Ayse..leylaDas offene Geheimnis

  • “Ich verzeihe dir” war das Letzte, das Ayhan zu ihr sagte.
    Sie beugte sich über ihn, sein Kopf in ihren Schoß gelegt. 

    Die Tränen nahmen ihren Lauf.

    “Bitte Ayhan, geh nicht!” flehte Rahime leise, doch es war schon zu spät. Der rote Fleck unter seinem Körper breitete sich immer mehr aus und Ayhans Brustkorb bewegte sich nicht mehr. Rahime drückte ihn fest an sich, denn sie hatte nie gewollt, dass Ayhan stirbt. Ayhan war ihr einziger Freund, er war für sie da, wenn Emir sie mies behandelte. Er war ein wahrer Freund und nun war er tot. Sie konnte nicht glauben, was da geschah. Es war als würde auch ihr letzter Atem aus ihrem Körper weichen. Mit ihm starb ein Teil von ihr.
    Sie spürte nichts mehr, außer die Hände der Polizisten, die ihre Arme fest packten und sie von Ayhan wegzogen. 

    Das einzige was sie in ihrem Schmerz noch wahrnehmen konnte, war dieses extreme After Shave von Emir, ihrem Freund. Es schwebte im Raum wie eine dunkle Wolke, an der sie zu ersticken drohte.
    Es schien als hätte Rahime keine Kontrolle mehr über ihren Körper, sie zitterte am ganzen Leib.

    Und von einem ohrenbetäubendem Lärm zuckte sie plötzlich zusammen und ihre Knie konnten die Masse ihres zierlichen Körpers nicht mehr halten. Sie ließ sich auf den Boden fallen, versuchte die Hände so fest sie konnte auf ihre Ohren zu drücken.
    Es muss aufhören, sofort. Hört auf damit! 

    Sie war sich nicht sicher, ob sie die letzten Worte schrie, flüsterte oder überhaupt aussprach. Jedenfalls hörte der Lärm nicht auf, sie sah zu Ayhan, dann zu den Polizisten, die in der gleichen Position verharrten wie sie selbst.

    Verschlafen und schweißgebadet von dem Traum, der leider vor Jahren auch Realität war, tastete Rahime auf ihrem Nachttisch nach dem klingelnden Handy und sprang erschrocken auf, als sie es fand.
    Es war ein signal rotes Smartphone und es war, als zeigte die Farbe schon deutlich, dass sie es lieber nicht in die Hand nehmen sollte. Aber sie musste es. Nicht nur, weil der Klingelton ohrenbetäubend war, sondern auch weil die Angst gepaart mit Neugierde sie dazu zwang. Mit zitternden Fingern beendete sie die Weckfunktion und ließ das Handy vor Schreck fallen.
    Sie schrie so laut sie konnte. Mit pochendem Herzen schaute sie dem Smartphone nach, das tausende Meter zu fallen schien. Währenddessen wurde ihr schwarz vor Augen und sie drohte ebenfalls in den Abgrund gezogen zu werden. Es fühlte sich an, als würde das Smartphone eine unsichtbare Verbindung zu ihr haben und sie mit sich in die Tiefe ziehen.

    Erst da begriff sie, dass sie dieses extreme After Shave nicht nur im Traum roch, sondern leider auch in ihrer eigenen Wohnung. ER WAR HIER. Ihr Magen zog sich zusammen und ihr wurde auf einen Schlag übel. Die Panik trieb sie in ihr Badezimmer, denn das war für sie immer der sicherste Ort gewesen. Hier konnte sie sich einschließen, ein entspannendes heißes Schaumbad genießen und einfach abschalten. Ja, ihr Badezimmer war ihr Zufluchtsort. Deshalb trieb sie nicht nur die Übelkeit dorthin.
    Doch Emir hatte es geschafft ihr selbst diese letzte kleine Sicherheit zu nehmen, denn was sie da sah, ließ sie schluchzend auf den Boden fallen.

    “Das kann nicht sein! DAS KANN NICHT SEIN!”  war das Einzige was sie hervorbrachte.

    Die Nachricht auf dem Spiegel ließ keinen Zweifel daran, dass die Vergangenheit sie eingeholt hatte.

    “ICH HABE DICH VERMISST – DU MICH AUCH?”

    Auf den ersten Blick waren es ja keine bösen Worte, doch Rahime wusste genau, wie die Worte gemeint waren und noch wichtiger – sie wusste von wem die Worte kamen.

