steffi LöserDas Gutachten

 

 

 

Ich erwache mit höllischen Kopfschmerzen, mir ist schlecht, in meinem Mund ist nur noch Trockenheit. Im ersten Moment weiß ich gar nicht wo ich mich befinde, ich habe kein Gefühl für Raum und Zeit. Ich versuche mich zu bewegen, mein ganzer Körper schmerzt und das letzte woran ich mich erinnere ist, dass ich mit meinem Freund Bernd im Fitnessstudio war.

 

Ich versuche mich zu orientieren, ich bin in meinem Bett, in meinem Schlafzimmer und ich bin bekleidet, komplett in Jeans, T- Shirt, Strümpfen, sogar meine Schuhe habe ich noch an. Aber warum diese Sachen? Die ziehe ich für gewöhnlich nicht auf den Weg ins Fitnessstudio an.

 

Warum erinnere ich mich nicht? Langsam rolle ich mich aus dem Bett, der Kopfschmerz bekommt beim aufrichten nochmal eine neue Stärke, sofort schießt Übelkeit in mir auf. Ich muss erstmal ins Bad, auf dem Weg durch die Küche sehe ich eine Vielzahl an Schnaps- und Weinflaschen, mindestens 10 Gläser stehen benutzt herum. Wieso weiß ich von der Party nichts mehr, ich mache im Vorbeigehen den Kaffeeautomaten an und gehe erstmal ins Bad.

 

Nachdem ich mich erleichtert habe werfe ich mir kaltes Wasser ins Gesicht und schaue in den Spiegel, ich sehe glücklicherweise mein Ebenbild. Lutz Berger 49 Jahre, sehr gut trainiert und äußerst attraktiv mit dem leichten grauen Ansatz in seinem sonst noch dunklen und vollen perfekt geschnittenen Haar. Aber was ist das?  Ich muss zweimal hin schauen, was steht da auf meiner Stirn? „Arschloch ich hab dich“. Fett mit Kugelschreiber auf meine Stirn geschrieben. Schnell versuche ich es mit Seife abzuwaschen. Zum Glück geht es ab.

 

Was war das denn für eine Party? Vielleicht besser, wenn ich mich da nicht mehr daran erinnere. Was haben wir überhaupt für einen Tag und wie spät ist es? Die Sonne steht schon recht hoch, also müsste es fast Mittag sein. Ich gehe in die Küche und schaue auf die Uhr. Ist es wirklich schon halb zwölf? Aber welcher Tag? Ich gehe in mein Büro und hoffe dort mein Handy zu finden, mit der Hoffnung, dass es mir auch Aufschluss über die letzte Nacht gibt.

 

Mein Handy habe ich noch ordnungsgemäß im Büro ans Ladekabel angeschlossen, ich schaue auf meine letzten Telefonate, vielleicht hat mich ja gestern noch jemand angerufen, woraus sich erschließt, warum hier ne Party statt gefunden haben muss.

 

Nichts, die letzten Telefonate sind beruflich gewesen, auch keine Nachrichten. Das was sich mir erschließt, dass  heute Samstag ist, somit habe ich wenigstens keinen wichtigen Termin verpasst. Zur Sicherheit schaue ich aber noch mal in meinem Kalender nach. Nichts, auch kein Grund für eine Party. Hatte ich eine Verabredung an die ich mich nicht erinnere?

 

Ich gehe in die Küche und lasse mir einen Kaffee durchlaufen und suche in der Schublade nach  Aspirin. Ich nehme lieber gleich zwei. Ich  gieße mir noch ein großes Glas Wasser ein und lasse mich auf den Stuhl sinken. Ich schiebe einige von den leeren Flaschen weg und versuche eine Übersicht zu bekommen. Hier stehen 4 leere Flaschen Gin und ein paar leere Flaschen Rotwein. Das erklärt natürlich einiges. Aber habe ich wirklich bis zur Besinnungslosigkeit getrunken? Das ist gar nicht meine Art, vor allem nicht, falls einige junge Damen da waren.

 

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Seit Birgit mich vor zwei Jahren verlassen hat, weil sie den Ruf ihrer biologischen Uhr gehört hat, habe ich nichts anbrennen lassen.

 

Ich gebe zu, ich stehe schon auf die jungen Dinger, so bis fünfundzwanzig ist alles noch knackig und am rechten Platz. Vor allem bei den Fitnessmäuschen, die sind auch recht einfach zu beeindrucken. Da machst du ein bis zwei Komplimente und lädst sie in eine der Szenebars hier in Dresden ein, das führt fast immer zum gewünschten Erfolg. Bei manchen ist es eher schwierig, sie wieder los zu werden. Aber da hilft die Arschlochnummer, so tun als ob nie etwas war, funktioniert ganz gut. Bei einigen der Damen macht die schicke Eigentumswohnung und der tolle Schlitten in der Einfahrt schon Eindruck.

 

Da habe ich aber keinen Bock drauf, schon gar nicht auf das Familiending. Kinder nerven mich, es reicht, wenn ich mit denen bei meiner Arbeit zu tun habe.

 

Manchmal muss ich auch Gutachten über Kinder und Jugendliche erstellen, meist wenn es um Missbrauch und Misshandlungen geht.

 

Da fällt mir ein, ich muss ja noch ein Gutachten bis Montag erstellen, eine Mutter mit dem Münchhausensyndrom. Das  Jugendamt hat es in Auftrag gegeben, um der Mutter das Sorgerecht  zu entziehen.

 

Ihr Sohn 11 Jahre leidet seit Jahren unter den verschiedensten Symptomen und ist oft krank und verletzt. Außerdem zieht die Mutter  ständig um, somit war es schwierig ihrer habhaft zu werden. Nachdem der Junge vor zwei Monaten mit Verbrennungserscheinungen in der Notaufnahme eingeliefert wurde, gaben die Ärzte berechtigte Zweifel an der Version der Mutter an, welche zu den Verbrennungen geführt haben sollen. Auch das Verhalten des Jungen war sehr auffällig und sie schalteten das Jugendamt ein. Diese nahmen den Jungen erstmal in Obhut.

 

Ok darum kümmere ich mich lieber morgen, langsam wirken die Tabletten und der Kaffee. Ich kümmere mich jetzt  erstmal um das Caos hier.

