Sina S.Das Hobby

Marie war spät dran. Ihre Freundin Emma und sie waren in der Stadt verabredet. Sie verließ überstürzt die Wohnung und hoffte noch pünktlich zu kommen. Der Abend war angenehm warm nach diesem heißen Sommertag und eine leichte Brise empfing Marie als sie auf die Straße trat. Die Bar in der die beiden verabredet waren lag fußläufig von Maries Wohnung. Sie ging schneller. Einen Augenblick später trat sie mit dem Fuß gegen einen Gegenstand, der daraufhin kratzend über den Asphalt schlitterte. Marie schaute auf den Boden und erkannte ein schwarzes Handy. Sie hob es auf.

Plötzlich erklang ein melodisches, piependes Geräusch. Marie sah skeptisch auf das Handy in ihrer Hand, doch sie merkte schnell, dass ihr eigenes Handy den Eingang eines Anrufs mitteilte. Es war Emma. „Marie, wo bleibst Du?! Kannst Du nicht mal pünktlich sein?“ Marie ließ das fremde Handy in die Tasche gleiten und ging schnell weiter. Damit konnte sie sich später befassen. Vielleicht würde sie darauf Hinweise auf den Besitzer finden und könnte ihm, oder ihr das verlorene Gerät zukommen lassen. „Ich beeile mich schon. Bin gleich da.“ Mit diesen Worten legte sie auf und eilte weiter.

 

Nach einem langen, fröhlichen Abend schloss Marie ihre Wohnung auf. Emma und sie waren sich einig, dass ihre Freundin bei Marie übernachtete und nicht mehr allein nach Hause lief. Die beiden wollten noch eine Kleinigkeit essen und dann ins Bett gehen. In der Küche angekommen machte sich Marie am Backofen zu schaffen und Emma setzte sich an die Küchentheke. Beide waren in Gedanken versunken und hörten das Handy in Maries Tasche gleichzeitig. „Wer schreibt Dir noch um diese Zeit?“, fragte Emma und streckte sich gähnend. „Hast Du mir vielleicht noch etwas zu berichten?“, fügte sie grinsend hinzu. Marie schüttelte den Kopf. „Das war nicht mein Handy. Das hat einen ganz anderen Ton.“ Mit einem Mal fiel ihr das fremde Handy ein, welches sie früher am Abend gefunden hatte. Sie ging zu ihrer Tasche und fingerte das schwarze Handy heraus. „Das habe ich vorhin auf dem Weg zu Dir gefunden. Hab‘ ich schon ganz vergessen. Da kam wohl eine Nachricht rein“. Natürlich war das Handy mit einer Sperre versehen. Marie musste sich eingestehen, dass sie doch neugierig auf die Mitteilung war. Vielleicht deutete sie auf den Besitzer hin. Sie überlegt gerade welche Zahlenkombinationen als Sperre oft vorkommen, als die Gesichtserkennung des Handys ihr Gesicht scannte und das Handy freischaltete. Wie konnte das sein? Emma war nun hinter sie getreten und schaute ihr über die Schulter. „Oh, Du hast den Code schon raus bekommen? War es so etwas Einfallreiches wie 1234?“, fragte sie lachend und schnappte sich das Gerät. „Mal gucken was da für eine spannende Nachricht kam.“ Emma tippte kurz auf dem Display und wunderte sich dann über das was sie zu lesen bekam.

Die Nachricht kam von einer nicht gespeicherten Telefonnummer und lautete:

 

>Deine Vergangenheit hat Dich genau jetzt eingeholt!

Du hast gedacht es wäre vorbei, aber es fängt jetzt erst an. Siehe Dir die Fotos im Speicher an.<

 

Marie wusste im gleichen Augenblick, dass diese Nachricht nicht an einen Unbekannten gerichtet war. Diese Nachricht war für sie selbst bestimmt. Die Erkenntnis traf sie mit einer Wucht, dass ihr der Atem stockte. Wie war das möglich? Sie hatte penibel darauf geachtet, dass niemand etwas aus Ihrer Vergangenheit erfährt. Sie wollte diese Fotos nicht sehen. Sie hatte bereits eine schreckliche Vermutung was sie dort zu sehen bekämen. Zudem musste sie unbedingt verhindern, dass Emma etwas davon zu Gesicht bekäme. All diese Gedanken rasten im Bruchteil einer Sekunde durch ihren Kopf.

