Tschulia93Das perfekte Wochenende

Eine Frage der Perspektive

Alex

Als ich den Schlüssel im Schloss drehte und die moderne Glastür nach innen öffnete, wusste ich sofort: Alles würde perfekt sein. Dieses Wochenende. Unser gemietetes Haus. Der Antrag. Ich hoffte innerlich, dass Miriam noch nichts von ihrem Glück ahnte, denn der Urlaubstrip in die Berge war ja unsere gemeinsame Idee gewesen. Ich freute mich noch immer über den Flyer, der in unserem Briefkasten gelegen hatte und uns dieses schöne private Apartment zu einem mehr als vernünftigen Preis angepriesen hatte.

„Wie cool ist das bitte, Schatz!“, kreischte Miriam hinter mir freudig und stürmte mit ihrem riesigen Koffer an mir vorbei in das modernste Gebäude, das ich die letzten Jahre gesehen hatte.

Weiße Marmorfließen säumten die breite Eingangshalle. Riesige, edle Glasvasen und täuschend echt aussehende Kunstblumen in Weiß- und Rottönen werteten den sonst puristisch gehaltenen Raum zusätzlich auf. An den Eingangsbereich grenzte das Wohnzimmer an – natürlich ohne Tür, damit man die volle Fläche des Hauses bestaunen konnte – und dahinter erkannte ich bereits den Whirlpool und den Swimming Pool im Garten. Ja, es war wirklich perfekt.

„Und das alles gehört uns ein ganzes Wochenende lang!“, jubelte Miriam weiter, während sie die Treppen nach oben rannte, um sich das Schlafzimmer mit Blick auf das Alpenpanorama anzusehen.

Ja, es wird das perfekte Wochenende sein, dachte ich mir und umfasste die kleine Ringbox in meiner Jackentasche, während ich auf dem zweiten Bett im Wohnzimmer Platz nahm und die Aussicht genoss.

 

Emily

„Das perfekte Wochenende für Rache.“, murmelte Emily vor sich hin, während sich vor dem Bildschirm auf- und ablief.

Sie hatte das gesamte Haus mit Kameras ausgestattet, um den richtigen Moment abzupassen, wenn sich dieser Penner und seine Freundin nicht im selben Raum aufhielten.

Dann würde sie ihren jahrelang geschmiedeten Racheplan endlich in die Tat umsetzen und sein Leben für immer zerstören. So wie er ihr Leben für immer zerstört hatte. Ein Glück, dass sie es geschafft hatte, ihren Freund Lukas dazu zu überreden, an diesem Wochenende mit seinen Freunden an den Gardasee zu fahren. So war das Haus frei. Frei für alles, was sie mit diesem widerwärtigen Kerl vor hatte.

„Nun lasst uns mit den Spielchen beginnen…“, lachte sie heimtückisch, während sie ein Tuch in Chloroform tränkte. „Für dich, Laura. Nein, für uns.“

 

Unangenehme Erinnerungen

Alex

Von der langen Anreise war Miriam etwas verschwitzt und wollte sich unbedingt nochmal abduschen, bevor es zur Belohnung in den Whirlpool gehen sollte. So ganz verstand ich diesen Frauenkram ja nicht, aber im Grunde spielte es auch keine Rolle.

„Ich spring schon mal in den Whirlpool, wenn’s dich nicht stört, Maus?!“, rief ich daher nach oben.

Nur Sekunden später kam die Antwort herunter geschallt: „Klar, mach ruhig!“

Also schlüpfte ich blitzschnell in die aus meinem Koffer gesuchten Badeshorts, öffnete das weite Panoramafenster, das zeitgleich auch als riesige Balkon-Schiebetür fungierte und trat hinaus ins Freie. Die Sonne strahlte auf mich herab und tauchte das tiefgrüne Gras des gepflegten Gartens in ein wunderbares Licht. Es war zu schön, um wahr zu sein. Daran würden Miriam und ich uns sicher noch lange erinnern.

In dem Moment sah ich etwas Funkelndes am Rande der Terrasse liegen. War das ein Handy, das die Sonne reflektierte? Neugierig geworden ging ich einige Schritte näher und hob das Gerät hoch. Es wirkte etwas älter, hatte zwar keine Gebrauchspuren, war aber sicherlich nicht das neueste Modell.