 

Ich beginne die Gläser in den Spüler zu räumen und die Flaschen stelle ich in den Korb. Den kann ich heute Nachmittag bei einem ausgedehnten Spaziergang gleich entsorgen.

 

Warum kann ich mich nicht erinnern? Ich hatte noch nie einen Filmriss. Irgendwie macht sich Panik in mir breit und was soll das mit dem dummen Spruch auf meiner Stirn? Ich hoffe sehr, dass sich da nur jemand einen dummen Streich erlaubt hat. Vielleicht eine von meinen abgelegten Liebschaften? 

 

Langsam verspüre ich Hunger, ein gutes Gefühl nach der Übelkeit in der letzten Stunde. Ich werde mich duschen gehen und danach bei meinem Lieblingsbäcker vorbei schauen.

 

Ich hole mir auf dem Weg ins Bad noch schnell ein paar frische Sachen und springe unter die Dusche. Sicherheitshalber suche ich meinen Körper nach noch mehr geheimen Botschaften ab, zu Glück entdecke ich keine. Ich lasse das eiskalte Wasser über meinen Kopf laufen und hoffe irgendwie, dass so meine Erinnerungen zurück kommen.

 

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Ich trockne mich ab und schlüpfe in eine bequeme Jeans und ein frisches Poloshirt und in meine Sneakers. Ich ziehe lieber noch eine Jacke drüber, es ist für Mitte April noch ganz schön frisch. Beim raus gehen schnappe ich mir meine Geldbörse und den Haustürschlüssel. Wenigstens wurde ich nicht bestohlen, denke ich.

 

Ich habe zwar gleich zwei Bäcker in meiner unmittelbaren Umgebung, aber lieber laufe ich die 500m zu meinem Lieblingsbäcker. Der ist zwar auch etwas teurer, aber die Qualität stimmt einfach und die Verkäuferin ist ein absolut heißes Gerät. Aber irgendwie kann ich bei ihr nicht landen, sie ist zwar freundlich, aber ansonsten eher reserviert. Bei der komme ich mit meiner Masche leider nicht zum Zug, vielleicht steht sie auch auf Frauen?  Anders kann ich es mir  nicht erklären.

 

Ich suche mir beim Bäcker zwei belegte Brötchen aus und irgendwie habe ich Lust auf was Süßes. Wenn ich morgen joggen gehe, kann ich mir auch so ein leckeres Nougatteilchen mitnehmen. Als ich bezahle, fühle ich mich irgendwie beobachtet, ich schaue mich um, es fällt mir nichts auf, alles wirkt ganz normal.

 

Ich laufe nach Hause und schaue mich noch einige Male um, dieses ungute Gefühl bleibt, es ist als ob in der letzten Nacht  etwas Schlimmes passiert ist. Ich überlege mir Bernd anzurufen. Er ist die letzte Person, an die ich mich erinnern kann, mit der ich Kontakt hatte.

 

Wieder zu Hause mache ich mir noch einen Kaffee und esse die belegten Brötchen, ein wohlig warmes und sattes Gefühl macht sich in mir breit. Vielleicht war das ungute Gefühl auch nur Hunger. Ich schiebe das süße Teilchen gleich hinter her und hoffe, dass sich mein Erinnerungsvermögen wieder einstellt, wenn der Zucker in der Zentrale angekommen ist.

 

Mit der fast leeren Tasse Kaffee gehe ich in die Stube und lasse mich aufs Sofa sinken, dabei stoße ich mit dem Fuß vor etwas Hartes. Ich bücke mich und halb unter dem Sofa liegt ein fremdes Handy. Der Handyhülle nach zu urteilen, muss es einer jungen Frau gehören, Auf der Hülle sind Glitzersteine aufgeklebt, ein kleiner Schmetterling. Es ist ein einfaches Samsung Smartphone, aber wohl noch sehr neu. Keine Kratzer auf dem Display. Meine Neugier ist geweckt, vielleicht erschließt sich mir ja der gestrige Abend, wenn ich weiß, wem dieses Handy gehört. Sicherlich sind Selfies auf dem Handy, das ist ja der neue Volkssport bei den jungen Dingern. Hoffentlich erkenne ich sie bei den tausend Filtern, die die meisten drauf legen.

 

Ich halte das Handy ins Licht, sicher ist es gesperrt, aber die meisten haben ja nur so eine Wischtechnik, vielleicht erkenne ich ja ein Muster auf dem Display und ja ich habe Glück. Eine Sieben zeigt sich, ich wische nach, nichts passiert, noch einmal, wieder nichts. Ich versuche es Rückwärts und das Handy entsperrt sich, du kleines Luder denke ich.

 

Das Display ist überschaubar, keine Apps, außer der Whatsapp. Es sind keine Telefonate drauf. Sie muss das Handy erst gekauft haben, ok vielleicht sind ja Bilder und Videos drauf.

 

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Ich gehe in die Fotodatei und ja ich habe Glück. Bilder sind drauf und Videos auch. Ich öffne die Datei und muss zweimal hin schauen, da bin ich auf den Fotos. Ich blättere durch, mir wird schlagartig schlecht. Hier sind Fotos der letzten zwei Jahre drauf und nur von mir. Im Fitnessstudio, beim Einkaufen, im Garten, beim Joggen, selbst im Urlaub. Ich schaue bei den Videos nach und mir krampft sich der Magen zusammen. Ein Video aufgenommen in meiner Wohnung, jemand geht am  Tag durch mein Haus und nimmt alles auf. Dann noch ein Video, es muss von gestern Abend sein, ich liege besinnungslos in meinem Bett, neben mir eine Waffe, eine Pistole. Ich renne ins Schlafzimmer, schaue überall nach, ziehe sogar das Bettzeug ab, reiße alle Schränke auf, nichts. Da ist nichts, keine Waffe, zum Glück.

 

Ich muss zur Polizei, ich werde gestalkt. Vielleicht eine der jungen Damen, die sich mehr erhofft hat oder ein Klient, der nicht mit meinem Gutachten einverstanden war.

 

Ich stoße immer jemanden vor den Kopf mit einem Gutachten, es gibt ja immer zwei Parteien. Die die etwas zu beweisen sucht und die die versucht zu beweisen unschuldig zu sein. Sicherlich gab es da auch schon einige Fehlurteile von meiner Seite. Es ist ein schmaler Grad, bei der Erstellung eines Gutachtens. Es kommt ja auch immer drauf an, wer es in Auftrag gibt. Ich bin freiberuflich tätig und jeder kann solch ein Gutachten in Auftrag geben.