    Das Aftershave, die Nachricht auf dem Spiegel, das rote Handy- es lag klar auf der Hand. Emir musste hinter all dem stecken.
    Bei dem Gedanken an das Handy bildete sich ein großer Kloß in ihrem Hals, der ihr die Luft zum atmen nahm. So sehr sie sich bemühte, er ließ sich nicht herunterschlucken. Die Bilder auf dem Handy schienen ein Wettrennen in ihren Gedanken zu machen. Sie fühlte sich wie in einer Achterbahn gefangen, die sich immer schneller zu drehen schien. Ihr wurde schwindelig, während die Bilder auf dem Handy und der Text auf dem Spiegel sie abwechselnd emotional ohrfeigten.
    “Ganz ruhig. Beruhige dich Rahime”, versuchte sie aus der Achterbahn auszusteigen. Aber war das noch möglich? Der Gurt schnürte ihr die Kehle zu, fesselte ihren Körper sozusagen in dem Sitz. Noch befand sie sich in Runde eins.
    Sie versuchte langsam zu atmen, wischte sich die Tränen weg, nahm ein Abschminktuch und befreite den Spiegel von der Nachricht. Völlig benommen von den Ereignissen der letzten Stunden ließ sie sich erneut auf den Boden sacken. So sehr sie sich auch bemühte aufzuhalten, was ihr Körper loswerden wollte beugte sie sich ihrem Schicksal und ließ geschehen, was geschehen musste. Sie übergab sich. 

    Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatte und langsam die Kontrolle über ihren Körper wieder bekam, zwang sie sich zur Normalität zurückzukehren, immerhin musste sie arbeiten. Sie überlegte zwar kurz sich krank zu melden, aber wollte nicht, dass die Angst und die Panik die Macht über sie hatten. Und ohnehin fühlte sie sich jetzt definitiv nicht mehr sicher Zuhause. 

    Also machte sie sich auf den Weg, aber die Gedanken kreisten sich immer noch um das Erlebte am Morgen. Es war Jahre her und er war doch weggesperrt? Was also könnte er ihr antun? 

    Was er ihr antun könnte? Die Wucht der Erkenntnis traf sie mit einem Schlag, als sie mit ihrer Arbeit als Kellnerin in einem Hotel anfing. 

    Rahime arbeitete seit zwei Jahren in dem Hotel, sie mochte ihre Arbeit. Vor allem aber genoss sie den wunderbaren Ausblick direkt aufs Meer. Das Hotelrestaurant war nicht besonders groß, aber gemütlich. Rahime dachte oft, wenn sie nicht hier arbeiten würde würde sie mit Sicherheit auch gerne auf der hellen, marmorierten Terrasse sitzen und die schöne Sommerluft bei einem Glas Rotwein genießen. Die Abende waren wirklich sehr gemütlich, naja, als Gast zumindest mussten sie gemütlich sein, denn die Leute sahen alle sehr entspannt aus. Und glücklich. Sie liebte die freundlichen Gesichter der Menschen, die sich das ganze Jahr auf ihren hart verdienten Urlaub freuten. 

    Aber am liebsten mochte sie die Frühschichten. Frühmorgens, wenn die Sonne gerade den Mond vertrieb und die hellen Strahlen ihr Gesicht wärmten. Wenn die Vögel erwachten und wie wild um sie herum sprangen, denn sie wussten, Rahime hatte so ein großes Herz, dass sie nicht ertragen konnte, die kleinen Vögel ohne ein Stück Brot davonfliegen zu lassen. Sie liebte den noch morgendlichen kühlen Wind, der ihr Haar sanft umspielte. Sie liebte den Geruch von  gebackenen Pancakes und frisch gebrühten Kaffee. 

    Sie versuchte auch an diesem Morgen ihrer Routine nachzugehen und füllte gerade die Kaffeemaschine mit aromatisch duftenden Bohnen auf. 

    Als sie sich dann umdrehte, um die Kaffeetassen aufzufüllen, die sich auf dem kleinen Silberwagen vor ihr befanden, traute sie ihren Augen kaum.   
    Rahime war sich nicht sicher, ob die Ereignisse der letzten Stunden ihre Gedanken völlig durcheinander brachten oder ob das was sie sah, tatsächlich vor ihren Augen war.

    Denn er stand plötzlich vor ihr. Die Achterbahn hatte die nächste Runde erreicht – Runde 2.
    “LAUF! LAUF SO SCHNELL DU KANNST!!!” schrie ihre innere Stimme. Allerdings blieb sie wie angewurzelt stehen. 

    “Das kann nicht sein, das ist unmöglich”, wisperte sie leise vor sich hin. 

    Rahime war sich nicht sicher gewesen, ob die Loopings der Achterbahn ihre Wahrnehmung trübten, oder ob das wirklich geschah. Doch schon in diesem Moment lächelte er sie an. Sie konnte nichts erwidern, starrte ihn völlig regungslos an. 