So schnell wie ihre Freundin zuvor, schnappte Marie das Handy aus Emmas Hand. Sie versuchte ein Lachen aufzusetzen. „Na super da finde ich mal etwas von Wert und dann scheint es in Verbindung mit einer Horde von Spinnern zu stehen.“ Emma allerdings wollte unbedingt die Fotos sehen. „Wer weiß wem wir da auf die Spur gekommen sind. Das ist so spannend. Was meinst Du was da los sein könnte? Vielleicht ein Verbrechen? Los zeig mal die Fotos.“, sagte sie gespannt und aufgeregt. Marie überlegte fieberhaft wie sie aus dieser Situation rauskommen könnte, ohne einen Verdacht bei ihrer Freundin zu erregen. „Emma, wer weiß was da zu sehen ist. Das geht uns auch gar nichts an! Oder würdest Du wollen, dass jemand Fotos auf deinem Handy durchsucht? Wir hätten die Nachricht gar nicht lesen sollen. Ich gebe das Handy morgen bei der Polizei ab und fertig. Jetzt lass uns essen. Ich bin müde und möchte schnell ins Bett.“ Emma sah skeptisch aus, aber gab sich scheinbar fürs Erste damit geschlagen. „Okay Du bist auch echt blass, aber morgen früh reden wir nochmal darüber.“

Marie setzte sich auf die Parkbank, die direkt am See stand. So früh war es noch sehr leer im Park. Lediglich ein Jogger und eine Frau mit ihrem Hund waren unterwegs. Es war nicht leicht gewesen, sich unbemerkt aus der Wohnung zu schleichen. Doch Marie wusste, dass sie unbedingt verhindern musste, dass Emma eine Gelegenheit hatte nochmal auf das Handy zu sprechen zu kommen. Also hatte sie ihrer Freundin einen Zettel geschrieben und erklärt, dass sie los musste und sich später melden würde, nachdem sie bei der Polizei gewesen wäre.

Nervös hielt Marie das Gerät in der Hand. Es graute ihr immer noch davor die Fotos anzusehen. Dennoch aktivierte sie das Display und wartete bis die Gesichtserkennung das Handy entsperrte. Sie tippte langsam das Symbol für abgespeicherte Fotos an und schloss im selben Moment kurz die Augen, als sich die Fotos öffneten. Einmal atmete sie noch tief durch und vergewisserte sich, dass auch wirklich niemand in der Nähe war, dann schaute sie sich die Bilder an.

Zuerst viel auf, dass die Bilder scheinbar nicht direkt mit dem Handy gemacht wurden, sondern abfotografierte Ausdrucke waren. Und es gab viele davon. Auf fast allen Bildern sah sich selbst vor ein paar Jahren. Offenbar wurden die Fotos aus einer versteckten Position heraus aufgenommen. Einige Bilder zeigten sie mit Ben. Sie gingen am Rande eines verlassenen Fabrikgebäudes entlang. Einige Fenster waren eingeworfen und man sah die schwarze Finsternis dahinter. Ein weiteres Bild wurde aus einer anderen Perspektive aufgenommen und man sah wie die Beiden über eine Laderampe durch ein defektes Tor in das Gebäude kletterten. Mehr und mehr Fotos zeigten die beiden zusammen im Gebäude und dann den Raum, den sie ihren Hobbyraum nannten. Ihr Hobby an diesem Tag war eine junge Blondine gewesen. Sie lag besinnungslos auf einer dreckigen Matratze und war mit dicken Ketten an einen Haken im Boden gefesselt. Die Frau war nur mit einem T-Shirt und Slip bekleidet und wie Marie wusste waren ihre Augen und Ohren mit Modellierwachs versiegelt. All ihre Hobbys bekamen diese Sicherheitsvorkehrung. So konnten sie weder sehen, noch hören was um sie herum passierte, oder wo sie waren. Dies war wichtig, wenn Ben und Marie sie in einer Nachbarstadt aussetzten nachdem sie ihren Spaß mit den Frauen hatten. Es durfte nichts auf die beiden, oder diesen Ort hindeuten. Man sah einige leicht blutende Schnittwunden und blaue Flecken auf der Haut der Frau. Mit Ausnahme von zwei Eimern war der Raum leer und die kahlen Betonwände strahlten auf den Fotos die Kälte aus, die an diesem Tag auch dort geherrscht hatte. Sie wusste genau um welchen Tag es sich handelte. An diesem Tag war durch eine kleine Unachtsamkeit alles schief gelaufen. Von da an war nichts mehr wie vorher.

