Jennifer BenderDas Handy

Das Handy

„Komm, Emily. Mama muss los. Beeil dich, bitte.” Sophie stand bereits vor ihrem Haus und hielt die Tür für ihre 4-jährige Tochter auf, die gerade noch die Klettverschlüsse ihrer pinken Turnschuhe  zumachen musste. Die blonden Zöpfchen wippten dabei auf und ab. Dann hüpfte Emily heraus und Sophie zog die Tür zu. Sie waren wirklich schon spät dran und natürlich musste sie Emily erst noch in den Kindergarten bringen, bevor sie selbst zur Schule fuhr. Sie folgte ihrem kleinen Energiebündel die Treppe hinunter und wäre beinahe auf einen kleinen, schwarzen Gegenstand getreten. Sophie sah genauer hin.

Es war ein Handy.

Stirnrunzelnd bückte Sophie sich danach. Es war auf keinen Fall ihr eigenes. Ihres war weiß und Victor, ihr Mann, holte sein Handy niemals aus dem ledernen Flip Case. Vielleicht gehörte es einem Nachbar? Möglich, dass sie etwas erkannte, falls sich das Handy entsperren ließ. Sophie drückte ihren Daumen auf den Home-Button.

Und erstarrte.

Es war ein Bild zu sehen. Das Bild zeigte Sophie, eine jüngere Ausgabe ihrer selbst, und sie schaute nicht in die Kamera. Obwohl es mehr als beunruhigend war, dass ein Bild von ihr auf einem Handy war, das sie gerade vor ihrer Haustür gefunden hatte, war es nicht das, was Sophie so erschreckt hatte. Es war das Motiv.

Die Sophie auf dem Foto kniete. Sie beugte sich über einen Mann, der etwas älter war als sie selbst. Der Mann lag auf dem Boden, um seinen Kopf eine große Blutlache.

So viel Blut.

Hitze stieg in ihr auf. Das war unmöglich. Niemand wusste davon. Niemand war dabei gewesen. Wieso existierte ein Foto? Wer hatte es aufgenommen? Dieselbe Person, die es ihr jetzt, beinahe 6 Jahre später, zuspielte? Aber warum?

„Müsst ihr nicht los?“, fragte Victor. Blitzschnell steckte Sophie das fremde Handy in die Innentasche ihrer Jacke. Unter keinen Umständen durfte Victor dieses Foto sehen. Ihr Mann lächelte sie an. „Schau mal, Emily sitzt schon im Auto.“

Das stimmte. Mechanisch nickte Sophie und lies es zu, dass Victor sie küsste. Dann stieg sie in ihren Chevrolet und lies die Zündung an.

„Bist du angeschnallt, mein Schatz?“, fragte sie abwesend.

„Na, klar“, krähte Emily vergnügt, „Bin doch kein Baby mehr.“

Es fiel Sophie schwer, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Am liebsten hätte sie das Handy wieder hervorgeholt, um sich das Bild noch einmal anzusehen, doch sie verbot sich selbst, es während der Fahrt zu benutzen. Ihre Hände umschlossen verkrampft das Lenkrad. Es stimmte natürlich nicht ganz, was ihr im ersten Moment durch den Kopf geschossen war. Natürlich war doch jemand zumindest in der Nähe gewesen, der ein Foto von ihr hätte schießen können, es war eigentlich die einzige sinnvolle Erklärung.

Pia.

Da war der Kindergarten. Die Übergabe verlief schneller als sonst und Sophie versicherte sich nicht ein zweites Mal, ob ihre Tochter bereits spielte, als sie den Kindergarten wieder verließ.

Zurück im Wagen holte sie zunächst ihr eigenes Handy heraus und verband es via Bluetooth mit ihrer Freisprechanlage. Bereits nach dem zweiten Klingeln nahm die Sekretärin ab. „Guten Morgen, Frau Körber.“

„Guten Morgen. Entschuldigen Sie, ich muss mich für heute leider krank melden. Ein Migräneanfall“, log Sophie und verließ den Parkplatz des Kindergartens.

„Ich gebe es weiter, Frau Körber. Gute Besserung.“

„Danke.“ Sophie legte auf. Pia Weiß war damals in der achten Klasse gewesen. Heute arbeitete sie in einer Tankstelle, die ein paar Straßen weiter lag. Sophie brauchte nur ein paar Minuten. Sie parkte ihren Chevrolet an einer Zapfsäule, tankte jedoch nicht. Das Auto verschloss sie per Fernbedienung der Zentralverriegelung, während sie bereits mit schnellen Schritten zur Tankstelle lief.

Sie hatte Glück. Pia arbeitete.

„Frau Körber“, lächelte sie. „Schön, Sie mal wiederzusehen.“

Sophie lächelte nicht. „Können wir kurz reden? Sofort?“

Pia schaute ihre ehemalige Lehrerin einen Moment abschätzend an. Geht es um…? , schien ihr Blick zu fragen. Sophie schloss die Augen und nickte. Mit zusammengepressten Lippen öffnete Pia eine Tür hinter sich, auf der in weißer Schrift Privat zu lesen war. Hastig kam Sophie hinter den Tresen und eilte durch die ihr dargebotene Tür. Pia folgte ihrer ehemaligen Lehrerin. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, zerrte Sophie das Handy aus ihrer Jacke. Das Foto prangte noch immer auf dem Bildschirm.

„Hast du dieses Foto von mir gemacht?“ Sie hielt es der jungen Frau unter die Nase. Pia wich alle Farbe aus dem Gesicht. Tränen traten in ihre Augen.

„Hast du?“, fragte Sophie noch einmal, härter.

Pia schüttelte energisch den Kopf.

„Wir… wir waren doch beide nicht dabei, als … der Unfall passiert ist, erinnern Sie sich? Wir konnten doch nicht… wissen… was passiert ist…“ Ihre Stimme brach ab. Sophie musterte sie.

„Ich war bei Ihnen für eine Buchbesprechung“, machte Pia tapfer weiter, ihre Stimme bebte. „Danach sind wir zusammen gegangen, ich zum Bus und Sie … Sie… sind zu ihrem Auto gegangen und dann nach Hause gefahren, richtig?“

Das Handy in Sophies Hand vibrierte. Zögerlich warf sie einen Blick auf das Display. Es war eine SMS angekommen. Mit dem sicheren Gefühl, dass die Nachricht für sie bestimmt war, tippte Sophie auf den kleinen Umschlag.