    War es sein unschuldiger Blick der sie gefangen hielt? Oder war es die unbekümmerte Art, wie er lachte? Oder wurde sie einfach nur von ihrer Erinnerung festgehalten? 

    Was auch immer ihren Körper und Geist gefangen hielt, war so stark, dass es ihr unmöglich war, sich zu bewegen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie atmete.

    Emre war etwas irritiert oder doch eher fasziniert? Sie sah so wunderschön aus, das lange, schwarze Haar hatte sie zu einem lockeren Zopf gebunden. Ein paar kleine Strähnen umspielten ihr wunderschönes, weiches Gesicht, obwohl sie ihn sauer und zugleich fragend ansah. Warum eigentlich? 

    Normalerweise war Emre eher nicht der Typ, der auf fremde Frauen zuging, doch irgendetwas an Rahime reizte ihn so sehr, dass er seine Chance ergreifen musste. Außerdem spürte er plötzlich so einen großen Drang nach einer schönen heißen Tasse Kaffee. Er stand auf und ging zielstrebig zu ihr.

    Sie stand mittlerweile mit dem Rücken zu ihm, da sie versuchte die Tassen übereinander zu stapeln, allerdings gelang ihr das mehr schlecht als recht, denn ihre Hände zitterten fürchterlich.

    “Guten Morgen”, sagte Emre freundlich.
    Rahime stockte mitten in ihrer Bewegung, nicht als hätte er sie mit Worten angesprochen, sondern als bedrohe er sie mit einer Waffe in ihrem Rücken.

    Sie wusste nicht wie sie reagieren sollte, da war die Erinnerung an damals und an heute Morgen, das Smartphone, der Spiegel. 

    Aber da war so viel Wärme und Liebe in seiner Stimme. Dieselbe Wärme und Liebe, die sie damals zu ihren Taten trieben, die sie dazu brachten ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen nur wegen ihm. Doch irgendetwas unbekanntes in seiner Stimme und in seinem Gesicht verunsicherte sie. Es war diese Unschuld, so als hätten die beiden sich nie gekannt. 

    “Verliere ich meinen Verstand?” fragte sie sich gedanklich. Der bekannte und doch fremde Mann vor ihr sah exakt aus, wie ihr Ex-Freund Emir. Rahime sah ihn völlig entgeistert an. “Das darf nicht wahr sein. Du bildest dir das nur ein, beruhige dich. Es ist unmöglich, dass Emir hier auftaucht und vor allem, dass er so freundlich ist. Außerdem fehlt das markante After Shave.  Aber die Augen, der Mund, die Nase, das Haar und da war es, das kleine Muttermal direkt über der linken Augenbraue. Was zur Hölle geschieht hier?”

    Rahimes Gedanken überschlugen sich. Egal wie, aber sie musste jetzt reagieren.
    “Guten Morgen”, antwortete sie knapp und hastig, um so schnell wie möglich wieder gehen zu können. Sie drehte sich nicht um, sagte nichts weiteres, sondern konzentrierte sich nur darauf weg zu gehen.
    “Was stimmt bei dir nicht? Was ist dein Geheimnis?” fragte Emre sich während er ihr nach schaute. Doch bevor er irgendetwas sagen konnte, verschwand sie hinter einen großen Tür, die wohl zur Küche führte. Eins wusste er ganz genau, er würde nicht locker lassen, bis er herausgefunden hatte, was sie verbergen wollte und warum sie sauer auf ihn war. Was hat er mit ihrer Wut und Verzweiflung zu tun?

    Emre verstand die perplexe Reaktion auf die Begegnung mit ihm nicht. Emre hatte eine sehr gute Menschenkenntnis und den Blick für die Details. Und was ihn am meisten an der unbekannten Schönen anzog war die Art, wie sie versuchte ihr Geheimnis zu verbergen. Und sie musste definitiv ein Geheimnis haben, das spürte er sofort.

    Ständig wich sie seinen Blicken aus und versuchte förmlich vor ihm zu fliehen. Aber er konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Es war, als wäre sie ein Magnet. Er beobachtete sie und sah ihr an, dass die aufgewühlt war, er bemerkte wie ihre Hände zitterten und er spürte auch, wie sie sich zwang ihn nicht anzusehen. Und genau das reizte ihn. Er hatte eine Schwäche für geheimnisvolle Frauen. Und er wusste auch, dass er herausfinden musste was sie versuchte zu verbergen. Und er war sich sicher, dass er das auch auf jeden Fall tun würde. Nicht umsonst erhielt er von seinen Freunden den Spitznamen Sherlock Holmes mit Herz. Wenn jemand irgendwelche Geheimnisse loswerden wollte, vertraute man ihm als Erstes. Denn er war der Typ, dem man auch die tiefsten Geheimnisse anvertrauen konnte. Er strahlte Ruhe und Vertrautheit aus. Seine einzige Schwäche war, dass er sich oft emotional verbunden fühlte. Es war ein Segen und ein Fluch gleichzeitig, denn er konnte dadurch nie wirklich abschalten.

