den ganzen Zirkus veranstaltet haben? Ich sollte am besten zur Polizei fahren und ihnen von meinem Verdacht erzählen. Oh Mann, ich bin da einfach abgehauen, wie bescheuert muss man eigentlich sein. Sie nahm ein paar tiefe Atemzüge, um im Hier und Jetzt anzukommen. Es ist schon spät. Jetzt machst du nix mehr. Zuerst ab nach Hause, dort einen klaren Kopf bekommen, und falls du dann wieder klarkommst, fährst du noch zur Polizei. Außerdem solltest du die Sauerei zu Hause melden.

Sie parkte in ihrer Tiefgarage, stieg aus und ging zu ihrer Hintertür, um ihre Handtasche zu holen. Doch noch bevor sie diese von der Rückbank nehmen konnte, wurde sie von einem dumpfen Schlag auf den Kopf zu Boden gestreckt.

 

 

VIII

Lola wurde durch einen Stoß aus ihrer Ohnmacht gerissen. Sie konnte nichts sehen, sich nicht bewegen. Sie hörte Motorengeräusche. Ich bin in einem Auto. Auf einer unbefestigten Straße. Ihre Arme und Beine waren gefesselt. Sie schien auf dem Rücksitz zu liegen. Sie war geknebelt. Die Augen waren verbunden.

Durch ihre Bewegungen wurde ihr Entführer auf sie aufmerksam. „Na, wieder wach? Wir sind fast da.“ Eine Männerstimme. Die sie nicht zuordnen konnte.

Der Wagen hielt an, der Mann zog die Handbremse an. Eine Tür wurde geöffnet, dann eine andere. Eine Hintertür. Er hievte sie raus. Sein Griff war fest. Sie zu tragen, schien ihm ein Leichtes zu sein. Lola war gefesselt, zierlich und nicht besonders fit. Unwahrscheinlich, dass sie ihn überwältigen könnte. Nach einem kurzen Fußmarsch lud er sie unsanft ab. Nahm ihr die Augenbinde ab. Da stand er vor ihr. Im Wald. Sofern sie das in der Dunkelheit einschätzen konnte, war der Mann von athletischer Statur, um die 1,90 Meter groß, blond, Ende 30, Anfang 40. Ein Unbekannter. „Weißt du, wo wir sind?“ Lola konnte sich gar nicht orientieren, es war Nacht, außerdem waren einfach nur überall Bäume. Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind im Waldstück, das an den Ostfriedhof grenzt. An den Bereich, wo die anonymen Gräber sich befinden. Wenn ich dir den Knebel rausnehmen, wirst du nicht schreien. Sonst töte ich dich.“ Lola glaubte es ihm sofort. Sein Blick hatte nichts Menschliches an sich. Tränen flossen ihr vor Panik über das Gesicht. „Bitte, wieso tun Sie das?“ Er riss sie am Arm hoch, zog sie ein paar Meter weiter zu einem Baum und ließ sie dort fallen. Daneben war eine Art Gedenkstätte. Eine Grabkerze brannte. In den kleinen Stein war ein Todesdatum eingraviert: der siebte Februar. Als sie wieder hochblickte, schaute sie auf ein Foto, das er ihr hinhielt. Es zeigte sie mit einem Säugling auf dem Arm. „Weil du eine Kindsmörderin bist.“

 

 

IX

Es war der siebte Februar. Vor 20 Jahren. Lola war alleine zu Hause in ihrem Miniapartment in der Mutter-Kind-Einrichtung. Loran war wieder am Schreien. Er war eigentlich immer am Schreien. Und Lola war einfach nur müde. Eigentlich seit dem Moment vor knapp sieben Wochen, als Loran aus ihrem Körper geholt wurde. Manchmal werden die Endorphine erst verspätet ausgeschüttet, haben sie gesagt. Du gewöhnst dich an den Schlafmangel, haben sie gesagt. Das Schreien nimmst du irgendwann nicht mehr wahr, haben sie gesagt. Alles Bullshit. Lola musste zwar zugeben, dass sie sie ein- oder zweimal verspürt hatte. Diese kurzen Miniaugenblicke des Glücks, wenn Loran sie glucksend anschaute. Doch wenn sie ehrlich war, empfand sie keine großartigen Muttergefühle. Wie sollte sie auch? Sie war eine frühreife Vierzehnjährige, die älteren Jungs imponieren und „erwachsen“ wirken wollte. Also schlief sie mit ihnen. Und Loran war einfach eine traurige Konsequenz daraus. Sie konnte noch nicht einmal mit absoluter Sicherheit den Erzeuger benennen. Hätte sie die Schwangerschaft früher bemerkt, hätte sie es nie so weit kommen lassen. Aber wer rechnet denn mit so was? Lola wünschte sich nichts mehr, als ihr altes Leben zurückzuhaben. Bevor es Loran gab.