 

Ich weiß, was du getan hast. Ich will, dass du es wieder tust.

 

„Schon gut, Pia“, sagte Sophie langsam. „Du kannst nicht der Absender gewesen sein.“  Schließlich konnte sie ihr schlecht gegenüberstehen und ihr zur gleichen Zeit diese SMS geschickt haben.

Pia atmete tief ein. „Aber wer war es dann? Werden Sie … erpresst, Frau Körber? Will da jemand Geld von Ihnen?“

„Nein, nein“, erwiderte Sophie und straffte die Schultern. „Wenn es nicht von dir kommt, dann ist das mit Sicherheit ein dummer Streich. Eine… Fotomontage vielleicht. Du weißt selbst, wie einfach so etwas geht. Kein Grund zur Beunruhigung.“

„Aber, Frau Körber…“

Sophie schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. „Kein aber, Pia. Danke für deine Zeit.“ Diesmal öffnete sie die Privattür unaufgefordert selbst und verließ den kleinen Hinterraum. Pia hielt sie nicht zurück.

Unsicher setzte Sophie sich wieder hinter ihr Steuer, fuhr aber noch nicht los. Ich will, dass du es wieder tust. Was sie damals getan hatte, konnte sie nie wieder tun.

Es war während ihrer Zeit des Vorbereitungsdienstes passiert. Auch wenn ihr Unterricht schon lange vorbei war, hatte sie noch in der Schule gearbeitet. Ihr Platz im Lehrerzimmer war übersät mit Notizen, Klebezetteln und Lehrbüchern für ihre nächste große Unterrichtsvorbereitung und sie hatte davorgesessen, um ihrer geplanten Stunde den letzten Schliff zu verpassen. In diesem Moment war ihr eingefallen, dass sie die Sitzordnung in ihrem Klassenzimmer für die Vorführstunde am nächsten Tag umstellen hatte wollen. Sie war aufgestanden, hatte ihre Arbeitsmaterialien ruhen lassen und  hatte sich auf den Weg in ihren Klassenraum gemacht. Während sie durch die Flure ging, hatte sie plötzlich etwas gehört.

Ein Keuchen. Ein Poltern. Den Schrei eines jungen Mädchens.

Die Geräusche waren aus dem Klassenzimmer gedrungen, das rechts neben ihr lag. Sie hatte versucht, die Tür aufzustoßen, doch sie war verschlossen gewesen. Mit fahrigen Fingern hatte sie ihr Schlüsselbund hervorgeholt und nach dem richtigen Schlüssel gesucht. Schließlich hatte sie die Tür geöffnet.

Daniel Schumacher war sein Name. Gewesen. Er hatte eine 8-Klässlerin mit seinem Körpergewicht gegen die Wand gedrückt. Ihre Gesichter hatten nur wenige Zentimeter getrennt, aber das Mädchen hatte den Kopf zur Seite gedreht, den Blick voller Angst und hilfesuchend zur Tür gerichtet. Daniels Hände hatten den Hosenbund des Mädchens festgehalten, sodass sie sich der Berührung ihrer Unterkörper nicht entziehen konnte.

„Daniel!“, hatte sie gerufen. Geschrien, so laut sie konnte. Er hatte Pia losgelassen und seine Kollegin angeschaut. Erschrocken. Pia war zur Seite weggetaucht. Zitternd hatte sie die obersten Knöpfe ihrer Bluse wieder geschlossen, die ihren BH freigelegt hatten.

Daniel war ein paar Schritte von ihr weggetreten, hatte sich vor die Tafel gestellt und gesagt: „Du kannst jetzt gehen, Pia. Über deine Note sprechen wir morgen noch einmal.“

Dann hatte er sich weggedreht und damit begonnen, die Tafel zu wischen. Pia hatte genickt, sich ihre Jacke übergeworfen, nach ihrer Tasche gegriffen und war verstört aus dem Raum gelaufen.

Es klopfte. Sophie zuckte zusammen und schaute auf. Ein Mann hatte gegen die Fensterscheibe ihrer Fahrertür geklopft und bedeutete ihr nun, das Fenster zu öffnen. Sie tat ihm den Gefallen.

„Nüscht für unjut, aber Sie blockieren die Zapfsäule!“

„Wie?“, fragte Sophie verwirrt. „Ach ja, entschuldigen Sie bitte, ich fahre sofort los.

„Na, dit is mir Eene. Nicht tanken, aber ooch nich wegfahren“, schimpfte er, während er zu seinem Wagen zurückstampfte. Sophie brauchte noch einen Moment, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Dann fuhr sie los und schlug instinktiv den Weg zurück nach Hause ein. Wer hatte ihr diese SMS geschickt? Wer hatte das Handy vor ihre Haustür gelegt? Denn, dass es jemand mit Absicht dort deponiert hatte, daran bestand für Sophie nun kein Zweifel mehr. Ihr brannte es in den Fingern, nachzugucken, ob die Nummer unterdrückt worden war. Ein paar Minuten noch, dann war sie Zuhause und würde das prüfen.

Kaum, dass sie in ihrer Auffahrt stand, holte Sophie bebend das Handy wieder hervor. Sie öffnete die Nachrichten. Enttäuschung, bittere Enttäuschung, überrollte sie. Die Nachrichten waren über einen E-Mail-Provider geschickt worden und damit anonymisiert. Zumindest für sie. Sicherlich hätte ein Computerspezialist herausfinden können, von wo genau die Nachricht geschickt worden war. Computerspezialisten der Polizei zum Beispiel. Sophie schloss müde die Augen. Aber die Polizei kam ja nicht in Frage.

Sie entschied, sich erst einmal einen starken Kaffee zu kochen, bevor sie weiterüberlegte. Das Handy kam zurück in die Innentasche, bevor sie ihr Auto verließ. Der Weg bis zur Küche kam ihr heute länger vor als sonst. Gerade, als Sophie die Kaffeemaschine angestellt hatte, vibrierte es in ihrem linken Brustbereich. Einen Moment lang überlegte sie, einfach nicht nachzugucken. Die Neugier siegte. Eine neue SMS war angekommen.