    Rahime bemerkte mit jedem weiteren Arbeitstag, dass Emre ständig ihre Nähe suchte. Er versuchte bei jeder Gelegenheit ein Gespräch mit ihr zu beginnen, während sie es so schnell wie möglich wieder beenden wollte. Sie fragte sich dabei, wie er nur so dreist sein konnte? Nach allem was passiert war tat er plötzlich so, als wären die beiden sich vorher nie begegnet. So als wären sie zwei Fremde. Und genau dieses Gefühl ließ sie nicht los. Er war ihr vertraut, aber doch so fremd. Sie standen sich irgendwie nah, aber waren doch so weit entfernt. Sie konnte ihre Gefühle nicht einordnen. Aber wie konnte so etwas sein? Tappte sie die ganze Zeit im Dunkeln? War er nicht der, für den sie ihn hielt? Und wenn er es doch war, war er wirklich ein so guter Schauspieler? Rahime fühlte sich innerlich zerrissen. Sie wusste weder was wahr, noch was falsch ist. Sie konnte Emre nicht einordnen und das machte ihr Angst. Als sie ihn das erste Mal im Hotelrestaurant sah hatte sie keine Zweifel ihr Ex-Freund würde vor ihr stehen. Doch genau das Gegenteil schien Emre zu beteuern, denn er behauptete ihr vorher nie begegnet zu sein. Zudem hieß ihr Ex-Freund nicht Emre sondern Emir. Und desto mehr sie sich mit Emre unterhielt desto mehr bemerkte sie doch wie sehr er sich von Emir unterschied. Während Emir Rahime so viel schlechtes abverlange, sie zwang Dinge zu tun die sie nie verkraftete und keine Gelegenheit ausließ sie mit seiner “Liebe”, wie er es nannte, zu erdrücken, war Emre so einfühlsam, so liebevoll, so verständnisvoll. Er wurde das Balsam für die Wunde, die sie schon Jahre mit sich herum trug. 

    Rahime beschloss Emre eine Chance zu geben, sie musste herausfinden, wie das alles zusammen passte. Auch Emre bemerkte die Wandlung in Rahime. Es waren kleine Anzeichen, aber das war ja sein Spezialgebiet. Hier schenkte sie ihm ein ganz kurzes Lächeln, da antwortete sie auf eine Frage mehr. Er spürte, dass er langsam zu ihr durchdrang. Er war sich jetzt sicher, dass es Zeit war die Mauern einzureißen. Also ging er aufs Ganze.

    “Rahime, was hälst du davon, wenn wir uns mal außerhalb des Hotels treffen. Also ich meine, wir könnten uns da viel besser, ungestörter unterhalten.” Emres Herz pochte wie wild, obwohl er fast mit der Antwort rechnete.

    “Nein, ich glaube das ist keine so gute Idee.”

    Emre wusste, dass es ihr unangenehm wäre, sich an einem privaten Ort mit ihm, einem fremden Mann zu treffen. Er wusste allerdings, dass am Hafen immer viele Leute waren. 

    “Ich verstehe, wenn dir das unangenehm ist. Vielleicht könnten wir uns am Hafen treffen?” “Ich, ich überlege es mir.” 

    Kurz und knapp und doch überraschend, dachte Emre.

    “Okay. Ich möchte dich zu nichts drängen. Ich werde heute Abend am Hafen sein und würde mich sehr freuen, wenn du auch kommst.”

    Sie wollte nicht mit ihm ausgehen, aber sie musste herausfinden was er von ihr wollte und wer er wirklich war. War er so dreist ihr alles nur vorzulügen? Oder war sie die Verrückte? Welche Rolle hatten beide in diesem fiesen Spiel namens Leben?

    Emre war völlig nervös. Würde sie kommen oder wartete er vergebens? Die Zeit schien nicht zu vergehen, die Minuten zogen sich in die unendliche Länge und mit jeder weiteren Minute stieg sein Blutdruck in die Höhe.
    Und dann kam sie tatsächlich. Sie sah so wunderschön aus. Noch viel hübscher als heute morgen in ihrer Arbeitskleidung. 