Nur durfte sie das nicht offen sagen. Keiner verstand sie, weil für alle das Mutterglück, die Geburt eines Kindes der größte Segen war. Also versuchte sie einfach zu funktionieren und hoffte, dass sich ihre Gemütslage möglichst bald, von einer Sekunde auf die andere, ändern würde, damit sie endlich als normal gelten würde.

Sie hatte seit vier Tagen nicht mehr geschlafen oder ihr Pyjama gewechselt. Loran hatte nicht aufgehört zu schreien. Sie war fertig, weinte selber die meiste Zeit, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Loran legte an Lautstärke zu. „Hör doch bitte auf zu schreien,“ versuchte Lola ihn zu besänftigen, während ihr Tränen übers Gesicht flossen, und drückte das Neugeborene an sich. „Ich kann nicht mehr,“ schluchzte sie, schaukelte ihren Sohn auf und ab und drückte ihn weiter an sich. Das schien Loran nicht zu interessieren, denn er setzte noch eins obendrauf. „Du schreist das ganze Haus zusammen.“ Sie versuchte, das Geschrei mit ihrer Schulter zu dämpfen und presste das Kind fester an sich. Das Schaukeln beim Auf- und Abgehen versetzte sie in eine Art Trance. Lola war dankbar dafür, einfach mal kurz abzuschalten.

Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie im Dunkeln auf der Couch saß und von absoluter Stille umgeben war. Ruhe. Loran gab keinen Ton mehr von sich. Die kleine Brust bewegte sich nicht mehr.

 

 

X

Lola verspürte ein Stechen im Kopf. Ihr wurde übel, als die Erinnerungen über sie hereinbrachen. Es fühlte sich an, als würden Blitze von innen ihre Schädeldecke malträtieren. Sie blinzelte. Unmöglich. „Dein Vater, der Starverteidiger, hat natürlich einen Superjob gemacht. Dich aus der Nummer rausgeboxt, sodass du keine Konsequenzen zu fürchten hattest. Leider konnte ich ihm nicht mehr seine gerechte Strafe zukommen lassen. Der Krebs kam mir zuvor.“ „Es war doch keine Absicht. Das hat das Gericht bestätigt. Es war ein Unfall!“, rief sie verzweifelt. Er riss sie wieder hoch und da sah sie, dass neben der Gedenkstätte ein Loch im Boden ausgehoben war. „Nein, nein!“ Lola strampelte um ihr Leben, versuchte, sich loszureißen. Aber er war ihr körperlich einfach überlegen. Er warf sie in die tiefe Grube und begann, sie lebendig zu begraben. Jede Bemühung, sich aufzurichten, schlug fehl. „Ich bin Hebamme, ich weiß am besten, dass Kinder in den ersten Monaten sehr fragil sind. Solche Unfälle gibt es häufiger, als man denkt. Ich schwöre, ich habe es nicht gewollt und widme seitdem mein Leben Neugeborenen.“ „Das redest du dir ein. Du wolltest keine Mutter sein. Oder eine Familie haben. Oder wo war denn der Vater abgeblieben?“, schrie er zu ihr herunter. Oh Gott, ich stecke schon halb in Erde, ich muss das Gespräch am Laufen halten, ihn überzeugen, mir Zeit verschaffen! „Ich war doch noch ein Teenager. Nur ein Kind, das überfordert war, einen Fehler gemacht hat. Um Himmels willen, ich wusste doch noch nicht einmal, wer der Erzeuger war.“ Ein Schalter schien bei ihm umgelegt worden zu sein, er schaufelte noch energischer, warf ihr den Waldboden voller Hass ins Gesicht. „Warum tun Sie…!“, war das Letzte, was aus dem Grab zu ihm hochdrang. „Weil du mir die Chance genommen hast, Vater zu sein.“

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