 

Mittlerweile habe ich mich auf Missbrauch und Misshandlungen spezialisiert. Doch meine Gedanken suchen nach Gutachten, wo es ums Stalking ging. Vielleicht ein Täter, der verurteilt wurde oder ein Opfer, dem nicht geholfen wurde.

 

Ich schaue mir nochmal alle Fotos und Videos an und hoffe, eine Antwort zu finden. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, meine Angst, die Panik die ich spüre oder die Wut darüber, dass jemand so in mein Leben eintritt.

 

Beim suchen im Handy fällt mir auch eine Sprachnotiz auf, schnell öffne ich sie und hole tief Luft. Ich höre eine Person atmen, sie holt auch tief Luft und beginnt dann zu sprechen. „ Hallo Lutz, hast du mein Handy endlich gefunden, dass solltest du auch. Tolle Fotos habe ich von dir gemacht, findest du nicht auch?“

 

Ich versuche die Stimme zu analysieren, weiblich jung, nicht älter als Anfang 20, fast kindlich zart, verletzt, traurig aber zu allem bereit.

 

Ich höre weiter zu: „ Wir kennen uns, nicht gut und es ist auch schon viele Jahre her, du kennst auch den Rest meiner Familie. Wir stehen in keiner engen Beziehung, eigentlich war es nur eine kurze berufliche Begegnung für dich und du wirst dich nicht an uns erinnern. Aber ich erinnere mich an dich und ich erinnere mich, dass du unser Leben zerstört hast. Wir mussten alle leiden, weil du ein scheiß Gutachter bist, weil du nichts von deinem Job verstehst.

 

 Aber wir haben das jetzt selber in die Hand genommen und dafür gesorgt, dass er keinem Kind etwas mehr antut. Nie wieder und auch um dich werden wir uns kümmern, du trägst genauso viel Schuld, wegen dir konnte er weiter misshandeln und missbrauchen. Alle müssen bestraft werden, alle.

 

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 Du wirst dich fragen, warum ich das gestern nicht getan habe, die Möglichkeit hätte ich auf alle Fälle gehabt. Du sollst Angst haben und leiden, so wie wir gelitten haben, du sollst spüren wie das ist. „

 

 

 

Ich höre ihre Wut, ihre Verzweiflung, ich kann die Tränen spüren, die ihr die Wangen herunter laufen. Ich überlege welcher Fall es gewesen sein kann. Ich habe hunderte Gutachten zu Missbrauchsopfern erstellt. Es muss einige Jahre her sein, es muss sich um eine ganze Familie handeln, komm denk nach Lutz, denk nach.

 

Es rotiert in meinem Kopf, es ist einfach kein passender Fall, der mir so spontan einfällt. Ich muss meine Akten raus holen, ich muss mir alle Gutachten der letzten Jahre anschauen.

 

Sie spricht weiter: „ Wenn du meiner Schwester und meinen Brüdern geglaubt hättest, dann wäre das alles nicht passiert, dann wäre es ihnen nicht weiter passiert und mir niemals, ich war ein Baby, wir waren alle Kinder, wir waren unschuldig. Aber du bist schuld, du bist schuld und dafür wirst du büßen. Du siehst ja, ich beobachte dich schon lange und ich war bei dir zu Hause und ich kann Dinge auch so aussehen lassen, wie sie gar nicht sind.

 

Was hast du heute früh gedacht als du aufgewacht bist? Eine wilde Party mit deinen jungen Schlampen. Oh nein, du bist brav von deinem Sport nach Hause gekommen und erinnere dich, du hattest großen Durst. Du hattest dich noch schnell umgezogen, um kurz um die Häuser zu ziehen. In der Wasserflasche waren KO- Tropfen, es hat dich umgehauen wie einen Elefanten, ich habe dich gerade noch so ins Bett bringen können. Du hast dich sehr gewundert, wo ich her komme, ich hatte mich versteckt und auf dich gewartet. Du hast so selig geschlummert, das mit dem Spruch auf deiner Stirn ist mir spontan eingefallen. Das andere habe ich alles geplant gehabt.

 

 Ich kann jetzt einfach nicht mehr. Ich melde mich bei dir und es wäre von Vorteil für dich, nicht zur Polizei zu gehen. Wenn du das tust, werden sie dir das Handy abnehmen und du wirst nicht erfahren, wie es weiter geht. Ich melde mich.“

 

Ich höre mir die Sprachnachricht gefühlte hunderte male an. Ich kenne diese Stimme nicht.

 

Wie groß muss der Hass sein um so etwas zu tun, wie viel Wut und Verzweiflung sind nötig?

 

Ich bin erschüttert und ich habe Angst. Ich schließe meine Haustür von innen ab. Am Montag lasse ich alle Schlösser austauschen. Sie muss einen Schlüssel haben, mir sind nie Einbruchsspuren aufgefallen.

 

 Ich bin total erschöpft, aber ich muss herausfinden, was passiert ist. Ich gehe in mein Büro, hier habe ich alle Fälle der letzten fünfzehn Jahre. Wenn er davor war, habe ich ein Problem, da die Fälle eingelagert sind und meist noch nicht digitalisiert. Ich schaue mir die Aktenordner an, sie sind nach Namen des Auftraggebers und Datum sortiert. Ich versuche auf Anhieb Fälle auszuschließen. Es scheint sich um Missbrauch und Misshandlung zu handeln und um mehrere Fälle in einer Familie.

 

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 Beim durchschauen fallen mir ungefähr fünf Ordner ins Auge bei denen ich mich erinnere, dass es sich um Familienfälle handelt und ich mehrere Klienten begutachten musste.

 

 Ein Fall war 2010, da wurde der Täter aber eindeutig überführt und bestraft. Zwei Fälle 2011, ein Fall davon ergab, dass die Mutter in einem Sorgerechtsstreit gelogen hatte um ihren Mann das Sorgerecht zu entziehen. Bei dem anderen Fall hatte der Täter Suizid begannen.

 

So ein Fall 2007 und ein Fall 2013, bei dem Fall 2013 hatte die Mutter den Täter getötet.