 

Er ist ein Vergewaltiger. Töte ihn.

„Willst du gerade ernsthaft so tun, als wäre nichts passiert?“, hatte sie Daniel entgeistert gefragt.

„Es ist nichts passiert. Vergiss es einfach, okay?“

Sie hatte ihn fassungslos angestarrt und sich gefragt, ob er sie für so dumm hielt oder ob es sich eher um eine versteckte Drohung handelte. „Vergessen? Meinst du, ich weiß nicht ganz genau, was passiert wäre, wenn ich gerade nicht in diesen Raum gekommen wäre?“ Ihre Stimme war mit jedem Wort lauter geworden. Seine Ignoranz machte sie wütend.

„Ich weiß nicht, wovon du spricht“, beharrte er, „Wir haben uns nur … unterhalten.“

Und plötzlich hatte Sophie sich daran erinnert, dass es ein paar Wochen zuvor schon einmal eine Schülerin gegeben hatte, die eine ungeheuerliche Behauptung vorgebracht hatte. Die Schülerin hatte Herrn Schumacher beschuldigt, ihre Brüste gestreichelt zu haben. Allerdings war sie etwa zeitgleich mit Drogen in der Schule erwischt worden und niemand glaubte dem Mädchen so recht. Und dann war da noch Yvonne aus ihrer 9. Klasse, die ihr vor ein paar Tagen anvertraut hatte, dass Herr Schumacher die Mädchen häufiger als nötig und mehr als nur zufällig berührte. Sie hatte es nicht ernstgenommen.

„Mit Sandra und Yvonne hast du dich dann wahrscheinlich auch nur unterhalten?“, hatte sie leise gefragt.

„Und was genau willst du damit andeuten?“ Daniel hatte ruhig gesprochen, von ihr abgewandt. Er hatte den Schwamm in den Wassereimer getaucht und weitergewischt. Das schmutzige Tafelwasser war zu Boden getropft.

„Ich will andeuten“, hatte Sophie geschnauft, „dass du deine Position für den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ausnutzt!“ Da hatte er endlich aufgehört mit der Wischerei. Hatte sich zu ihr umgedreht.

„Vorsicht. So eine Behauptung ohne Beweise zu verbreiten, das wäre … Rufmord!“

Sophie hatte die Schultern gestrafft, selbstbewusst. „Die Aussagen der Mädchen werden Beweis genug sein!“

„Diesen Mädchen wird niemand Glauben schenken. Du tätest gut daran, jetzt schon zu lernen, dass bestimmte Schülerinnen nicht immer bei der Wahrheit bleiben.“ Ein unangebrachtes Lächeln hatte seine Lippen umspielt.

„Wer glaubwürdig ist, soll unsere Schulleitung entscheiden. Ich werde morgen mit ihr und Pia sprechen.“

Das Handy vibrierte in ihrer Hand. Diesmal hatte man ihr eine Nachricht mit Anhang geschickt. Ein Foto.

Sophie ließ entsetzt das Handy fallen, das scheppernd auf den Boden fiel. Die SMS. Das Bild. Er ist ein Vergewaltiger. Töte ihn.

Das Foto zeigte Victor. Ihren Ehemann Victor.

Unwillkürlich hatte sie eine Hand vor den Mund geschlagen.

„Sophie? Mein Schatz, ist alles in Ordnung?“ Sophie fuhr herum. Ihr Mann kam mit eiligen Schritten die Treppe herunter; sein Blick war sehr besorgt. Warum ist er denn Zuhause, schoss es Sophie durch den Kopf und sie betrachtete ihren sportlichen Mann im roten Jogginganzug.

„Müsstest du nicht eigentlich auf der Arbeit sein? Und warum hast du so geschrien?“, fragte er weiter. Sophie griff sich mit der Hand an den Kopf und stieß das Handy mit ihrem Fuß schnell unter die Küchentheke. „Ich hatte heute Morgen einen Migräneanfall. Da hab ich mich krank gemeldet. Hab aber schon meine Tabletten genommen. Und du?“

Und du bist kein Verbrecher, versuchte sie sich ihre eigene Frage zu beantworten. Ich bin die Verbrecherin in dieser Familie, nicht du.

Victor kam langsam näher. Sophie musste gegen den Drang ankämpfen, zurückzuweichen. „Ich hab heute frei, hast du das vergessen, mein Schatz?“ Er kam noch näher. Schließlich stand er nur noch wenige Zentimeter entfernt. Sophie fröstelte. Er küsste ihre Schläfe. „Dann ruhe dich schön aus. Ich gehe eine Runde Joggen!“

Im Rausgehen drehte er sich noch einmal um: „Wenn es dir nicht gut geht, kann ich nachher auch Emily abholen, wenn du willst. Sag mir einfach Bescheid.“ Dann zog er die Tür hinter sich zu.

Sophie ließ sich erschöpft auf einen Küchenstuhl sinken. Sie vertraute ihrem Mann. Wovor hatte sie dann eben solche Angst gehabt? Wollte sie, dass er alleine Emily abholte? Ihre süße, kleine Emily. Ihr Magen krampfte sich zusammen.

Ich muss diese Nachrichten aus meinem Kopf bekommen. Mein Mann ist kein Vergewaltiger, entschied sie mit plötzlicher Entschlossenheit. Und natürlich kann er unsere Tochter abholen, das hat er schon tausendmal gemacht. Aber das mulmige Gefühl blieb. Wenn sie nur die Polizei hätte einschalten können. Aber dann hätte es Fragen gegeben. Fragen zu ihrer Vergangenheit und worauf der Absender anspielte. Ich will, dass du es noch einmal tust. Das warf doch die Frage auf, was genau sie schon einmal getan hatte. Und dann dieses Foto, das sie über der Leiche zeigte. Nein, keine Polizei. Konnte Sie Victor selbst fragen? Sie trank einen Schluck aus ihrem nun nicht mehr ganz heißen Kaffee. Victor würde genau dieselben Fragen stellen. Und wenn er tatsächlich ein solch abscheuliches Verbrechen begangen hätte, würde er es ihr wohl kaum auf die Nase binden.