Wie zur Hölle konnte jemand davon erfahren haben? Ben und sie waren immer vorsichtig und geradezu paranoid darauf bedacht nicht verfolgt zu werden. Wie also konnte jemand die Wahrheit hinter dieser Fassade entdeckt haben? Und warum gerade jetzt? Diese Bilder waren schließlich mehrere Jahre alt. Sie scrollte runter und sah weitere Fotos. Man sah wie Marie die Frau von ihren Ketten losmachte. Sie bückte sich zum Schloss am Haken und öffnete es. Die Frau lag wie in Ohnmacht auf ihrer Matratze. Ein weiteres Foto zeigte Ben und sie einen Augenblick später. Sie küssten sich leidenschaftlich. Marie sah sich die Fotos nicht weiter an. Sie war in Gedanken wieder an diesem Ort und hatte noch seine Stimme im Ohr wie er ihr zuraunte „Wenn Du dich so vor mir bückst kann ich mich nicht zurückhalten. Komm her.“, und er zog sie grob am Arm zu sich und küsste sie. Marie mochte es grob. Sie machte den Fehler und ließ sich drauf ein. Sie spürte seine breiten Schultern unter ihren Händen. Die Beiden gerieten in einen regelrechten Rausch der Lust und des Verlangens. Die Vorfreude darauf, die Blondine weiter mit dem Messer zu bearbeiten und ihre Schreie zu hören, war groß und erregte Marie und Ben umso mehr. So merkten sie zu spät, dass ihr Hobby nicht so besinnungslos war wie gedacht. Sie hörten die Ketten klirren und dann schnelle Schritte als die Frau versuchte wegzurennen. Ben überblickte die Situation schneller als Marie, wirbelte herum und sprintete ihr nach. Natürlich kam sie nicht weit. Bewusstlos war sie nicht, aber dennoch sehr geschwächt. Ben erwischte ihre langen Haare und zog sie zornig zu sich. In diesem Moment stürzte sie und schlug mit dem Kopf auf den Betonboden auf. Schnell breitete sich eine immer größer werdende Blutlache aus. Marie wusste noch wie sauer sie war. Beschädigt, oder tot war mit der doch nichts mehr anzufangen. Sie prüfte den Puls der Frau und konnte nichts fühlen. Auch atmete die Blondine nicht mehr. Ben fluchte. „Was für eine Verschwendung! Wir hätten noch so viel Spaß haben können. Aber ich hätte sie ja schlecht laufen lassen können, oder?! Los mach die Sauerei hier weg.“

Eine Leiche änderte jedoch alles für die Beiden. In der Vergangenheit hatten sie all ihre Spielgefährtinnen wieder frei gelassen. Keine konnte auch nur ansatzweise Hinweise zu den Beiden liefern. Eine Frau die nicht nach Hause kam war jedoch ein ganz anderes Problem.

 

Hundegebell und eine milde Briese, die ihr durchs Haar wehte, rissen Marie aus ihren Erinnerungen. Sie dachte sehr oft an Ben und ihre gemeinsame Zeit. Sie vermisste ihn sehr. Eigentlich hatte sie ganz neu angefangen und sich hier ein neues Leben aufgebaut. Eine neue Stadt, ein neuer Name, ein neuer Look, neue Freunde ein totaler Rundumschlag. Natürlich war es vergleichbar mit ihrem alten Leben, aber ohne Ben und ihr gemeinsames Hobby, doch ein ganz Anderes. Und doch musste sie sich eingestehen, dass ihr neues Leben schön war.  Und bis gestern Abend war sie fest davon überzeugt gewesen, dass der Neuanfang geklappt hatte. Was hatte all das bloß zu bedeuten?