 

Ich nehme mir die Akte 2007 vor. Umfangreich wie ich sehe, ich hatte drei Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren begutachten müssen. Das älteste Kind war ein Mädchen Kasandra sieben Jahre alt, sie lebte seit fast einem Jahr bei einer Pflegemutter in Thüringen. Die anderen Kinder, zwei Jungen, fünf und drei Jahre alt, noch wohnhaft bei ihrer Mutter und dem Vater. Dieser wurde beschuldigt alle Kinder zu misshandeln und zu missbrauchen. Der Fall wurde bekannt, nachdem die Mutter das Mädchen mit  fünf Jahren in eine Kindernoteinrichtung des Jugendamtes brachte. Sie war mit der Betreuung überfordert.

 

Den Pädagogen fiel schnell auf, dass das Mädchen schwer traumatisiert ist und das Mädchen selber erzählte von den Übergriffen ihres Stiefvaters. Das zuständige Jugendamt wollte handeln und auch die anderen Kinder schützen. Zwischenzeitlich wurde für das Mädchen eine Einrichtung in Thüringen gefunden, wo sie in einer Familienintegrativen Wohngruppe einen Platz fand.

 

Die Mutter und der Vater klagten gegen die Herausnahme der Jungen und ich sollte ein Gutachten für das Jugendamt und Familiengericht erstellen.

 

Ich überblätterte die Akte. Ich las mir mein Gutachten durch,  ich hatte empfohlen keine Klage gegen den mutmaßlichen Täter zu erheben. Die Aussagen der Kinder waren widersprüchlich. Außerdem konnte mir vor allem das ältere Mädchen nicht detailiert schildern, was passiert ist. Der Anwalt der Eltern hätte eine Klage in der Luft zerrissen.

 

Es muss in der Zeit gewesen sein, als ich kurz vor einem Burnout stand. Meine große Liebe Andrea hatte mich verlassen und beruflich lief es auch nicht gut.

 

Konnte es sich um diese Familie handeln? Ich erinnerte mich, dass eine Begutachtung auch so schwer war, da alle Kinder unter einer geistigen Behinderung litten und es schon sprachlich sehr schwierig war.

 

Hatte die Mutter danach noch mehr Kinder bekommen? Laut Akte war sie erst zweiundzwanzig und hatte schon drei Kinder.

 

Mist, es war Samstag, ich konnte niemanden bei  Behörden erreichen, ich muss dieses Jugendamt anrufen. Ich schaute nach, welches Amt damals verantwortlich war. Bautzen.

 

 

 

 

 

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Und nun, was mache ich nun? Bernd brauche ich nicht anrufen, das mit der vermeintlichen Party hat sich ja geklärt. Vielleicht bekomme ich ja die Nummer dieses Handys heraus, ich muss wissen, wer diese junge Frau ist. Außerdem überlege ich immer noch, ob ich nicht doch die Polizei einschalten soll. Sie hat ja gesagt, dass sie schon angefangen haben diese Angelegenheit selber zu klären. Ich überlege, Irgendetwas in den Nachrichten gehört zu haben. Es fällt mir nichts ein. Ich schaue noch einmal in die Akte, vielleicht finde ich ja alte Adressen heraus, die mir helfen können. Das Kinderheim oder die Pflegemutter, wo dieses Mädchen untergebracht war. Ich durchsuche die gesamte Akte und finde einen Namen und eine Adresse in Thüringen. Silvia Grobe hieß die Pflegemutter, wohnhaft in der Nähe von Erfurt. Hier ist auch noch eine alte Telefonnummer, ein Festnetzanschluss. Ich probiere es einfach mal, als Pflegemutter arbeitet man ja rund um die Uhr. Ich versuche mich an die Frau zu erinnern, ich habe kein Bild, zu kurz war der Kontakt. Außerdem wurde sie damals auch nicht von mir befragt. Ich wähle die Nummer und es dauert nicht lange und ein Mann mittleren Alters meldet sich mit Mitzschewski. Mist, konnte ich mir doch denken, nach sovielen Jahren. Ich versuche es trotzdem, vielleicht kennt er ja durch Zufall diese Silvia Grobe. Ich stelle mich ihm als Lutz Berger vor und das ich auf der Suche nach einer Silvia Grobe bin. Er fragt mich erstaunt, warum? Misstrauen klingt in seiner Stimme, also scheint er Frau Grobe zu kennen. „Was wollen sie von meiner Lebensgefährtin? „fragt er schließlich schon fast wütend. Oh entschuldigen sie die Störung versuche ich aufzuklären, es handelt sich um eine Frage zu einem ehemaligen Pflegekind, welches ihre Lebensgefährtin betreut hat. Erleichterung macht sich in seiner Stimme breit. Ja die wäre im Garten, ob wir ihn zurückrufen könnten, fragte er mich. Er fragt ob die Nummer die er hier sieht, erreichbar wäre. Ich bestätige die Nummer und bedanke mich, ich hoffe sehr das Frau Grobe bald zurück ruft.

 

Ich höre mir noch einmal die Sprachnachricht an und ich versuche mich an den letzten Abend zu erinnern. Nichts! Mir wird wieder bewusst, was hätte alles passieren können und ich frage mich umso  mehr, was es mit dieser Waffe auf sich hat.

 

Plötzlich klingelt mein Telefon, ich nehme schnell ab, ich hoffe sehr, dass Frau Grobe so schnell zurück ruft. Ich habe endlich mal Glück, Frau Grobe meldet sich:“ Hallo Herr Berger hier ist Frau Grobe, sie haben versucht mich anzurufen? Um was geht es denn genau?“

 

„ Hallo Frau Grobe, vielen Dank, dass sie mich so schnell zurück rufen, ich habe eine Frage zu einem Pflegekind, welches sie betreut haben. Es muss 2007 bei ihnen gelebt haben und ein Mädchen gewesen sein.“

 

„ Ich weiß überhaupt nicht, wer sie sind Herr Berger, da kann ja jeder anrufen, haben sie schon mal etwas von Datenschutz gehört. Ich kann doch keinem Wildfremden etwas über meine Kinder erzählen und woher haben sie überhaupt meine Nummer? Das ist eine geschützte Nummer, die finden sie nicht im Internet.“

 

 

 

 

 

