ardillasDas letzte Foto

 

Er zog sich noch ein bisschen mehr in den Schatten zurück, als er sie um die Ecke kommen sah. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass sie nicht einen Blick in seine Richtung werfen würde. Trotzdem, Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste. Zu lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Fünf Jahre, um genauer zu sein. Und jetzt hing alles davon ab, dass Katharina von der Heide dieses Handy sah, sich bückte und es mit nach Hause nahm, nachdem sie die Fotos entdeckt hatte. Dirk merkte, dass er trotz seiner luftigen Kleidung schwitzte. „Bitte, Gott, lass sie nicht vorbeigehen“, flüsterte er, obwohl er schon lange nicht mehr daran glaubte, dass es so etwas wie einen Gott überhaupt gab. Alte Gewohnheit, dachte er und zuckte mit den Achseln. Eine gefühlte Ewigkeit später sah er, wie sich Katharina bückte.

 

 

„Hier hat jemand sein Handy verloren“, sagte Katharina zu Meli, mit der sie gerade telefonierte.

 

„Ein I-Phone?“, quietschte diese aufgeregt.

 

Katharina schüttelte den Kopf. „Nein. Irgendein Billiges. Nicht wert, sich überhaupt danach zu bücken.“

 

„Vielleicht sind brisante Fotos drauf“, vermutete Meli.

 

Katharina verdrehte genervt die Augen. „Es wird wohl eine PIN haben.“ Manchmal ging ihr ihre Freundin echt auf die Nerven.

 

„Schau trotzdem nach“, forderte diese.

 

Katharina seufzte theatralisch, bückte sich aber trotzdem. Als sie den Knopf berührte, ging das Display an und forderte sie auf, zum Freigeben über den Bildschirm zu wischen. Ohne sich viel davon zu versprechen, tat Katharina dieses. Zu ihrem Erstaunen entsperrte sich das Handy, ohne dass sie nach einer PIN gefragt wurde.

 

„Na hoppla. Da war aber jemand unvorsichtig“, murmelte sie. Gleich darauf registrierte sie, dass sie in ihr eigenes Gesicht blickte. Sie zog scharf die Luft ein. Was war denn hier los?

 

„Was ist passiert?“, vernahm sie Melis Stimme. Katharina blickte in alle Richtungen, konnte aber niemanden sehen.

 

„Katharina?“, machte sich Meli erneut bemerkbar.

 

Katharina klemmte ihr eigenes Handy zwischen Schulter und Ohr und sah sich das gefundene näher an. Sie öffnete die Galerie. Dort waren insgesamt fünfzehn Fotos gespeichert. Und alle waren von ihr: Wie sie aus dem Auto stieg, wie sie joggte, wie sie Tennis spielte sowie einige Nahaufnahmen von ihrem Gesicht. Sie erschauderte.

 

„Katharina von der Heide. Redest du nicht mehr mit mir?“, wurde Meli jetzt energisch.

 

„Du wirst nicht glauben, was auf dem Handy ist“, antwortete Katharina.

 

„Also war es doch nicht gesperrt“, triumphierte Meli.

 

„Da sind lauter Fotos von mir drauf.“

 

„Wie aufregend“, juchzte Meli.

 

„Ich finde es eher unheimlich“, entgegnete Katharina.

 

„Wieso denn?“

 

„Wieso denn?“, äffte sie ihre Freundin nach. „Weil ich in mein eigenes Gesicht blicke. Und das nicht mein Handy ist.“

 

„Das ist total süß“, antwortete Meli aufgeregt.

 

„Spinnst du?“ Katharina war fassungslos.

 

„Mensch, Katharina. Du hast einen heimlichen Verehrer. Was für eine süße Art, auf sich aufmerksam zu machen.“

 

„Hm.“ Katharina legte den Kopf schief und dachte nach. Manchmal war die Schlichtheit, in der Meli dachte, doch zu etwas gut. Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Jemand hatte anscheinend das Handy hier platziert, weil er wusste, dass sie jeden Donnerstag um die gleiche Uhrzeit diesen Weg nahm, um nach Hause zu gehen.

 

„Du hast recht“, lächelte Katharina und steckte das fremde Handy ein. „Da war jemand wohl einfach zu schüchtern, um mich direkt anzusprechen.“

 

„Sehe ich auch so“, gab ihr Meli wie immer recht.

 

 

Dirk atmete erleichtert auf, als er sah, dass Katharina das Handy einsteckte und weiterging. Seine Vermutung war richtig gewesen. Katharina war zu oberflächig, um überhaupt nur auf die Idee zu kommen, dass das Handy etwas anderes sein konnte, als ein Kontaktversuch.