Marie überlegt wie ihre nächsten Schritte aussehen könnten. Sie musste definitiv mehr über die Person hinter dem Handy herausfinden. Allerdings schien es ihr im Moment eher so, dass diese fremde Person ihr einiges voraus hatte. Sollte sie versuchen Ben zu kontaktieren? Nach dem Tod der Frau hatten Sie sich geschworen den Kontakt nicht wieder aufzunehmen. Aber dies war schließlich eine Notsituation. Nein, vorerst würde sie das vermeiden. Marie nahm das Handy und durchsuchte es auf Hinweise. Es gab allerdings absolut nichts. Keine E-Mails, Nachrichten, gespeicherte Telefonnummern, Notizen, oder andere Indizien. Der einzige Hinweis war die Nachricht der unbekannten Telefonnummer, die sie auf die Fotos hingewiesen hatte. Sie öffnete auch den Webbrowser um den Verlauf und die Favoriten zu überprüfen. Auch hier nur Leere. Es war zum Verzweifeln. Irgendeinen Hinweis musste es doch geben. Sie rief erneut die Nachricht auf und tippte eine Antwort ein:

 

>Wer bist Du und was willst Du?<

 

Auf Höflichkeiten konnte man wohl verzichten. Sie schickte die Nachricht mit klopfendem Herzen ab.

 

Das Wasser begann zu kochen. Marie schaltete den Wasserkocher aus und goss dessen Inhalt in die Tasse mit dem Pfefferminztee. Der aufsteigende Duft beruhigte sie sofort. Zum Glück war Emma bereits weg als sie nach Hause kam. Marie wusste, dass ihre Freundin sauer war. Zudem vermutete Sie, dass die ganze Situation und ihr Handeln seltsam auf Emma wirken mussten. Aber damit konnte sie sich jetzt nicht beschäftigen. Das konnte sie immer noch regeln, wenn alles vorbei war. Und eins war sicher. Sie würde sich ihr neues Leben nicht nehmen lassen. Das Handy piepte unerwartet und ließ Marie zusammenzucken. Beim Versuch schnell danach zu greifen, stieß sie fast ihre Teetasse um und verschüttet ein Teil des heißen Wassers. Es war ihr egal. Sie sah das Display aufleuchten und den Eingang einer neuen Nachricht signalisieren. Für einen Außenstehenden musste der Inhalt der Mitteilung nichtssagend aussehen, doch Marie lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

 

 

>Mein Name würde Dir nicht weiterhelfen.

Komm morgen früh um 08.00 Uhr zum sicheren Hafen, dann wirst Du erfahren was ich will.<

 

Ihre neue Heimatstadt hatte keinen Hafen und auch in Ihrer Vergangenheit hatte sie nie in der Nähe eines Hafens gelebt. Dennoch war ihr sofort klar, welcher Ort gemeint war. Ben und sie hatten damals einen Treffpunkt. Von dort aus sind sie gemeinsam zu ihrem Hobbyraum aufgebrochen. Es war ihr spontaner Einfall diesen Ort als Hafen zu bezeichnen und sie beide waren die einzigen, die davon wussten. Es handelte sich um eine Lichtung im Wald unweit der alten Fabrik. Dort konnten sie ganz sie selbst sein und gemeinsam in Stimmung kommen, bevor sie sich aufmachten zu ihrem gemeinsamen Hobby. Der Boden war moosbewachsen und die Bäume und Sträucher drum herum bildeten eine dichte Barriere gegen die Außenwelt. Selbst beim bloßen Gedanken an den Hafen hatte Marie bisher immer das Gefühl absoluter Sicherheit.

Dieses Gefühl wurde nun mit nur einer Nachricht der fremden Person zerstört.