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„ Oh natürlich haben sie da recht Frau Grobe, entschuldigen sie bitte, wir hatten vor vielen Jahren einmal Kontakt. Ich arbeite als Gutachter fürs Gericht, Ämter und Privatpersonen und habe 2008 eine Kasandra Kiebe begutachtet in einem Missbrauchsfall. Das Mädchen hat laut Aktenlage, zum damaligen Zeitpunkt, bei ihnen gelebt und sie haben sie damals wohl auch nach Dresden gebracht. Das Verfahren gegen den mutmaßlichen Täter wurde damals nicht erhoben. Ihre Telefonnummer habe ich aus der Akte und ich habe die große Hoffnung, sie haben vielleicht noch Kontakt zu Kasandra und können mir sagen, wie es ihr geht und wo sie lebt. „

 

„ Schade das ich so ein schlechtes Namensgedächtnis habe, sonst hätte ich sie nicht zurück gerufen, ja ich weiß wer sie sind. Der schlechteste Gutachter dieser Welt! Was ist? Wollen sie sich bei dem Mädchen entschuldigen, für ihre Fehleinschätzung und gleich mit bei den Geschwistern? Ich kann verstehen, dass Kasandra das getan hat und in meinen Augen ist es Notwehr gewesen. Notwehr für die vielen Jahre des Leidens. Sie hat immer gesagt, sie kann erst wieder glücklich sein, wenn das Schwein tot ist.  Wissen sie überhaupt, wie schwer die Zeit mit ihr war, ich mache den Job schon eine Weile, aber was da an Trauma war,  hab ich noch nie vorher bei einem Kind erlebt und das will ich auch nie wieder. Und das Schwein ist bis vor zwei Jahren immer noch lustig herum gelaufen und hat fleißig weiter Kinder missbraucht. Nicht mal Zwei Stunden hatten sie das Mädchen bei sich und haben festgestellt,  dass ihre Aussagen widersprüchlich sind. Ein Mädchen von 6 Jahren mit Einschränkungen, dass bestimmt zweimal am Tag missbraucht wurde, wird sich nicht an jeden Ort und jede Stellung erinnern. Ich hasse sie heute noch dafür. „

 

Ich bin geschockt über das was ich höre und versuche mich an damals zu erinnern, aber da ist immer noch nichts.„ Können sie mich aufklären, was ist passiert, was hat Kasandra getan?

 

„ Sie hat das Schwein erschossen, hören sie denn keine Nachrichten, es ist fast 2 Jahre her. Sie ist in einer  Klinik untergebracht. Bei ihr wurde eine geminderte Schuldfähigkeit festgestellt.

 

Die Waffe wurde allerdings niemals gefunden, daher vermutete man damals, dass sie Hilfe hatte. Alleine wäre sie auch nicht im Stande gewesen, so eine Tat umzusetzen. Sie hat aber ein umfassendes Geständnis abgegeben und die Schuld alleine auf sich genommen.

 

Ich habe keinen Kontakt  zu ihr, sie ist damals mit 13 Jahren in eine Spezialeinrichtung für schwer traumatisierte Kinder gekommen. Wir konnten mit den vielen psychischen Störungen nicht mehr leben und mussten uns von ihr trennen. Da sie nie Bindungsfähig war, hat sie den Kontakt abgebrochen. Von der Tat weiß ich, weil mich der damalige Staatsanwalt zu ihr befragt hat. Ich habe ihr einen danach noch einmal  Brief geschrieben, aber sie hat nie darauf geantwortet. „

 

„ Das tut mir sehr leid, wirklich. Gibt es noch mehr Kinder in der Familie und lebt ihre leibliche Mutter noch?“

 

 

 

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„ Da müssen sie schon das zuständige Jugendamt anfragen, bei 7 Kindern habe ich aufgehört zu zählen. Ich weiß auch gar nicht, ob ihre Mutter noch lebt und wie es den Geschwistern geht. Ich weiß nur, dass dieses Arschloch immer fleißig weiter gemacht hat und ihn keiner gestoppt hat. Warum wollen sie das überhaupt alles wissen?

 

Ich überlege kurz, ob ich die Wahrheit sagen soll, entscheide mich dann aber für eine Lüge.

 

„ Ich arbeite einige meiner Fälle auf und möchte ein Buch schreiben, ich suche alte Klienten, die bereit wären, mir Interviews zu geben.“

 

„ Ja genau so habe ich sie eingeschätzt, da können sie ja nochmal guten Profit aus den Geschichten ziehen, hoffentlich sind sie so ehrlich und schreiben auch über die Fehleinschätzungen und ihre Folgen. Für mich ist das Gespräch nun beendet und ich möchte nichts zu ihrem Buch beitragen, also rufen sie mich nie wieder an.“

 

Sie legt einfach auf und lässt mir nicht einmal die Möglichkeit mich zu bedanken und mich zu verabschieden.

 

Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Es muss sich um diesen Fall handeln, ich bin  mir da ziemlich sicher. Erst nachdem ich aufgelegt habe, wird mir plötzlich bewusst, wie ernst die Drohung dieser jungen Frau ist. Ich weiß überhaupt nicht, was ich nun tun soll. Die Behörden erreiche ich definitiv nicht vor Montag.

 

Ich gehe in die Küche und mache mir den gefühlt zwanzigsten Kaffee an diesem Tag, ich werde eh nicht schlafen können. Als ich auf die Uhr sehe, bin ich geschockt, es ist schon Abend, ich habe gar nicht mit bekommen, wie die Zeit vergangen ist.

 

Ich überlege, wie ich trotzdem an weitere Informationen kommen kann. Da fällt mir ein, dass sie mich gefragt hat, ob ich denn keine Nachrichten gehört habe. Der Fall muss also irgendwo dokumentiert sein, ich schnappe mir meinen Computer und setze mich wieder an den Küchentisch. Ich gebe den Namen der jungen Frau ein. Sofort bietet mir das Internet verschiedene Seiten an, wo über einen Selbstjustizmord berichtet wird. Ich öffne zuerst die Seite einer seriös wirkenden Tageszeitung.

 

Dort wird darüber berichtet, dass  auf einem Spielplatz in Bautzen eine männliche Leiche aufgefunden wurde. Sie wurde durch einen Schuss in den Mund getötet. Man vermutete zuerst ein Tötungsdelikt in der Drogenszene, da es wie eine Hinrichtung aussah. Die Ermittlungen ergaben aber, dass sich um einen Rachemord einer jungen Frau handelte, die jahrelang von diesem Mann missbraucht wurde. Im Rahmen der Ermittlungen kam man gleich noch einem internationalen Pädophilen-Ring auf die Spur. Ganz leise erinnerte ich mich an die Nachrichten, die damals für große Schlagzeilen sorgten.