 

Er schloss die Augen und wanderte gedanklich fünf Jahre zurück, in eine Zeit, wo noch alles gut war, wo seine Tochter Mia noch gelebt hatte. Mia, die mit zwölf Jahren sterben musste. Mia, deren Tod nie gerächt wurde, weil Geld mehr zählte als Gerechtigkeit. Sein Herz zog sich immer noch schmerzhaft zusammen, wenn er an den Anruf der Polizei dachte. Mia war überfahren worden. Man hatte erst ihr Fahrrad und dann sie selbst gefunden. Fahrerflucht. Der Fahrer wurde nie gefunden. Nun, Dirk hatte ihn gefunden. Von Anfang an hatte er sich trotz seiner Trauer gewundert, dass sich der Polizeichef höchstpersönlich um den Fall kümmerte. Mia war schließlich nicht die Tochter einer Berühmtheit gewesen. Sie war nur eine kleine Schlagzeile in der Zeitung. Ein paar Zeilen unter der Rubrik „Lokalnachrichten“. Trotzdem war Polizeichef Ernst Harding als erster am Unfallort und nahm sich persönlich der Ermittlungen an. Viereinhalb Jahre und einige Privatdetektive später wusste Dirk, warum. Ferdinand von der Heide hatte Mia ermordet. Er hatte sie angefahren und einfach liegenlassen. Wie Müll. Dann rief er seinen guten Freund Ernst Harding an, der sich um alles Weitere kümmerte. Schließlich spendete Ferdinand von der Heide beträchtliche Summen an die Polizei. Da konnte man sich die Welt so zurechtbiegen, wie man wollte. Was zählte schon die Leiche einer unbekannten Zwölfjährigen? Hauptsache Ferdinand von der Heide kam heile aus der Sache raus. Dirk wurde immer noch übel bei dem Gedanken. Die Polizei, dein Freund und Helfer.

 

Dirk kehrte in die Gegenwart zurück. Auf zum zweiten Teil seines Planes. Auf dem Nachhauseweg schoss er unbemerkt ein Foto von dem jungen Mann, der ihm gegenüber an der Ampel stand und gedankenverloren vor sich hinlächelte.

 

 

 

Katharina trat aus der Dusche und wickelte sich ein Handtuch um. Dann kämmte sie ihre langen, blonden Haare und lächelte vor sich hin. Der unbekannte Handybesitzer hatte Kontakt zu ihr aufgenommen. Wie Meli schon vermutet hatte, war er einfach nur schüchtern. Er erklärte in einer WhatsApp, dass er froh sei, dass sie das Handy mitgenommen habe. Nie im Leben hätte er den Mut gefunden, sie direkt anzusprechen.

 

Katharina hatte zurückgeschrieben, dass es unfair sei, dass nur er wüsste, wie sie aussieht, sie hingegen keine Ahnung habe, mit wem sie es zutun hatte. Nachdem sie ihn mehrfach gebeten hatte, ein Foto von sich zu schicken, war er endlich darauf eingegangen. Und was sie gesehen hatte, hatte ihr gefallen. Er hatte sanfte, braune Augen, ein schönes, etwas schüchternes Lächeln, dunkle, kurze Haare und war in etwa in ihrem Alter. Er musste sich mit Sicherheit nicht verstecken. Als sie ihm das schrieb, druckste er etwas rum. Schließlich gab er zu, dass ihm nicht nur ihre Schönheit Angst machte, sondern auch ihr Geld. Ihr Vater war ein einflussreicher Mann. Er hingegen besaß quasi nichts, außer dem, was er durch seine Arbeit verdiente. Katharina hatte geschmunzelt und zugegeben, dass ihr Vater viel Einfluss auf ihr Leben habe. Schließlich bezahlte er sämtliche ihrer Rechnungen. Aber ihre Freunde dürfe sie sich immer noch selber aussuchen, hatte sie hinzugefügt. Trotzdem schien der hübsche Unbekannte Zweifel zu haben. Katharina legte sich ins Zeug, ihn zu einem Treffen zu überreden. Diese ganze Sache machte ihr Spaß. Außerdem hatte jemand, der so fantasievoll war, es verdient, sie kennenzulernen. Von Angesicht zu Angesicht. Zögerlich hatte er eingewilligt, sie heute Abend in einer Bar bei ihr um die Ecke zu treffen. Auf ihre Frage, wie er denn hieße, entgegnete er, dass würde er ihr persönlich sagen.