    Sie trug das Haar jetzt offen, gelocktes, schwarzes Haar, das bei jedem Schritt, den sie näher auf ihn zukam, wie kleine Marionetten tanzte. Und sein Herz tanzte im gleichen Rhythmus. Der Wind spielte mit dem leichten weißen Sommerkleid, das sie trug. Und seine Gefühle spielten völlig verrückt. Die Abendsonne brachten ihrem Aussehen einen ganz besonderen Glanz. Emre konnte nicht glauben, was er sah, aber zum ersten Mal in seinem Leben konnte er mit Sicherheit sagen, dass er die schönste Frau der Welt sah und die Tatsache, dass sie auf ihn zukam erfüllte ihn mit unendlichem Glück. Genauso musste sich ein Bräutigam fühlen, wenn er erwartungsvoll dabei zu sieht, wie die Liebe seines Lebens direkt auf ihn zusteuerte.

    Er stand auf und kam ihr ein Stück entgegen, vielleicht weil er nicht mehr erwarten konnte ihr endlich näher zu sein. Vielleicht aber auch, weil die Nervosität ihn dazu drang, seinen Körper in Bewegung zu setzen.

    “Schön, dass du gekommen bist” sagte Emre mit ruhiger, liebevoller Stimme.
    Jetzt war wieder diese Wärme, diese Ehrlichkeit in seiner Stimme und in seinem Gesicht.

    Sie lächelte unsicher. Dann setzten sie sich auf eine Bank, die den vielen Touristen und Einheimischen einen kleinen Moment der Ruhe gönnen sollten. 

    Es war eine atemberaubende Kulisse. Kaum war die Sonne hinter dem Gebirge verschwunden glitzerte der Mond und die Sterne im Meer.


    Rahime war sehr nervös denn sie wusste nicht, was sie wirklich erwarten würde.

    Er sah wie immer sehr gut aus. Rahime liebte die Art wie er sich kleidete, so elegant und doch leger.

    Konnte er wirklich ihr Ex-Freund sein? Sie beschloss mit dem Versteckspiel aufzuhören. Sie musste diese Klarheit haben, genau deshalb hatte sie dem Treffen ja überhaupt zugestimmt.

    “Wer bist du?”, war allerdings das Einzige, dass sie stotternd hervorbrachte.
    “Wer ich bin? Ich bin Emre, das weißt du doch”, entgegnete er mit einem unsicheren Lächeln.
    “Nein, ich meine WER BIST DU WIRKLICH? Und was tust du hier? Warum?”, brach sie ab, denn mehr konnte sie ihn nicht fragen. Die Wut, die Trauer, der Schmerz und vor allem die Angst von damals überfluteten sie. Die Achterbahn fuhr mit voller Geschwindigkeit auf den nächsten Looping zu. Sie spürte Emres besorgten Blick, während sie sich bemühte nicht komplett zusammenzubrechen. Emre legte seine Hand sanft auf ihre Schulter und seltsamerweise erschrak sie nicht, sie zuckte auch nicht zurück. Denn diese kleine Berührung gab ihr Mut. Die ganze Situation verwirrte sie so sehr. Sie wollte seine Nähe nicht, denn sie kannte ihn nicht und er erinnerte sie an ihren Ex-Freund und doch genoss sie die Berührung, seine Sorge um sie. Rahime war sich bewusst, dass er ihretwegen hier war und dass er alles versuchte, um sie zu erreichen. Und so sehr sie sich dagegen wehren wollte, desto mehr drang Emre zu ihr durch. Ihr war klar, dass er sie erreicht hatte. So seltsam es auch klang, sie vertraute ihm auf irgendeine Weise, obwohl sie sich vor ihm auch etwas fürchtete. Oder fürchtete sie sich vor sich selbst?