 

So nun hatte ich wenigstens ein Motiv, aber warum ausgerechnet jetzt, warum nicht vor einem Jahr, es scheint sich ja um eine Schwester von Kasandra zu handeln, die jetzt diesen Rachefeldzug weiter führt. Gibt es noch weitere Personen, die bedroht werden? Was hat sie vor? Warum hat sie mich nicht auch gestern Abend getötet? Ich soll leiden, hat sie gesagt.

 

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Ich überlege, wer mir helfen kann. Dieses Wochenende, dass erstemal, dass ich ein Wochenende verfluche. Ich komme einfach nicht weiter und ich weiß nicht, was sie geplant hat. Soll ich auch sterben? Wollen sie alle umbringen, die  Schuld in ihren Augen haben?

 

Ich gehe alle meine Kontakte durch und überlege wer mir helfen könnte, als mir ein alter Bekannter einfällt. Er arbeitet bei der Kripo in Dresden. Aber mache ich es damit nicht offiziell? Sollte ich es nicht offiziell machen? Beobachtet sie mich?

 

Ich beschließe erst einmal etwas zu essen. Ich merke dass ich einfach nicht klar denken kann. Ich gehe an den Kühlschrank um festzustellen, dass ich vergessen habe einzukaufen. Jetzt hat kein Geschäft mehr auf. Mist. Dann muss ich eben doch nochmal los, der Döner um die Ecke hat auf alle Fälle bis zweiundzwanzig Uhr auf. Ich will mir gerade meine Schuhe anziehen als das fremde Handy mir eine Nachricht anzeigt.

 

Es ist wieder eine Sprachnachricht, also will  sie nicht direkt mit mir kommunizieren.  Ich öffne die Nachricht und mein Herz scheint vor Anspannung in meinem Hals zu explodieren.

 

Ø  „Hallo, ich bin es nochmal, ich hoffe dass dir dein Arsch auf Grundeis gegangen ist!

 

Ø  Du hast sicherlich fleißig Akten gewälzt um heraus zu finden wer ich bin und was ich von dir will.  Mein Name wird in deinen Akten noch nicht auftauchen, mich gab es damals noch nicht. Ich war zwar schon gezeugt, aber noch nicht auf dieser Welt.

 

Ø  Aber ein Teil meiner Geschwister war es schon.

 

Ø  Und es gibt auch einige die es nicht mehr sind,  die diesen Schmerz nicht  ausgehalten haben.

 

Ø  Aber ich bin noch da und ich habe mir überlegt, warum soll ich denn mir etwas antun? Wenn ich es doch auch anderen antun kann. Ich dachte es hilft mir, ich dachte es geht mir besser, wenn ich das tue.  Es geht mir nicht besser, es geht mir nur noch schlechter. Ich vermisse sie so. Sie wird nie wieder kommen. Du hast sie mit getötet. Ich will nicht mehr, ich bin so alleine.“>

 

Es stellen sich alle meine Nackenhaare auf. Sie scheint betrunken zu sein oder vielleicht hat sie auch Beruhigungsmittel genommen oder Drogen. Ihre Stimme ist brüchig, sie hört sich stark depressiv an, fast suizidal. Ich weiß, dass Menschen in solchen Situationen äußerst schwer einschätzbar sind. Wenn ich doch mit ihr kommunizieren könnte. Sie tut mir fast leid, aber ich bin trotzdem in Gefahr. Mein Magen knurrt, ich muss unbedingt etwas essen. Ich nehme das Handy mit. Vielleicht ruft sie ja doch an.

 

Ich renne die Treppe herunter, ich möchte nicht länger als nötig unterwegs sein. Ich beeile mich die fünfzig Meter zum Dönerladen zu laufen. Zum Glück ist es leer, ich gebe meine Bestellung auf und lasse mir eine Cola geben, für die zeit, wo ich auf meine Pizza warte. Ich setze mich an einen der Barhocker die an den Stehtischen stehen.

 

Durch die gr0ßen Fenster kann man die Umgebung draußen gut im Blick haben, als mir einfällt, das man es auch gut von außen im Blick hat und sie definitiv eine Waffe besitzt. Ein ungutes Gefühl überkommt mich, auch wenn auf dem ersten Blick alles normal scheint.

 

10

 

 

 

Ich bin noch nicht ganz fertig mit meiner Cola, als man mir meine bestellte Pizza bringt.

 

Ich beeile mich schnell wieder nach Hause zu kommen, als mir einfällt, dass sie ja jetzt wieder in meiner Wohnung sein könnte. Wie dumm ich doch bin, dass schlechte Gefühl kommt in einem großen Schwall in mir hoch.

 

Langsam schließe ich meine Wohnung auf und vorsichtig öffne ich die Tür. Habe ich vorhin vergessen das Licht auszumachen? Ich bin mir nicht sicher, ich lege erstmal alles im Flur ab und schnappe mir einen von meinen Stockschirmen, die im Schirmständer stehen. Ich muss mir unbedingt einen Baseballschläger besorgen denke ich bei mir.  Ich versuche auf Zehenspitzen so leise wie möglich durch meine Wohnung zu schleichen. Ich überlege wo ich mich verstecken würde, soviele Möglichkeiten gibt es in meiner Wohnung eigentlich nicht.

 

Ich werfe einen Blick in die Küche und schleiche zum Bad, ich öffne die Tür schaue hinein, nichts.

 

Ich gehe zurück zum Flur und von dort aus in die Stube, ich mache das Licht an, habe ich da einen Schatten huschen sehen. Ich glaube ich sehe schon Gespenster. Ich drücke mich mit dem Rücken an der Wand lang und gehe Richtung Büro. Ich glaube Geräusche zu hören und sage laut, „Sie können jetzt raus kommen, ich weiß, dass sie da sind, lassen sie uns doch vernünftig reden.“

 

Nichts, keine Antwort, ich gehe langsam weiter zum Schlafzimmer, ich stoße die Tür mit meinem Fuß auf und mache schnell das Licht an. Nichts, unter dem Bett kann niemand sein, denke ich, aber im Schrank. Gestern muss sie sich ja auch irgendwo versteckt haben. Ich trete an den Schrank, als mir einfällt, dass sie ja eine Pistole hat. Ich komme mir reichlich bescheuert mit meinem Regenschirm vor. Aber ich habe anscheinend reichlich Adrenalin in meinem Blut, als mein Magen total laut knurrt. Scheiße denke ich noch und öffne mit einem Ruck meinen Kleiderschrank.