Das Handy unter der Küchentheke brummte. Es klang fast beleidigt. Ich lass es da liegen, dachte Sophie trotzig und trank weiter ihren Kaffee. So komme ich dem Absender nie auf die Schliche. Will ich dieses Spiel mitspielen? Für diese Entscheidung war es nun schon zu spät, die Zweifel nagten bereits an ihr und sie konnte nicht leugnen, dass jemand ihr Geheimnis kannte.

Sie musste sich hinknien und eine Weile nach dem Gerät fischen, bis sie es endlich in den Händen hielt. Es war wieder eine SMS angekommen.

 

Es ist heute Nacht passiert. Er hat mich vergewaltigt. Er trug eine grüne Bomberjacke.

Langsam hob Sophie den Kopf. Ihr Blick ging durch das Küchenfenster nach draußen. Victor besaß eine grüne Bomberjacke. Im Moment wehte sie an der Wäscheleine, im Garten. Sophie konnte sie vom Küchenfenster aus sehen, hatte sie aber nicht selbst dorthin gehängt. Hatte sie auch nicht gewaschen. Wie in Trance steckte sie das Handy an denselben Platz wie zuvor und schleppte sich wie ein geprügelter Hund hinaus in den Garten. Ohne die Jacke abzunehmen, begann sie, diese zu untersuchen. Sie wusste selbst nicht genau, was sie zu finden hoffte. Sie griff in die Jackentaschen. Ein Damenhöschen vielleicht? Es war nichts in den Taschen. Keine Trophäe, kein Beweis. Sophie betrachtete den Rücken. Nichts. Die Vorderseite. Den Reisverschluss. Ein eiskalter Schauer durchlief sie. Neben dem Reisverschluss oben an der Jacke klebte Blut. Helles, frisches Blut.

So viel Blut.

Sophie sank auf den Boden in sich zusammen.

„Das wirst du nicht!“, hatte Daniel gezischt. Er hatte nun so nah vor ihr gestanden, dass es ihr schwerfiel, in seine beiden Augen gleichzeitig zu gucken. Doch sie war so wütend gewesen, dass sie keine Angst hatte und sich keinen Millimeter wegbewegte. Bis er plötzlich die Hand an ihre Kehle legte. Sie hatte seinen heißen Atem an ihrem Hals spüren können. Zuerst war Ekel über sie gekommen und sie hatte versucht, sich herauszuwinden. Als er zugedrückt hatte, quälte sie ein starker Würgereflex, gefolgter von panischer Angst. Todesangst. Mit beiden Händen hatte sie ihn weggestoßen, mit so viel Kraft, dass sie über sich selbst erschrocken war. Dann war alles so schnell gegangen. Der Schwung ließ Daniel straucheln, der nasse Boden hatte sein Übriges getan. Der Lehrer rutschte aus und fiel. Rückwärts. Sein Hinterkopf war auf einen Schülertisch geknallt. Wie in Zeitlupe hatte Sophie zugesehen, wie sich Daniels Augen nach oben verdrehten und sein Körper vom Tisch auf den Boden glitt. Um seinen Kopf hatte sich sofort eine riesige Blutlache gebildet. Sophie hatte panisch seinen Namen gerufen. Sie war in die Hocke gegangen und hatte sich über ihn gebeugt. „Daniel“, hatte sie noch einmal gerufen, doch er war nicht mehr ansprechbar gewesen. Das Blut war unablässig weiter geflossen. So viel Blut.

„Mein Gott, Sophie. Was ist denn los?“ Victor ging neben seiner Frau zu Boden. Sophie schaffte es nicht, ihm zu antworten. Ein Heulkrampf schüttelte sie unkontrolliert.

„Das muss ein neuer Migräneanfall sein“, überlegte Victor leise und fügte lauter hinzu: „Komm, mein Schatz. Ich bringe dich zu Bett, etwas Schlaf wird dir bestimmt guttun.“ Victor führte sie vorsichtig, den Arm um ihre Schulter gelegt, ins Haus zurück und in ihr Schlafzimmer. Behutsam bugsierte er sie auf ihr Bett. Trotz ihres unablässigen Schluchzens fiel Sophie auf, dass etwas auf Victors Gesicht anders war als sonst. Ein Kratzer. Seine rechte Wange zierte ein tiefer Kratzer. Sophie versuchte, sich zu beruhigen.

„Hast du…  hast du dich beim Joggen verletzt?“, schaffte sie es schließlich zu fragen. Victor hatte sich auf den Bettrand gesetzt. Da er sie nur fragend ansah, streckte sie eine zitternde Hand nach seiner Wange aus und berührte vorsichtig seine Haut.

„Was ist? Ach, ich glaube, ich bin an einem Baum hängen geblieben oder so“, erklärte Victor langsam und sah sie stirnrunzelnd an. Sophie war zusammengezuckt. Das Handy hatte vibriert. Sie konnte jetzt keine SMS lesen. Nicht, wenn er dabei war.

„Kannst du mir ein kaltes Tuch bringen für meinen Kopf? Bitte?“, presste sie tapfer hervor. Er lächelte sanft. „Natürlich.“ Victor stand auf und ging nach nebenan ins Badezimmer. Getrieben von der Sucht, mehr zu erfahren, zu verstehen, was vor sich ging, riss Sophie das Handy heraus.

Erlöse die Welt von diesem Monster. Er wird wieder Mädchen wehtun. Denk an deine Tochter.

Die Worte hämmerten in ihrem Kopf. Monster. Die Badtür öffnete sich und Sophie schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Handy wieder in der Tasche verschwinden zu lassen. Victor legte ihr umsichtig ein in kaltem Wasser getränktes, kleines Handtuch auf ihre Stirn.

„Ich kann mich etwas zu dir setzen, wenn du möchtest“, schlug er vor.

„Nein“, lehnte Sophie schnell ab, schriller als beabsichtigt. Überraschung zeichnete sich auf Victors Gesicht ab. „Ich möchte versuchen, etwas zu schlafen“, beeilte sie sich zu erklären. Victor nickte.