 

 

Katharina summte vor sich hin. Das war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Und eine nette Abwechselung in ihrem sonst eher langweiligen Leben. Selbstverständlich hatte der Unbekannte recht. Papa würde niemals zulassen, dass sie sich mit jemandem abgab, der nicht in der Lage war, Katharina den Lebensstil zu finanzieren, den sie gewohnt war. Mit ihren 24 Jahren hatte sie noch nicht einen Tag lang gearbeitet. Aber das wusste der Typ ja nicht. Und was sprach dagegen, etwas Spaß zu haben. Katharina tuschte sich gerade ihre langen Wimpern, als es an der Tür klingelte. Sie drückte auf die Gegensprechanlage und fragte nach, wer da sei.

 

Der Pförtner antwortete: „Hier steht ein Mann, der sagt, er wolle wenigstens eine Sache richtig machen und Sie persönlich für das Date abholen.“ Katharina lächelte und sagte, er solle ihn hochschicken.

 

 

Der Pförtner legte auf und nickte dem Mann zu. „Sie dürfen hoch.“

 

„Danke“, entgegnete Dirk höflich und betrat den Fahrstuhl. Der Pförtner blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. Er hätte Katharina nicht so eingeschätzt, dass sie sich mit Männern traf, die so alt wie ihr Vater waren. So konnte man sich irren.

 

 

„Die Tür ist offen!“, rief Katharina. „Ich bin gleich fertig.“

 

Kurz darauf betrat sie lächelnd ihr Wohnzimmer. Doch das Lächeln erstarb, als sie sich einem unbekannten, älterem Mann gegenüber sah.

 

„Wer sind sie?“, fragte sie erstaunt.

 

„Es tut mir leid“, entgegnete dieser.

 

Das letzte, was Katharina in diesem Leben tat, war, sich über diese merkwürdige Antwort zu wundern. Dann spürte sie einen heftigen Schmerz. Dann nichts mehr.

 

Dirk blickte auf die sterbende Frau zu seinen Füßen. Er hatte es kurz und hoffentlich auch schmerzlos gemacht. Mit einem langen Messer direkt ins Herz. Er hatte lange recherchiert, wo genau man zustechen musste. Hoffentlich hatte er es richtig gemacht. Er wollte nicht, dass sie leiden musste. Leiden sollte ihr Vater. Er sollte den Schmerz kennenlernen, den Dirk bereits so lange mit sich herumtrug. Den Schmerz, einen geliebten Menschen unwiderruflich zu verlieren. Eine Situation, aus der ihn auch sein ganzes verfluchtes Geld nicht erlösen konnte. Für den Rest seines hoffentlich noch lange andauernden Lebens.

 

 

Als Dirk beim Rausgehen dem Pförtner zunickte, grinste dieser. Hatte er sich doch nicht getäuscht. Katharina stand nicht auf alte Männer. „Du hast es wenigstens versucht, Kumpel“, sagte er leise, bevor er sich wieder seinen Aufgaben widmete.

 

 

 

Auf ihr Klingeln hin öffnete ein Butler die Tür.

 

„Guten Tag. Ich bin Oberkommissar Reife und das ist mein Kollege Hauptkommissar Sterling. Wir würden gerne mit Herrn von der Heide sprechen.“

 

Der Butler trat zur Seite und deutete ihnen an, hereinzukommen.

 

„Wären Sie so freundlich und würden einen Augenblick warten? Ich sage Herrn von der Heide kurz bescheid.“

 

Reife nickte und der Butler verschwand.

 

„Das wird nicht einfach“, seufzte Sterling.

 

„Wann ist so etwas schon mal einfach?“, entgegnete Reife seinem Kollegen. Aber er wusste, was Sterling meinte. Es war allgemein bekannt, wie sehr Ferdinand von der Heide seine Tochter vergötterte. Sie war sein Ein und Alles.

 

„Bitte folgen Sie mir“, machte sich der Butler bemerkbar und ging voraus. Er führte sie in das Arbeitszimmer, wo Ferdinand von der Heide sie bereits erwartete. Er saß hinter einem riesigen Schreibtisch und deutete auf die zwei Stühle, die vor dem Tisch standen. Alles an dem 50jährigen strahlte Macht und Autorität aus. Doch Reife wusste, dass das in ein paar Minuten nicht mehr der Fall sein würde.

 

„Was kann ich für die Herren tun?“ Von Heides Stimme klang kühl und distanziert. Es war klar, dass ihn diese Unterbrechung in seiner Arbeit nicht gefiel.

 

Reife setzte sich und sein Kollege tat es ihm nach.