 

Nichts ist in meinem Schrank, überhaupt nichts, außer meiner Bekleidung. Erleichterung macht sich breit. Ich gehe zurück in den Flur um endlich meine Pizza zu holen, der Hunger bringt mich um.

 

Als ich in den Flur zurück komme merke ich das die Tür noch offen steht, sicher habe ich sie einfach aufgelassen.

 

Ich setze mich auf mein Sofa und beginne gierig meine Pizza zu essen, natürlich ist sie schon abgekühlt. Ich will zu einer Flasche Wasser auf dem Tisch greifen um nachzuspülen, als mir einfällt, dass gestern ja KO- Tropfen in meinem Wasser waren. Schnell gieße ich alle noch vorhandenen Flaschen im Kasten in den Ausguss und hole mir ein Glas Leitungswasser.

 

Hastig spüle ich die Pizza herunter und lasse mich wieder auf mein Sofa sinken.

 

Da fällt mir auf dem Tisch auf, dass das Geld für meine Putzfrau noch dort liegt. War sie gestern etwa nicht hier?

 

11

 

 

 

Mala putzt jetzt ungefähr seit eineinhalb Jahren bei mir. Ein junges Mädchen gerade mal 16 Jahre alt, sie macht eine überbetriebliche Ausbildung als Hauswirtschafterin. Sie hat eine schwierige Biografie, mit 13 begann sie Drogen zu nehmen, die Schule zu schwänzen und sich auch zu prostituieren.

 

Sie kam hierher nach Dresden und machte eine Therapie und kam in eine betreute Wohngruppe. Für manche dir dort leben, ist es die letzte Chance wieder auf den rechten Weg zurück zu finden. Man unterstützt die Schule in dem man den Mädchen eine Art Praktikumsplatz gibt und man es bezahlt. Das Geld geht allerdings an die Schule, ein Anteil wird aber gespart, damit sie sich irgendwann mal Möbel für einen eigenen Wohnraum kaufen können. Mala kommt jeden Freitag für vier Stunden und putzt die Wohnung.  Da sie das wirklich ordentlich und diskret macht, lege ich ihr immer etwas Taschengeld auf den Tisch.

 

Wenn Mala nicht kann, hat sie mir eigentlich immer Bescheid gegeben. Ich hatte aber auch nicht das Gefühl, dass sie am Freitag nicht da war. Alles sah geputzt aus, ja natürlich, die Handtücher im Bad waren frisch und es roch nach frisch auf gehangener Wäsche. Warum hat sie ihr Geld nicht mitgenommen? Gut, dass kann ich sie auch nächste Woche fragen und auch, ob ihr etwas komisches aufgefallen ist.

 

Ich überlege gerade, ob ich doch ins Bett gehe und versuche etwas zu schlafen, als ich einen dumpfen Schlag am Hinterkopf spüre. Ich werde ohnmächtig und sacke von der Couch.

 

Ich wache auf und spüre einen dumpfen Kopfschmerz, nicht schon wieder denke ich?  Ich versuche mich zu bewegen, als ich spüre, dass  meine Hände auf meinem Rücken zusammengebunden sind. Ich merke, dass ich vor der Couch auf Knien hocke. Ich versuche mich umzuschauen und da sehe ich sie liegen. Mala liegt keine zwei Meter neben mir auf dem Rücken, sie zuckt und sie hat blutigen Schaum vor dem Mund. „ Oh mein Gott Mala“ schreie ich, was hat sie dir angetan, als ich genauer hin sehe, sehe ich die Waffe neben ihr liegen. Mein erster Gedanke ist, dass Mala noch einmal da war, um ihr Geld zu holen und von der Verrückten niedergeschlagen wurde. Ich versuche irgendwie zu ihr zu kommen, ich muss ihr helfen, das arme Mädchen. Ich blende komplett aus, dass sich die Irre noch in meiner Wohnung befinden kann. Ich spüre auch gerade noch vor dem Aufschlag, dass auch meine Knöchel gefesselt sind. Ich habe das Gleichgewicht verloren und bin umgefallen wie ein Sack.  Aber wenigstens bin ich jetzt näher bei Mala, ich muss ihr helfen, ich muss Hilfe rufen.  Wir komme ich aus dieser misslichen Lage? Auf der Seite liegend versuche ich mich immer noch etwas näher zu Mala zu robben, es ist so mühsam. Aus dieser Perspektive sehe ich, dass ich mit Kabelbindern gefesselt bin. Wenn ich irgendwie an einen spitzen Gegenstand komme, dann könnte ich versuchen mich zu befreien. Denk nach Lutz, fordere ich mich selber auf. Da fällt mir ein, dass ich immer einen kleinen Schnitzer auf dem Beistelltisch neben der Couch liegen habe, ich mag es eben, wenn ich mein Obst geschnitten essen kann.

 

Ich robbe zu dem kleinen Tisch und schubse ihn um, der Schnitzer fällt herunter liegt aber so ungünstig, dass ich beim hangeln einen Krampf im Oberarm bekommen. Ich lasse den Schmerz kurz zu und versuche mich dann wieder auf diesen Schnitzer zu konzentrieren.

 

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Ganz langsam mit dem Mittelfinger gelingt es mir den Schnitzer zu mir zu ziehen, kurz muss ich überlegen, wie ich ihn am besten anfasse, um mich nicht selber zu verletzen. Dann gelingt es mir endlich ihn zu greifen und ich beginne mich zu befreien. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, immer wieder schaue ich zu Mala , um zu schauen ob sie immer noch zuckt. Doch sie liegt mittlerweile ganz still, doch sie scheint ganz sanft zu atmen. Endlich meine Hände sind frei, diese doofen Bänder haben sich tief in mein Fleisch geschnitten. Ich schneide das Band an meinen Füßen auseinander. Schnell gehe ich zu Mala, dass schaumig  blutige Gesicht sieht schrecklich aus. Ich fühle ihren Puls, er ist sehr schwach, aber sie lebt.