Marie ging ins Schlafzimmer und holte eine Sporttasche aus dem Schrank. Sie packte ein paar Sachen für eine Nacht ein und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Als sie im Auto saß fasste sie den Entschluss Ben doch zu kontaktieren. Er war genauso von der Lage betroffen wie sie. Zudem konnte sie Hilfe gut gebrauchen. Ben und Marie hatten sich für den Notfall Handys zugelegt, die sie nie benutzt hatten. In beiden Telefonen war lediglich die Nummer des Anderen gespeichert. Es war unwahrscheinlich, dass Ben das Handy noch hatte, ganz zu schweigen davon, dass es geladen und in seiner Reichweite war. Aber sie musste es versuchen. Die Nummer hatte sie all die Zeit im Kopf und nie vergessen. Sie wählte und lauschte dem Freizeichen. Eine erste Erleichterung durchzuckte sie. Das Handy war scheinbar nicht ausgeschaltet. Sie wartete, aber niemand nahm ab. Nach ein paar weiteren Sekunden meldete sich die automatische Ansage der Mailbox. Marie überlegte fieberhaft was sie tun sollte. Sie entschied sich das Risiko einzugehen, aber so gering wie möglich zu halten „Es ist etwas passiert. Du weißt wer hier ist. Ich bin auf dem Weg zum Hafen. Falls Du das hörst melde Dich.“ Marie legte auf. Sie würde es später erneut versuchen. Jetzt musste sie zuerst dafür sorgen, dass sie vor der fremden Person am Treffpunkt ankam.  

 

Marie parkte auf dem Parkplatz eines modernen Hotels ganz in der Nähe der Waldlichtung. Die Sonne stand schon sehr tief und es würde nicht mehr lange dauern bis die Nacht anbrach. Der volle Parkplatz sagte ihr, dass es im Moment gut besucht war. Das kam ihr das ganz gelegen, da sie dann nur ein Gast von vielen war und so etwas unauffälliger. Sie buchte ein Zimmer für die bevorstehende Nacht. Es war nicht groß, aber doch gemütlich eingerichtet. Unter anderen Umständen hätte es ein schöner Kurzurlaub sein können. Marie legte jedoch nur ihre Tasche ab und ging dann gleich wieder.

Den Weg zur Lichtung kannte sie und konnte vom Hotel zu Fuß gehen. Sie musste diese Nacht versteckt an der Lichtung verbringen, um dem Verfasser der Nachrichten zuvor zu kommen. Auf ihrem Weg versuchte sie erneut Ben zu erreichen. Wieder hörte sie nur das Freizeichen. Als die Mailbox erneut erklang legte sie auf. Ihr Weg führte sie weiter in den Wald und schließlich musste Marie sich durch Farn und Büsche drängen.

Als sie die Lichtung endlich erreichte war es wie ein Schritt in die Vergangenheit. Die Zeit, die sie hier mit Ben verbracht hatte war geprägt von Lust und Leidenschaft. Sie sah sich um. Inzwischen war es fast dunkel und sie schaltete die Taschenlampenfunktion ihres Handys an. Bevor sie sich versteckte ging sie noch ein paar Schritte auf die Lichtung und sog die leicht feuchte, warme Luft ein. Der Duft des Waldes tat ihr gut und beruhigte Maries Nerven. Sie schloss die Augen und atmete noch ein paar Mal tief ein.

Der Schmerz an Maries Hinterkopf traf sie unvermittelt. Es fühlte sich an als sei ihr der Schädel gespalten worden und im Bruchteil einer Sekunde wurde alles schwarz um sie herum.

 

Das Erste was Marie spürte waren die unfassbaren Kopfschmerzen. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch es schienen unmenschliche Kräfte dazu nötig zu sein. Als sie es endlich schaffte, fand sie sich im Hobbyraum wieder. Er war schwach beleuchtet von einer kleinen kabellosen Lampe in der Ecke. Marie wollte sich an den Kopf fassen und nach einer Wunde tasten, doch sie konnte ihre Arme nicht bewegen. Sie merkte, dass sie sich überhaupt nicht bewegen konnte. Sie saß auf einem Holzstuhl und ihre Arme und Beine waren mit grauem, festem Klebeband daran gefesselt. Marie zerrte an den Fesseln doch sie gaben kein Stück nach.