 

„Ihre Tochter Katharina wurde heute morgen tot in ihrem Appartement aufgefunden. Es tut uns sehr leid.“ Reife wusste, es gab keine angenehme Art, so eine Nachricht zu überbringen. Also sachlich und so schnell wie möglich.

 

Verblüfft blickte Ferdinand die beiden an. „Das muss sich um einen Irrtum handeln. Katharina ist erst vierundzwanzig. Woran sollte sie gestorben sein?“

 

„Sie wurde ermordet.“

 

„Unmöglich.“ Ferdinand schüttelte den Kopf, stand auf und starrte die Polizisten böse an. „Katharina lebt in einer Wohnung, die Tag und Nacht bewacht wird. Niemals könnte sich jemand ungesehen Zutritt verschaffen.“

 

„Es tut uns leid“, wiederholte Sterling und schob Ferdinand von der Heide gleichzeitig ein Foto zu. „Das ist doch ihre Tochter?“

 

Doch die Reaktion des Mannes sagte bereits alles. Er wurde kreidebleich und sackte in seinen Stuhl zurück. Dann griff er nach dem Foto und starrte in das Gesicht seiner Tochter, aus dem jedes Leben gewichen war. „Das … wie … wer … warum“, stotterte er.

 

„Sein Name war Dirk Meier. Er hatte anscheinend eine Verabredung mit ihrer Tochter. So kam er ins Appartement.“ Ein weiteres Foto wurde vor Ferdinand gelegt. Es zeigte einen Mann, etwa Mitte fünfzig, der freundlich in die Kamera lächelte.

 

„Kennen Sie ihn?“, übernahm Reife wieder.

 

Ferdinand schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn noch nie gesehen. Warum sollte sich Katharina mit ihm getroffen haben?“

 

„Das wissen wir noch nicht. Herr Meier wurde ebenfalls tot in seiner Wohnung gefunden. Selbstmord.“

 

„Das ergibt doch alles keinen Sinn.“ Ferdinand von der Heide fuhr sich verzweifelt durch die Haare und blickte die beiden Beamten an. Wie Reife befürchtet hatte, war von der Heide in wenigen Minuten um Jahre gealtert.

 

„Kennen Sie dieses Handy?“ Sterling legte es vor ihn.

 

Ferdinand warf einen kurzen Blick auf das Telefon und schüttelte den Kopf.

 

„Das haben wir in der Wohnung ihrer Tochter gefunden.“

 

„Das gehörte nicht Katharina. Mit so einem billigen Schrottding hätte ich sie nie losgeschickt.“

 

„Es sind Fotos von ihrer Tochter darauf“, fuhr der Beamte fort. „Anscheinend wurden einige Nachrichten gelöscht. Unserer Techniker sind gerade dabei, diese wiederherzustellen. Vielleicht gibt uns das Aufschluss. Was uns nur verwundert, ist ein weiteres Foto, das Herr Meier per WhatsApp an dieses Handy geschickt hat. Das Foto scheint etwas älter zu sein und zeigt nicht ihre Tochter. Auch können wir mit der Beschriftung des Fotos nichts anfangen.“

 

Ferdinand blickte auf das Display, das man ihm hinhielt. Das Foto zeigte ein glücklich lächelndes, etwa zwölfjähriges Mädchen auf einem Fahrrad. Darunter stand: Deine durfte doppelt so lange leben.

 

Das Geräusch, das daraufhin aus Ferdinands Mund drang, hatte nichts Menschliches an sich. Es klang eher wie der Schrei eines verwundeten Tieres.

 

One thought on “Das letzte Foto

  1. Hallo,

    Wie schade, dass zu deiner Geschichte noch niemand ein Kommentar geschrieben hat – aber so bin ich die erste.
    Deine Geschichte ist unglaublich kurzweilig und total auf den Punkt. Das gefällt mir total. Ich könnte mir vorstellen, so eine Geschichte in einer Zeitung zu lesen.
    Ich glaube, das war auch die erste Geschichte, wo die Hauptfigur direkt jemandem von dem Handy erzählt. Dadurch war es total realistisch.
    Ich finde es auch total geschickt gelöst, dass das Handy für jemand zweiten noch eine größere Rolle spielt. Und das Ende gefällt mir dadurch richtig gut.
    Natürlich könnte man das alles noch weiter ausführen, aber gerade weil du das nicht gemacht hast, ist die Geschichte unglaublich erfrischend zu den anderen.

    Ich hoffe, dass hier noch ein paar mehr Kommentare landen.

    Alles Liebe für dich,

    Jenny /madame_papilio (Nur ein kleiner Schlüssel)

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