    “Rahime, was ist los?” riss Emre sie aus ihren Gedanken.
    Eine einfache Frage, aber genau diese Frage löste den Knoten in ihrer Zunge, denn sie konnte nicht mehr still bleiben.
    “Was los ist? Ich drehe durch! Ich glaub ich verliere meinen Verstand, Emi.. Emre und ich ich weiß nicht was ich machen soll.” Tränen schossen ihr in die Augen, sie wollte definitiv nicht weinen. Sie wollte nicht mehr länger die verletzliche junge Frau von damals sein. Sie musste stark sein, aber die Tränen waren stärker, sie strömten über ihr Gesicht wie ein riesiger Wasserfall, der nicht mehr aufzuhalten war.
    Emre sah sie besorgt an. In seinem Blick war so viel Traurigkeit zu sehen, dass Rahime sich nur noch schlechter fühlte vor ihm zu weinen. Er sagte erstmal nichts und genau das war das Beste was er sagen konnte. Er wollte ihr Zeit geben. Zeit um den Schmerz zu verarbeiten und Zeit um sich wieder zu sammeln. Zeit um wieder durchzuatmen. Zeit um die Wunden zu verbinden. Zeit um ihn vielleicht Anteil an ihrem Schmerz haben zu lassen. Was auch immer es war, sie musste mit Sicherheit etwas sehr schlimmes erlebt haben. Emre fühlte sich mies, weil er sich dieses Treffen so viel anders vorgestellt hatte und jetzt saß diese wunderschöne Frau neben ihm und weinte. Im Hintergrund spielte ein Straßenmusiker eine langsame, melancholische Melodie auf seiner Geige. Emre starrte ins tiefblaue Meerwasser direkt vor sich und nahm den wunderbaren Duft von frisch gegrilltem Mais wahr, der ihm in die Nase stieg. Ein leichter Windhauch kam ihm entgegen und brachte eine sanfte Brise des blumig-sommerlichen Parfums von Rahime mit. Emre schloss kurz die Augen, um jeden Augenblick einzufangen den er gerade erlebte. Der Ausblick, die Musik, die wunderschöne Frau, alles war so perfekt gewesen. Alles hätte perfekt sein können, zumindest in Emres Fantasie. Das Schluchzen von Rahime riss ihn aus seinen Gedanken. Sie atmete tief durch und blickte ihm in die Augen und genau da wusste Emre, dass er die Mauer durchbrochen hatte. Die Augen waren von ihren Tränen gerötet, aber Emre wusste, dass das nur ein kleiner Hinweis darauf war, wie verletzt ihre Seele war.
    “Hör zu Rahime, es tut mir so leid, dass du das alles erleben musstest. Ich weiß nicht was passiert ist. Und ich weiß auch nicht, was du durchgemacht hast und wegen wem. Aber ich weiß genau, dass ich niemals etwas tun würde um dich zu verletzen.” Emre bemühte sich so viel Mitgefühl wie möglich in seine Stimme zu legen.

    “Wie kann das sein? Wieso siehst du aus wie er? Dieselben Augen, das gleiche Lächeln?”

    Emre war so schockiert, dass ihn die Worte wie eine Ohrfeige trafen.

    “Wie meinst du das? Ich sehe aus wie wer?”

    Rahime holte das signalrote Handy raus und ihr stockte der Atem. Ihr wurde plötzlich eiskalt und sie fühlte sich als gefror ihr das Blut in den Adern. Die Achterbahn hatte die dritte Runde erreicht- hoffentlich auch die letzte. 

    “Was ist los mit dir, Rahime? Du bist so blass. Geht’s dir nicht..”

    Rahime gab ihm das Handy. 

    “Was zum …? Was ist das?”, rang er nach Worten. Er war offensichtlich überrascht. 

    Das war wohl der sichere Beweis, dass er nicht Emir, ihr Ex-Freund, war. Er konnte es nicht sein, denn er war genauso angewidert und genauso überrumpelt von den Bildern und der Textnachricht auf dem Handy. Die Textnachricht, die heute Morgen noch nicht da war.
    Die Bilder zeigten Rahime und einen Mann, der genauso aussah wie Emre selbst. Rahime schlief auf den Fotos und der Unbekannte hielt sie in seinen Armen während er frech in die Kamera grinste. Ein anderes Foto zeigte Rahime in ihrem Badezimmer. Der Fremde knipste ein fröhliches Selfie, während er vor dem Spiegel posierte auf dem die Nachricht geschrieben stand, die sie vor einigen Tagen fand. Ein weiteres Foto, wohl vor Jahren, zeigte die beiden, wie sie sich innig in den Armen hielten und küssten. Es waren etliche Fotos. Emre wurde übel beim Anblick all der Fotos, sodass er gar nicht alle ansehen konnte und wollte. Ihn schockierte nicht nur die Tatsache, dass der Mann auf den Bildern genauso aussah wie er, sondern auch, dass ein anderer Mann Rahime berührte.

    Was aber das Schockierendste war, war die Textnachricht die ihr vor genau 3 Minuten geschickt wurde.

    EIN WORT UND ICH TUE ES WIEDER!

    “Wie kann das sein? Was meint er damit? Wer ist der Typ, Rahime? Woher kennst du ihn und warum sieht er exakt so aus wie ich?”
    “Ich weiß nicht, ich kann das nicht! Es tut mir leid Emre ich muss, ich muss gehen.” Rahime nahm ihm das Handy ab, sprang auf und ehe Emre verarbeiten konnte was gerade geschah war Rahime schon verschwunden.