Sie hörte Schritte auf dem harten Betonboden. Sie hallten durch den leeren Raum. Als sie aufsah, erblickte sie eine schmale Gestalt in der Tür. Im Halbdunkel konnte sie nicht erkennen, wer es war. Doch es war offensichtlich eine Frau. Marie hatte keine Angst vor ihr, sie war wütend. Richtig wütend. „Was soll das alles?“, schrie sie die Frau an. „Mach mich sofort los.“ Sie stockte als sie das klare, helle Lachen der Frau hörte. Das konnte nicht sein. Sie kannte dieses Lachen und als ihr schlagartig diese Erkenntnis kam, gefror ihr das Blut in den Adern.

Als sie näher kam, konnte Marie das Gesicht der Frau erkennen und ihre Ahnung wurde zur grausamen Gewissheit. „Jane?! Ist das Dein Ernst? Du steckst hinter allem?“

„Du hast ja scheinbar jemand anderes erwartet. Bist Du dir eigentlich im Klaren darüber wie Du mein Leben zerstört hast? Es ist deine Schuld, dass Ben weggegangen ist. Ich habe ihn verloren. Er könnte genauso gut tot sein. Das eine Mal, als ich endlich geschafft hatte meinen Bruder ausfindig zu machen, hat er mir von eurem kranken Geheimnis erzählt. Guck nicht so! Es blieb ihm ja nichts Anderes übrig um mich loszuwerden. Es hat lange gedauert bis ich es aus ihm rausbekommen habe. Da ich aber einen Grund haben wollte, warum er unter keinen Umständen zu mir zurückkommen konnte, musste er mir die Wahrheit erzählen. Ich erkenne es, wenn er lügt. Damit war mir natürlich klar, dass alles Deine Schuld ist. Hätte er Dich nur nie kennengelernt.“ Maries Gedanken überschlugen sich beinahe. „Du bist ja völlig verrückt. Hörst Du überhaupt was Du da von Dir gibst? Das ergibt absolut keinen Sinn.“, zischte Marie durch zusammengebissene Zähne. Dass Ben seiner Schwester wirklich alles gestanden hatte, konnte Marie kaum glauben. Sie musste Jane dazu bringen weiter zu reden und sich schnell etwas einfallen lassen. Marie merkte, dass der Stuhl auf dem Sie saß alt und morsch war. „Woher hast Du diese Fotos, wenn Du erst im Nachhinein davon erfahren hast? Und wie hast Du mich überhaupt gefunden?“, fragte sie daher. Jane sah sie hasserfüllt an. „Du bist einfach zu leichtgläubig. Aber es ist schon toll was man heute alles mit einer guten Bildbearbeitungssoftware hinbekommt. Täuschend echt, nicht wahr? Dich zu finden war nicht so schwer wie Du vielleicht denkst. Ben hatte Dich nie aus den Augen gelassen. Hat sich nicht wie Du an eure grandiose Abmachung gehalten. Er wusste immer wo Du bist. Als ich bei ihm war um ihn zurückzuholen, ließ er versehentlich sein Tablet liegen. Ich fand in seinen Notizen Informationen über Dich und deine neue Identität. Den Rest kennst Du.“ Marie kannte den Rest nicht und hatte noch so viele Fragen, aber sie musste auch endlich von diesem Stuhl loskommen.