„Gut, dann würde ich etwas Einkaufen fahren und auf dem Rückweg Emily mitbringen. Ist das in deinem Sinne?“

Nein, schrie es in Sophie.

„Natürlich“, hauchte sie leise.

Als Victor gegangen war, schaffte Sophie es nicht, wieder aufzustehen. Sie versuchte, Ordnung in ihre rasenden Gedanken zu bringen. Sie kannte ihren Mann seit fünfeinhalb Jahren. Aber wie gut kannte sie ihn wirklich? Sie hatten schnell geheiratet, weil schon nach einem halben Jahr Beziehung Emily unterwegs gewesen war. Fünfeinhalb Jahre waren eine lange Zeit. Andererseits hatte es Zeiten gegeben, in denen er als Soldat kaum Zuhause gewesen war. Sie bildete sich ein, einen liebevollen und zärtlichen Ehemann zu haben. Aber plötzlich war sie sich nicht mehr sicher. Was hatte er gemacht, wenn er manchmal wochenlang nicht Zuhause war? Was hatte er in der letzten Nacht getan? Konnte ein Typ wie Daniel in ihm stecken? Es schien ihr unmöglich. Andererseits: Was für ein Monster steckte in ihr? Victor dachte bestimmt auch, dass er sie gut kannte. Sie hatte sich selbst jahrelang davon überzeugt, dass das, was sie getan hatte, moralisch richtig gewesen war. Aber war es das wirklich?

Als sie den Klassenraum verlassen hatte, war es ihr Plan gewesen, zu ihrem Auto zu laufen und einen Notruf abzusetzen. Vielleicht wäre es noch nicht zu spät gewesen. Draußen auf dem Schulhof hatte sie Pia sitzen sehen, die wie ein Schlosshund heulte. Langsam war sie zu der Schülerin gegangen und hatte sich neben sie auf die Steinmauer gesetzt.

„Es ist vorbei, Pia. Dir kann nichts mehr passieren.“

„Es … war ja nicht das erste Mal, Frau Körber“, schluchzte Pia. „Und ich bin auch nicht das einzige Mädchen, das jeden Tag Angst vor ihm hat.“

Es war dieser Moment, in dem Sophie entschieden hatte, dass sie nicht den Notarzt rufen würde. Dieser Moment, in dem sie tatsächlich zur Mörderin wurde. Sie würde nicht zulassen, dass dieser Mann auch nur noch einmal Hand an eines der Mädchen legte.

„Hör mir jetzt gut zu, Pia. Herr Schumacher wird nie wieder Jemandem wehtun. Dir nicht und auch keinem anderen Mädchen. Er hatte heute bei seinen Unterrichtsvorbereitungen einen furchtbaren Unfall. Diesen Unfall hat er leider nicht überlebt.“ Pia hatte sie mit großen Augen angeschaut.

„Wie meinen Sie das, Frau Körber. Was ist denn da drinnen passiert?“

„Tja, das können wir nicht wissen, da wir beide nicht dabei waren. Du hattest doch heute bei mir bis um 14 Uhr einen Termin wegen deiner Buchbesprechung. Danach sind wir zusammen nach draußen gegangen, ich bin in mein Auto gestiegen und losgefahren und habe noch gesehen, wie du in den Bus eingestiegen bist. Richtig?“

Pia hatte ihre Lehrerin lange einfach nur angesehen. Sie schien zu überlegen, was sie darauf antworten sollte. Plötzlich hatte sie genickt und gelächelt.

Es klopfte. Diesmal nicht an der Fensterscheibe, sondern an ihre Haustür. Ein schwacher Hilfeschrei folgte. Sophie sprang aus dem Bett. Es klopfte erneut. Sie riss die Tür auf. Eine Frau stand davor. Dreißig, vielleicht fünfunddreißig. Sophie hatte das vage Gefühl, sie zu kennen, etwa so, wie wenn man jemanden schon einige Male beim Einkaufen getroffen hat, oder wie eine Mutter eines Schülers, die sie einmal in der Menge bei einem Elternabend gesehen hatte. Sie war hübsch, doch ihre Haare waren zerzaust und ihr Lippenstift war verschmiert. Am oberen Kragen war ihre Bluse zerrissen.

„Bitte helfen Sie mir. Ich wurde angegriffen, im Wald. Da war ein Jogger. Er hat versucht mich…“ Die Frau begann zu weinen.

„K-Kommen Sie erst mal herein“, stotterte Sophie. Immer noch weinend ließ die Frau sich von ihr in die Küche geleiten. „Ein Jogger, sagten Sie?“

„Ja, ein Jogger. Er trug einen roten Trainingsanzug. Als er versucht hat, mich auszuziehen, habe ich mich gewehrt und ihm einen Kratzer im Gesicht zugefügt.“ Sophie ließ die Tasse fallen, die sie herausgeholt hatte, um der Frau einen Kaffee anzubieten. Die Tasse fiel laut klirrend zu Boden und zerbrach. „Oh, was für ein Unglück! Brauchen Sie damit Hilfe? Mein Name ist übrigens Nathalie.“

„Sophie. Nein, danke, ich mach das schon.“ Sophie bückte sich und begann betont langsam, die Scherben aufzusammeln. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Nun konnte sie die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Aber was sollte sie jetzt tun?

„Hallo, Liebling. Wir sind zurück!“, drang eine Stimme aus dem Flur. Lautes Getrampel von kleinen Füßen war zu hören, dann kam Emily in die Küche gerannt. Lachend warf sie sich ihrer Mutter in die Arme. Sophie drückte sie fest an sich. Umklammerte sie.

Victor trat in die Küche. „Geht es dir besser, mein Schatz? Oh, Hallo, wie ich sehe, haben wir Besuch!“

„Sie!“ Nathalie sprang auf, presste sich soweit es ging nach hinten an den Tresen und deutete mit dem Finger auf Victor. „Sie waren das! Bleiben Sie bloß weg von mir!“

„Wie bitte? Was war ich? Wer sind Sie denn überhaupt?“, fragte Victor empört. Sophie setzte ihre Tochter ab und stellte sich vor sie und Nathalie. „Victor, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“

„Was? Sophie, was ist hier eigentlich los?“ Victor kam auf sie zu und versuchte, seine Frau in die Arme zu nehmen. Nathalie schrie entsetzt auf, als er sich ihnen näherte. Ohne zu zögern griff Sophie nach einem Küchenmesser aus dem Messerblock neben ihr. Sie streckte den Arm aus und bedeutete Victor, auf Abstand zu bleiben. Dieser hob abwehrend die Hände. „Sophie, was soll das?“ Erneut macht er einen Schritt auf sie zu.