    Sie kannte den Hafen mindestens genauso gut wie ihr Zuhause und wusste sofort, wo sie hinlaufen wollte. Sie brauchte jetzt etwas Zeit für sich alleine, um ihre Gedanken neu zu sortieren und so wählte die ihren Lieblingsplatz hier in der Nähe des Hafens. Es war schon verblüffend, unten direkt an der Anlegestelle des Hafens waren so viele Menschen, Einheimische aber auch Touristen strömten an diesem wundervollen Ort und ein paar Meter weiter war davon nichts zu sehen. Es war ruhig und wie üblich war kein Mensch hier, genau das brauchte Rahime jetzt. Sie setzte sich auf einen kleinen Steinfelsen und vergrub den Kopf in ihren Armen. Der Wind brachte ihr einen kalten Schauer über den Rücken oder war es vielmehr den Duft den er mit brachte? Dieser vertraute und beängstigende Duft – das After Shave. Als sie plötzlich Hände auf ihrer Schulter spürte wurde sie wieder von der Angst umhüllt, die sie früher ständig spürte. Und vorhin als sie auf das Handy starrte. Und vor einigen Tagen, die Bilder, die Nachrichten. 

    Die Hände auf ihren Schultern fühlten sich an wie glühende Kohlen, die ihre Haut verbrannten. Ihr Herzschlag ging so schnell, dass ihr Brustkorb weh tat. Der Puls pochte in ihren Adern, als wäre nicht genug Platz für die Wucht mit denen die Adern an die Haut schlugen. Sie wusste sofort wer das war.


    “Eine falsche Bewegung und ich knall dich ab! Und glaub mir, dieses mal töte ich dich wirklich, meine schöne Prinzessin.” zischte Emir ihr ins Ohr. 

    Oh mein Gott, er hatte eine Pistole. Panische Angst machte sich bei Rahime breit.
    Der nächste Satz jagte ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper.

     “Glaubst du, ich guck dir seelenruhig dabei zu, wie du mein Bruder vögelst?” seine Stimme klang wie die eines Psychopathen.

    “Dreh dich um, du feiges Miststück.”

    Ängstlich folgte sie seinem Drohen und sah Emir in die Augen. Er war ihr so nah, dass sie sein Atem spüren konnte. Und sie konnte den Wahnsinn in seinem Gesicht sehen. 

    Der Geruch des After Shaves schnürte ihr die Kehle zu oder war es Emirs Hand, die ihren Hals fest umschloss? Sie spürte seinen Puls, oder war es ihr eigener? Das Blut in ihrer Halsschlagader schien nicht mehr zu fließen. Der Wagen der Achterbahn schien an seinem höchsten Punkt angelangt zu sein und mit voller Geschwindigkeit in die Tiefe zu rauschen.. 

    “Hey, lass sie sofort los!”

    Emre tauchte plötzlich hinter Emir auf. 

    Und zu Rahimes Glück löste sich Emirs Griff um ihren Hals. Er schien etwas überrascht von Emres Auftauchen zu sein.

    “Beweg dich keinen Millimeter oder ich knall deine kleine Schlampe ab”, sagte Emir zornig während er die Waffe auf sie richtete.
    Doch die Anwesenheit von seinem Bruder schien ihn wenigstens ein bisschen von ihr abzulenken, denn er drehte sich zur Seite, sodass er Emre beobachten konnte.

    “Was willst du? Wer bist du?” Emre schien völlig durcheinander zu sein.

    “Haben dir unsere achso tollen fürsorglichen Eltern nichts von mir erzählt? Wahrscheinlich nicht, denn sonst hätten sie ja zugeben müssen, dass sie mich verkauft haben!” Den letzten Satz schrie er voller Hass.

    “Erst nimmst du mir meine Familie und jetzt auch noch meine Frau? Du spinnst wohl, hast du wirklich geglaubt ich lass mir das gefallen? Glaubt ihr zwei Bastarde eigentlich ich würde mir alles gefallen lassen? Ich mach dich fertig, Rahime, so fertig wie du mich gemacht hast. Und dass du jetzt auch hier auftauchen musstest”, er richtete das Wort an Emre “Kommt mir gerade recht. Ich hätte eigentlich nicht mehr damit gerechnet, überhaupt jemals einen von euch reichen Schnöseln zu sehen, aber was solls, jetzt wo du schon mal da bist, mach ich euch beide kalt.” Emir lachte förmlich bei seiner durchgeknallten Rede.