 

Ich suche Mala nach anderen Verletzungen ab, sicherlich wurde auch sie niedergeschlagen und sie hat eine Gehirnerschütterung. Ich kann auf den ersten Blick nichts finden, was mich verwundert, sie hält die Waffe in ihrer rechten Hand. Ich nehme ihr die Waffe aus der Hand und bringe sie in die stabile Seitenlage. Dann greife ich auf den Tisch und rufe die Rettung an, ich bitte sie auch die Polizei zu informieren. Mittlerweile ist mir die Drohung egal, wenn hier Unschuldige zu Schaden kommen, dann benötige ich Hilfe.

 

Als ich aufstehe sehe ich neben der Couch einen Baseballschläger liegen, ich sehe das Blut daran klebt, da bemerke ich erst, den feuchten Fleck an meinem Hinterkopf. Ok mein Blut denke ich und verzichte darauf, mich an den Hinterkopf zu fassen, darum kann sich der Rettungsdienst dann auch gleich kümmern.

 

Ich höre schon die Sirenen und gehe an  die Tür um diese zu öffnen, als ich merke, dass ich gestern Abend ja die Kette zur Sicherheit vorgelegt hatte. Ein ganz ungutes Gefühl überkommt mich, wie ist Mala dann in die Wohnung gekommen?

 

Und dann kommt mir die Erkenntnis, dann sehe ich plötzlich die Ähnlichkeit mit Kasandra.

 

Es war Mala, daher konnte sie auch die Fotos und Videos machen, sie hatte ja einen Schlüssel und konnte jederzeit ins Haus.  Ich renne zurück in die Stube und ich hoffe dass sie dort noch besinnungslos liegt.

 

Sie liegt dort, genauso wie ich sie hingelegt habe, ich bin erleichtert, dann höre ich auch schon die Polizei und die Rettungskräfte an der Wohnungstür. Sie stürmen natürlich gleich auf Mala zu und beginnen sich um sie zu kümmern. Der Polizist sichert die Waffe und fragt mich, ob es meine wäre und was passiert ist. Ein zweiter Rettungsassistent kümmert sich um meine Platzwunde am Hinterkopf.

 

Ich soll dem Polizisten kurz erklären, was passiert ist und ich sage  ihm, dass ich das nicht kurz erklären kann, dass es viel zu kompliziert ist.

 

Der Rettungsdienst fragt mich, ob ich in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu dem Mädchen stehe und ob ich etwas über Vorerkrankungen wüsste oder Allergien und Drogenkonsum. Ich erkläre kurz, dass ich nicht viel weiß, es wohl Epilepsie in der Familie gebe.

 

Man legt Mala auf eine Liege und bringt sie ins Krankenhaus, ich bekomme einen Druckverband und werde mit auf die Dienststelle genommen.

 

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Dort erzähle ich alles, was ich weiß und alles was passiert ist. Ich bitte den Polizisten mich bitte über den Zustand von Mala zu informieren. Am Abend teilt man mir mit, dass Mala nicht lebensbedrohlich verletzt sei, sondern einen sehr schweren epileptischen Anfall hatte und  noch immer im Koma liegt. Vermutlich hat sie ihre Medikamente eine Weile schon nicht mehr regelmäßig genommen.

 

Die Polizei informierte mich, dass Mala und Kasandra tatsächlich Halbschwestern waren und die Waffe scharf war. Vermutlich sollte ich genauso hin gerichtet werden, wie Kasandra ihren mutmaßlichen Peiniger vor 2 Jahren getötet hat. Es wird auch vermutet, dass auch Mala an dem damaligen Delikt beteiligt war und die Waffe mitgenommen hat.

 

Ich frage nach, warum sie Halbschwestern waren. Der Polizist erklärt mir, dass sich Kasandra vor einigen Wochen das Leben genommen hat und dass dies dann vielleicht auch das Motiv war um mich zu töten.

 

Wenn Mala aus dem Koma erwachen sollte, würde sie erstmal in einer geschlossenen Abteilung der Psychatrie aufgenommen werden, es ist fraglich ob sie überhaupt schuldfähig ist.

 

 

 

Es ist nun schon einige Tage her, mein Hinterkopf schmerzt immer noch und ich bin immer noch geschockt über das was passiert ist.

 

Ich bin nicht wütend auf Mala. Ich kann sie sogar verstehen. Wenn man das Ganze betrachtet kann ich es ihr nicht übel nehmen. Ich habe sogar Mitgefühl und auch ein schlechtes  Gewissen, schließlich bin ich nicht unschuldig an der Geschichte gewesen.

 

Ich habe Fehler beim Gutachten gemacht, ich hätte alles tun müssen um diesen Täter zu stellen, vielleicht hätte ich ihm damit sogar sein Leben gerettet.

 

Ich habe mir fest vorgenommen meine Gutachten alle noch einmal zu überlesen und zu schauen, ob es vielleicht noch mehr Fehler gibt.

 

 

 

 

 

Mala besuche ich jetzt schon seit 4 Monaten regelmäßig auf der Intensivstation, sie ist noch immer nicht aus ihrem Koma erwacht und die Hoffnung ist gering, dass dies eines Tages geschehen wird. Aber sie hat sonst niemanden mehr, der sie besuchen könnte und es ist meine Art, es wenigstens ein wenig wieder gut zu machen.

 

 

 

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One thought on “Das Gutachten

  1. Moin Steffi,

    eine tolle Kurzgeschichte die du dir für den Wettbewerb ausgedacht hast.

    Hast ein sehr komplexes Thema in einen tollen Plot eingebaut und den auf eine lockere Art und Weise erzählt.

    Mir gefällt das Prinzip Zufall, was du als Stilmittel benutzt. Wäre der Epilepsie Anfall nicht gewesen, hätte deine Geschichte ein ganz anderes Ende gehabt. Toll gemacht!

    Das deine Geschichte nicht zu den besten in diesem Wettbewerb gehört, weißt du sicherlich selbst.
    Aber das ist nicht schlimm, denn sie bleibt deine Geschichte, du hast sie geschrieben und das tolle Gefühl beim Schreiben, kann dir keiner nehmen.

    Sei stolz auf dich und deine Geschichte und das du den Mut hattest an diesem Wettbewerb teilzunehmen.

    Nimm aus dieser Aktion so viel mit, wie du kannst. Genau so mach ich es auch.

    Danke das du deine Geschichte mit uns geteilt hast.

    Ich lass dir gerne ein Like da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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