„Bleib weg!“, schrie Sophie hysterisch. Emily begann zu weinen. Es zerriss Sophie fast das Herz. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Nathalie ihre Tochter auf den Arm nahm. Sie tätschelte den Kopf des kleinen Mädchen und sagte beruhigend: „Sch, sch. Deine Mami passt auf uns auf.“

„Nathalie, bringen Sie bitte meine Tochter in ihr Zimmer. Sie soll das hier nicht mitbekommen. Hinter Ihnen zur Tür raus und dann einfach die Treppe nach oben“, ordnete Sophie leise an. Rückwärts, ohne den Blick von Victor abzuwenden, ging Nathalie mit Emily hinaus. Victor wagte einen neuen Versuch. „Schatz, ich weiß nicht, worum es hier eigentlich geht, aber du weißt genau, dass ich dir und Emily niemals etwas antun würde!“

„Uns nicht“, bewog Sophie unheilvoll, „aber anderen vielleicht?“ Verständnislos musterte Victor sie.

„Wovon redest du da bitte?“

„Ich dachte wirklich, ich kenne dich. Ich hätte niemals geglaubt, einen Vergewaltiger geheiratet zu haben.“

Victor riss erschrocken die Augen auf. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder, schien nicht zu wissen, was er dazu sagen sollte. „Aber“, fuhr Sophie langsam fort, „du hättest mit Sicherheit auch nicht gedacht, dass du eine Mörderin geheiratet hast, oder?“ Jetzt war es Victor, der zurückwich. „Du – du bist doch keine …“

„Mörderin? Sprich es ruhig aus, Victor. Doch, das bin ich. Ich habe einen Mann ermordet, der so war wie du, ein Schwein, dass sich an meinen Schülerinnen vergriff!“

„Ich hab niemals eine Frau vergewaltigt!“

„Wie erklärst du mir dann die ganzen Beweise?“, fragte Sophie, plötzlich ganz ruhig. Gleich würde er es zugeben müssen. „Was ist mit dem Blut an deiner Bomberjacke?“

„Ich hab keine Ahnung! Meinst du, die grüne?“, überlegte Victor. „Die hab ich gestern Abend aufgehängt auf der Leine. Sie war nass, weil ich im Regen damit spazieren war!“

„Der Kratzer in deinem Gesicht?“

Langsam wurde Victor ungeduldig. „Habe ich dir doch schon gesagt. Ich bin beim Joggen in einem Baum hängengeblieben.“

„Die SMS einer Unbekannten, die mir sagt, dass du sie in dieser Nacht vergewaltigt hast? Und dass ich dich deshalb töten soll?“

Alle Farbe wich aus Victors Gesicht. Er taumelte langsam zurück, um mehr Abstand zwischen sich und seine Frau zu gewinnen. Sophie ging ihm langsam hinterher. „Was ist mit Nathalie? Sie sagt, sie ist heute von einem Jogger angegriffen worden. Im roten Trainingsanzug. Dem sie einen Kratzer zugefügt hat!“

„Sophie, mach jetzt keinen Scheiß!“, bat Victor nervös und stellte sich hinter einen Sessel. Sie hatten sich über ihre kleine Verfolgung gedreht, so dass Sophie jetzt die Küche im Blick hatte.

„Wer hat hier Scheiße gebaut, Victor?“ Sophie war nah genug, um von ihrem Messer notfalls Gebrauch zu machen. „Denkst du, ich würde zulassen, dass du weiterhin mit Emily unter einem Dach wohnst?“

„Okay, ich gebe zu, das sieht alles wirklich komisch aus.“ Victor sprach jetzt eindringlich, schaute seiner Frau fest in die Augen. „Aber du kennst mich! Und du liebst mich! Ich schwöre dir, dass ich nichts davon getan habe! Wem glaubst du denn mehr? Deinem Ehemann? Oder zwei völlig Fremden. Wer ist diese Unbekannte? Und wer ist Nathalie?“

Sophie zögerte und überlegte, ob sie seine Fragen beantworten konnte. Ihr Blick ging auf der Suche nach einer Antwort in die Küche. Dort stand Nathalie, alleine. Das Gesicht der Frau war verzerrt von purem, abgrundtiefem Hass. Sophie verstand das. Bis ihr etwas auffiel, dass eine Eiseskälte in ihr aufsteigen lies.

Der hasserfüllte Blick war nicht auf Victor gerichtet.

Sondern auf sie.

Langsam lies Sophie das Messer sinken. Eine zögerliche Erkenntnis hatte ihr Herz bereits erreicht. Ihr Kopf versuchte noch, die Puzzlestücke zusammenzusetzen.

„Trauen Sie ihm nicht“, rief Nathalie empört. „Typen wie ihm und Daniel gehört das Handwerk gelegt!“

Ein erstes Puzzlestück rückte für Sophie an den richtigen Platz. „Woher kennen Sie Daniel, Nathalie? Wir haben nicht über ihn gesprochen!“

Nathalie zögerte. Sie schien nun ganz genau zu überlegen, was sie jetzt tun oder sagen sollte. Als sie nicht antwortete, stellte Sophie bedächtig eine zweite Frage: „Waren Sie es, dir mir diese SMS geschickt haben?“

Plötzlich änderte sich Nathalies Gesichtsausdruck. Ganz sicher war Sophie sich nicht, aber sie glaubte, Erleichterung darin zu lesen. Dann Entschlossenheit.