Jane kam ihr immer näher und griff mit der rechten Hand hinter ihren Rücken. Als ihre Hand wieder zum Vorschein kam glänzte eine lange Klinge darin. Das schwache Licht spiegelte sich in dem Messer und die Klinge machte den Eindruck aus flüssigem Metall zu bestehen. „Du wirst jetzt alles gestehen und dann rufen wir die Polizei. Sobald sie Dich wegsperren braucht mein Bruder nicht mehr auf der Flucht zu sein und kommt zurück zu mir.“ Sie kam näher und in diesem Augenblick passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Man hörte schwere Schritte schnell näherkommen. Jane drehte sich erschrocken danach um. Marie verlagerte ihr ganzes Körpergewicht und kippte sich mit dem Stuhl um. Die Armlehnen brachen krachend ab und sie konnte ihre, daran geklebten Arme wieder bewegen. Sie versuchte so schnell sie konnte ihre Beine von den Resten des Stuhls zu befreien. Jane merkte es, ignorierte die näherkommenden Schritte und stürzte sich schreiend mit erhobener Klinge auf Marie am Boden. Plötzlich trat ein großgewachsener, muskulöser Mann in den Raum. Ben erfasste die Situation schnell und riss Jane von Marie runter. Das Messer fiel klirrend zu Boden und schlitterte in eine Ecke des Raums. Er hielt Jane fest, die nun hemmungslos weinte und wie eine Furie versuchte sich wieder auf Marie zu stürzen. „Was ist hier los? Jane bist Du völlig durchgedreht?“ Er verpasste seiner aufgelösten Schwester einen gezielten, harten Schlag und sie brach bewusstlos am Boden zusammen.

Marie fühlte etwas Warmes, Nasses, das Ihren Pullover durchtränkte. Sie fühlte einen brennenden Schmerz, aber es schien nicht so schlimm zu sein. Die Stichwunde war nicht sehr tief. Sie sah Ben an und er sie. Er kniete sich neben sie und prüfte ihre Verletzung. „Nicht so schlimm, Schönheit.“, sagte er außer Atem. Er ging an Jane vorbei und holte das Messer. So konnte er Maries fesseln durchtrennen und ihr helfen aufzustehen. „Ich habe Deine Nachricht bekommen. Als Du sagtest, dass etwas passiert wäre, bin ich sofort losgefahren. Aber hiermit habe ich wirklich nicht gerechnet“ Marie sah ihn an und mit einem Mal fühlte sie sich wieder absolut sicher. Nun würde ihr nichts mehr passieren. Wie es weiterging war unklar, aber eins war sicher. Sie würde sich nicht mehr von Ben trennen. Marie schmiegte sich in Bens Arme und die beiden küssten sich. Nicht wie früher. Kein alles verzehrendes Verlangen. Einfach ein Gefühl von Heimat und unendlicher Liebe. Die beiden gingen an Jane vorbei und raus aus der Fabrikruine. Sie würden sich nie mehr umdrehen.

 

Jane konnte den Schmerz, den sie innerlich fühlte kaum ertragen. Als sie zu sich kam, lag sie auf dem kalten Boden. Außer ihr war niemand mehr im Raum. Sie schluchzte laut und hatte das Gefühl nie wieder glücklich zu werden. Alles war schiefgegangen. Sie wollte ihren Bruder zurück und jetzt hatte sie Ben doch für immer verloren. Ihr Blick fiel auf das blutige Messer, das neben den Überresten des Stuhls lag. Jane griff danach und stand auf. Noch, das entschied sie, war es nicht zu spät. Und sie eilte raus in die Dunkelheit, die lange Klinge in der Hand.

 

ENDE

 

 

 

 

 

 

 

4 thoughts on “Das Hobby

  1. Liebe Sina,

    du hast eine spannende Geschichte geschrieben, die mir richtig gut gefallen hat!

    Ich bin auch sehr froh über das Ende, denn ich habe mich schon kurz geärgert, dass sie einfach so davon kommen, aber das bleibt jetzt wohl mir als Leser überlassen, was weiter passiert… sowas mag ich.

    Schreib auf jeden Fall weiter, du hast definitiv Potential!

    Alles Gute, Yvonne (Der goldene Pokal)

  2. Hallo Sina, deine Geschichte hat mir gut gefallen. Ich mag es, wenn am Ende Raum für Phantasie und eigene Interpretationen ist. 😊 Daher hat mir besonders das Ende sehr gut gefallen 👍🏻Hat Spaß gemacht, sie zu lesen.
    Gruß, Katrin,

    Vielleicht magst du ja meine Geschichte “… Und raus bist du!” lesen? Würde mich freuen! 😊

Schreibe einen Kommentar