    Emre verstand die Welt nicht mehr. Er wusste weder, dass er einen Bruder hatte, wohl einen Zwillingsbruder, da er genauso aussah wie er selbst, noch dass seine Eltern ihn damals abgegeben hatten. Aber jetzt war auch nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Der verrückte Psychopath hielt Rahime immer noch eine Knarre an den Kopf. 

    “Lass sie los, egal was passiert ist!” versuchte Emre Rahime zu befreien.

    “Wieso? jetzt ist wohl endlich die Zeit gekommen, es der kleinen Schlampe heimzahlen! Du hast mich verraten du blöde Kuh! Wegen dir musste ich jahrelang untertauchen! Du hast mir alles genommen und jetzt nehm ich dir alles. Dein erbärmliches Leben zum Beispiel” er lachte laut auf, während er mit dem Lauf der Pistole Rahimes Wange entlangfuhr. Es fühlte sich an wie ein glühender Docht, der ihr nicht über, sondern durch die Haut brannte.

    “Emir bitte lass mich gehen!” flehte sie ihn an.

    Emir lachte nur bitter auf. “Das hättest du gerne, ich werde dich niemals gehen lassen. Du gehörst mir, mir allein, schon vergessen, wir beide für immer und ewig. Hahaha. ” 

    “Emir, bitte. Wir können doch über alles reden. Lass uns”

    “Halt endlich dein dummes Maul, du Miststück. Damals hat dich mein gebettel auch nicht interessiert. Oder das von Ayhan. Wie konntest du nur!”

    Der Satz traf Rahime wie ein Schlag in den Magen, ihr wurde übel. 

    Emir redete so verwirrte Sachen, “ich bring dich um, ich werde dich nicht gehen lassen, ich räche mich..” all das hätte Rahime irgendwie verarbeiten können. Sie schob es auf seine wechselhafte Art, die er schon immer hatte. Oder die vielen Drogen die er konsumierte und die sein Gehirn nach und nach völlig zerstörten.

    Doch dass er Ayhan erwähnte zog ihr den Boden unter den Füßen weg..

    “Du hast ihn umgebracht! Wegen dir wurde er erschossen, nur weil du eins auf Moralapostel machen musstest! DU HAST UNS VERRATEN! Und du weißt genauso gut wie ich, dass nicht nur Ayhan auf dein Konto geht. DU HAST UNSER KIND GETÖTET!!! Und JETZT ist die beste Zeit, dass du dafür bezahlst was du getan hast!”

    “Bitte Emir, hör auf”

    Ihr flehen tat Emre im Herzen weh. Rahime so leiden zu sehen brach ihm das Herz. 

    Rahime war in einem Netz aus Schmerz und Erinnerung gefangen. Was um sie herum geschah nahm sie nur noch wie durch einen dichten Nebel war. Die Erinnerung trafen sie hart und direkt. Sie musste an ihr ungeborenes Baby denken und daran, wie sie ihr unschuldiges Baby töten ließ, denn mit diesem Monster wollte sie keinen Nachwuchs. Sie wollte nicht, dass seine DNA weitergegeben wird. Aber vor allem wollte sie ihr Baby vor ihm beschützen. Was hätte sie auch damals machen sollen. Er zwang sie ja schon Drogen zu schmuggeln und für ihn anschaffen zu gehen. Sollte das gleiche ihrem Baby passieren? Was wäre sie denn für eine Mutter gewesen und schlimmer noch, was wäre er denn für ein Vater gewesen? Sie hatte doch keine andere Wahl, das Baby war nicht einmal aus Liebe gezeugt worden. Nein, er hatte sie vergewaltigt und missbraucht.

    Durch einen ohrenbetäubenden Knall wurde Rahime aus ihren Gedanken in die Realität zurückgeholt. Doch auch dort befand sie sich nicht lange. Sie spürte wie der Abgrund sie in die Tiefe riss. Alles wurde schwarz.

    1 Jahr später

    Rahime sprang erschrocken auf, als sie einen Weckton hörte den sie nicht kannte. Sofort brach Panik in ihr aus. Sie schlug die Decke hastig von ihrem Körper und als sie ein unbekanntes Smartphone auf ihrem Nachttisch sah, blieb ihr Herz stehen. Sie griff nach dem Handy und sah, dass es gar kein Wecker war, sondern ein verpasster Anruf. Langsam beruhigte sich ihr Herz, denn sie begriff, dass es Emres Smartphone war und er nicht rangegangen war, weil er noch unter der Dusche stand. Noch während sie sich beruhigte, ploppte eine Textnachricht auf und sie ließ das Handy vor Schreck fallen. 

    ICH WEIß WAS DU GETAN HAST UND DU WIRST DAFÜR BEZAHLEN

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