Die Fremde nickte. „Ja. Ich hab die SMS geschickt. Und auch das Handy vor dem Haus deponiert.“

„Aber – warum das alles? Wenn mein Mann Ihnen irgendetwas angetan hat, hätten Sie ihn doch auch einfach anzeigen können!“ Müde fuhr sich Sophie mit der freien Hand durchs Gesicht. Nathalies Geschichte passte nicht zusammen. War sie die SMS-Schreiberin, die nachts angegriffen wurde? Und am Tag gleich auch noch mal? Warum hatte sie sich nicht gleich zu erkennen gegeben? Sophie folgte einer plötzlichen Intuition, lies ihr Messer fallen und ging zögernd auf ihren Mann zu.

„Weg von ihm!“

Sophie stoppte sofort. Nathalie hatte eine Pistole gezogen und hielt sie auf Victor gerichtet. „Wenn Sie auch nur einen Schritt näher zu ihm gehen, knalle ich ihn ab!“

Vorsichtig wich Sophie etwas zurück. „Nathalie, woher kennen Sie Daniel?“ Ihre Stimme zitterte jetzt. Victor setzte sich zögerlich auf den Sessel.

„Daniel war mein Freund“, erklärte Nathalie. Die Waffe in ihrer Hand bebte. „Ich habe ihn geliebt! Und Sie haben ihn eiskalt umgebracht!“

Und plötzlich wusste Sophie, warum die Unbekannte ihr so bekannt vorgekommen war. Auch wenn Daniel niemals von ihr erzählte und niemand etwas von seinem Privatleben wusste, hatte Natalie ihn doch einige Male von der Arbeit abgeholt. Wenn ihr diese Verbindung nur sofort aufgefallen wäre!

„Es war … ein Unfall“, beteuerte Sophie. Nathalie lachte.

„Ich weiß genau, was passiert ist, okay? Ich war da, an dem Tag. Ich wollte Daniel abholen, bin zu seinem Klassenraum gegangen und da habe ich gesehen, wie Sie ihn geschubst haben. Er ist zu Boden gefallen und Sie haben sich über ihn gebeugt. Da habe ich das Foto von Ihnen geschossen, als Beweis für die Polizei. Und dann sind Sie einfach abgehauen, Sie feiges Aas. Sie haben ihn sterben lassen!“

Sophie sagte nichts. Es war die Wahrheit.

„Sie hätten den Notarzt rufen müssen. Ich habe seinen Puls gefühlt und versucht ihn zu reanimieren, aber es war schon zu spät. Dann kam so eine russische Putzfrau, die den Notarzt und die Polizei rief. Da bin ich nach  draußen gelaufen, um sie zu konfrontieren, aber Sie waren weg. Einfach weg.“

Das stimmte. Am nächsten Tag hatte Sophie erfahren, dass die Reinigungskraft von der Polizei verhört worden war. Sie sprach fast kein Deutsch und von einer Freundin hatte sie wohl nichts erzählt. Vielleicht auch gar nicht gekonnt.

„Zuerst wollte ich zurück und mich bei der Polizei melden und denen mein Foto zeigen“, fuhr Natalie fort. „Aber was wäre dann passiert? Vielleicht hätte ein guter Anwalt Notwehr herausholen können oder auch Körperverletzung mit Todesfolge. Das reichte mir nicht. Sie sollte leiden, so sehr, wie ich gelitten habe. Daher plante ich meine Rache. Deshalb bin ich hier!“

Sophies Magen krampfte sich zusammen und sie unterdrückte den Drang, sich zu übergeben. Konnte sie etwas tun, um Nathalie zu beruhigen?

„Das haben Sie geschafft. Ich habe sehr gelitten. Ich habe meinem Mann nicht mehr getraut, hatte Angst um meine Tochter und war nahe dran, eine schreckliche Dummheit zu begehen. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Sie können jetzt aufhören, Nathalie!“

Nathalie sprach unbeirrt weiter, so, als hätte Sie Sophies Worte gar nicht gehört. „Als ich gerade oben im Zimmer Ihrer Tochter stand, hatte ich meine Waffe schon gezogen. Ich wollte sie erschießen. Die Gelegenheit erschien mir günstig.“ Sophie hielt es nicht länger auf den Beinen. Sie klappten unter ihr weg und sie sackte zu Boden.

„Aber“, grinste Nathalie diabolisch, „ich will das Gesicht der Mörderin sehen, wenn ich ihre Liebsten abknalle. Und mit Ihrem Mann fange ich an!“

Nathalie entsicherte ihre Pistole; Sophie sprang auf.

„W-w-warte. Lassen Sie mich verstehen, wie Sie das Alles inszenieren konnten“, begann sie stotternd, fieberhaft überlegend, wie sie das Unglück verhindern konnte. „Wie kam das Blut auf Victors Jacke?“

„Ich habe mich heute Nacht in euren Garten geschlichen und es daran geschmiert. Und bevor Sie weiterfragen: Der Kratzer war pures Glück. Victor hat sich wirklich beim Joggen verletzt. Ich habe ihn beobachtet und es gesehen. Ich dachte mir, das kann ich verwenden.“

Sophie nickte. Nathalie kam langsam ein paar Schritte näher, die Waffe zielte direkt auf Victors Kopf. „Und warum erst jetzt? Warum haben Sie sich nicht gleich gerächt?“, fragte sie weiter.

„Ich wusste nicht, wie. Oh, ich habe dich lange beobachtet.“ Nathalie drückte die Waffe an Victors Schläfe. Ihr plötzlich vertraulicher Ton und die Tatsache, dass sie sie duzte, gefiel Sophie nicht. „Ich wollte dir etwas wegnehmen, doch du besahst ja noch nicht viel. Dann kam dein Victor. Und deine süße, kleine Tochter. Jetzt tut es erst richtig weh. Jetzt wirst du fühlen, was ich gefühlt habe. Sag: Auf Wiedersehen, Victor!“

Es gab einen Knall, als der Körper zu Boden fiel.

Sophie schrie.

Nathalie schrie auch.

Ihre Augen brannten. Victor warf das Pfefferspray beiseite, mit dem er Nathalie besprüht hatte. Er entwand der geblendeten Frau die Pistole, drückte sie zu Boden und hielt ihr den Lauf ihrer eigenen Waffe an den Kopf. Nathalie wimmerte. Sie schloss die Augen in dem Wissen, dass ihr Ende gekommen war.

„Irgendwelche letzte Worte?“, knurrte er. Sophie hatte sich eine Hand vor den Mund geschlagen. Fest an die Wand gepresst beobachtete sie das Szenario. Nathalie wimmerte erneut. Victor neigte sich tief zu ihr herab. Er raunte ihr ins Ohr: „Meine Familie ist mir das Wichtigste auf der Welt. Ich werde nicht zulassen, dass ihnen jemand wehtut!“

Es wurde totenstill im Raum. Victor sprach nicht weiter, verharrte in seiner Position und lies einige Sekunden verstreichen. Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, als er weitersprach: „Ich kann dich nicht einfach wieder gehen lassen. Du könntest wiederkommen. Du könntest mich oder meine Frau töten. Könntest uns unser kleines Mädchen wegnehmen. Solche Ideen könntest du ja haben.“

Mit zusammengepressten Augen und Lippen schüttelte Nathalie heftig den Kopf, soweit ihre Position das zuließ. Speichel löste sich von ihren Lippen, als ein lautes Schluchzen aus ihr herausbrach. „Ruhe!“, brüllte Victor und drückte sie mit Nachdruck auf den Boden. Nathalie verstummte. Er musste nur den Zeigefinger krümmen und ihr Mann würde zu dem werden, was sie bereits war. Ein Mörder.

„Vielleicht“, schlug Sophie leise vor, „könnte sie wegziehen. Weit weg. Und sich nie wieder hier blicken lassen.“ Sie hasste sich dafür, dass ihr Nathalies Tod so verlockend schien. Sie hasste sich auch dafür, dass es sie reizte, ihrem Mann durch einen Mord in gewisser Weise näher zu sein. Doch ein anderer Teil von ihr wusste, dass das nicht die Lösung dieser Geschichte war und sie vor allem an Emily denken mussten. „Ich denke, wir haben alle genug gelitten. Es muss jetzt aufhören.“

Wieder war es still. Schließlich fragte Nathalie zitternd: „Darf ich etwas sagen?“

„Hast du ja schon“, brummte Victor. „Rede, aber beweg dich nicht!“

„Ich habe Verwandte in Polen. Ich ziehe zu ihnen, wenn ihr mich leben lasst!“

„Ich traue dir nicht!“

„Daniel hat sich wirklich an all den Mädchen vergangen, hast du das gewusst?“, fragte Sophie und Tränen rannen ihr über die Wangen. „Nach seinem Tod haben insgesamt fünfzehn Mädchen erzählt, was er ihnen angetan hat.“

„Das ist eine Lüge!“

„Ist es nicht.“ Sophie schüttelte traurig den Kopf. „Ich habe selbst gesehen, wie er Pia angriff. Mich würgte er, bevor ich ihn wegstieß.“

„Ist das wirklich wahr?“, wisperte Nathalie. Sophie nickte.

„Warum hätten wir uns das damals ausdenken sollen?“

Nathalie schaute sie an, soweit ihre tränenden Augen das zuließen. Und dann, ganz langsam, nickte sie.

Plötzlich packte Victor sie am Arm und zerrte sie hoch. Natalie taumelte, durch ihre verletzten Augen hatte sie keine Orientierung und dadurch Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Mit der Waffe im Rücken führte Victor sie zur Tür.

„Du wirst nie wieder auch nur in die Nähe meiner Familie kommen. Wenn ich dich hier irgendwo sehe, bringe ich dich um. Wenn ich noch einmal irgendwas von dir höre oder du meiner Frau drohst, bringe ich dich um. Dann wirst du dir wünschen, dass ich es schon heute getan hätte, mit einem einzigen sauberen Kopfschuss. Hast du das verstanden?“

„Natürlich“, schniefte Natalie.

„Die Wirkung des Pfeffersprays dürfte gleich nachlassen.“ Mit diesen Worten stieß Victor sie hinaus und schloss die Haustür hinter ihr ab. Ihre Pistole hielt er noch immer in der Hand.

Langsam ging Sophie auf ihn zu. „Victor, es… tut mir so leid, dass ich … dass ich an dir gezweifelt habe“, stammelte sie unsicher. „Es schien mir so eindeutig. Und ich habe schon einmal den Fehler gemacht und es einem Mann nicht zugetraut.“

Victor nahm das Magazin aus der Pistole und legte beides auf die Kommode neben sich. Dann nahm er seine Frau in die Arme. Zuerst vorsichtig. Dann klammerten sich die beiden aneinander fest.

„Ich kann dich verstehen“, sagte er sanft und streichelte ihren Kopf.

„Hättest du sie wirklich erschossen?“, fragte Sophie leise an seiner Schulter.

„Nein“, gab Victor zu. „Ich hoffe, es hat gereicht, ihr Angst einzujagen. Ich bin froh, dass ich das Spray dabei hatte. Ich habe es mir eigentlich zur Abwehr der Hunde beim Joggen gekauft. Tja, hat sich schon ausgezahlt, das Ding.“

„Was ist, wenn sie doch zurückkommt?“

Victor blieb einen Moment still. „Ich hoffe, nicht, dass sie es tut. Aber die…“ Er löste sich von Sophie und packte Pistole samt Magazin in den Tresor im Wohnzimmer, „ … behalten wir. Sicherheitshalber.“

Er ließ sich aufs Sofa fallen und klopfte auf den Platz neben sich.

„Und wir beide sollten dringend mal miteinander reden.“

Sophie warf einen Blick auf die Treppe, die zum Zimmer ihrer Tochter hinaufführte. Ganz leise drang ihr zartes Stimmchen von oben herab, es klang, als würde sie wieder mit ihren Feen und Rittern spielen. Sie dachte daran, dass sie gerade kurz überlegt hatte, ihrer Tochter den Vater zu nehmen. Sie dachte daran, dass sie ihrer Tochter später vielleicht irgendwann die ganze Geschichte erzählen würde, wenn sie erwachsen war und sie verstehen würde. Ihre Familie sollte sie kennen, als das, was sie wirklich war. Lehrerin. Ehefrau. Mutter. Mörderin. Auch Victor würde sie ab heute mit anderen Augen sehen, doch auch er war für sie ein anderer geworden.

Sie setzte sich neben Victor und lächelte. „Reden wir.“

 

 

 

 

 

 

 

 

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