Ich beschloss nach Hinweisen zu suchen, die mir dabei helfen könnten, den Besitzer oder die Besitzerin zu ermitteln. Ein Glück, das Gerät war nicht gesperrt und hatte auch kein Freischaltmuster. Das erste Symbol, das mir ins Auge stach, war die Galerie. Nichtsahnend öffnete ich sie. Beinahe wäre mir in dem Moment das Handy aus der Hand gefallen, als ich die Bilder – sortiert nach verschiedenen Orten – erkannte. Einkaufen, Im Garten, Arbeit, Sport, … und alle zeigten sie dieselbe Person: Mich.

Ich konnte nicht anders und musste mich schütteln. Es lief mir gerade eiskalt den Rücken hinunter. Das war nicht möglich. Dieses Handy gehörte weder Miriam noch mir. Und doch waren Bilder von mir beziehungsweise von uns darauf zu sehen. Ich musste träumen! Das war doch alles ein schlechter Scherz. So viele eigentlich private Momente meines Lebens, plötzlich dokumentiert. Und ich hatte nichts davon mitbekommen?

Die Bilder vom Wocheneinkauf bei unserem kleinen Lieblingssupermarkt um die Ecke, von uns, glücklich im Garten herumalbernd, von mir auf dem Weg zur Arbeit, sogar im Fitnessstudio. Das alles war so surreal, das ich es nicht begreifen konnte – oder wollte. Ich fühlte mich in meine Vergangenheit zurück katapultiert. Nur, dass diesmal nicht ich derjenige war, der die Fotos machte, sondern derjenige, von dem die Bilder geschossen wurden. Aber das alles hatte ich doch mit einer Therapie längst hinter mir gelassen!

Ich verlor so dermaßen die Fassung, dass ich selbst nicht mehr wusste, was ich tat. Denn ehe ich mich versah, hatte ich das Gerät durch den Garten geschleudert, wo es an einem Baum hinter dem Gartenzaun zerschellte.

 

Das böse Erwachen

„So ein Quatsch. Ich spiel schon verrückt. Das ist es. Der Antrag macht mich einfach nervös.“

Mit diesen Worten wandte ich mich aufgeschreckt, aber auf dem Weg der Beruhigung, wieder dem Whirlpool zu.

Mit nur einem Klick aktivierte ich die Wellness-Funktion und glitt vorsichtig in das angenehm temperierte Wasser, das nun große Blubberblasen warf. Hach, wie herrlich. Nun fehlte nur noch Miriam. Dann würde ich auch ganz schnell dieses seltsame Handy wieder aus dem Kopf bekommen. Wer zum Teufe hatte mir hinterher spioniert? Und warum lag das Handy ausgerechnet hier auf der Terrasse?

Bevor ich weiter grübeln konnte, hörte ich schon Miriams Schritte aus dem Wohnzimmer.

„Das ging aber schnell, mein Schatz! Du konntest dem Whirlpool wohl doch nicht so lang widerstehen, was?“, scherzte ich, ohne mich umzudrehen.

Und das war der vermutlich zweitgrößte Fehler meines Lebens: Denn hätte ich mich umgedreht, wäre mir vermutlich alles Nachfolgende erspart geblieben. Das mit Abstand schrecklichste Wochenende meines Lebens. Von der Perfektion zum Horror – in nur wenigen Augenblicken, als ich das klamme Tuch auf meinem Mund spürte und es trotz meiner gut gebauten Statur nicht schaffte, der schlanken Person hinter mir jenes Tuch zu entreißen, bevor ich in die Dunkelheit der Ohnmacht hinab glitt.

 

Kopfschmerzen. Das war das erste was mir in den Sinn kam, als ich wieder zu mir kam. Und zugleich traute ich mich nicht, meine Augen zu öffnen. Hatte ich doch zu viel Angst vor dem, was mich erwartete. Wer hatte mir dieses verdammte Tuch vor den Mund gehalten? Und wo war Miriam?

Langsam öffnete ich meine Augen.

„Ach ja, wen haben wir denn da! Der verdammte Penner ist auch endlich mal wach!“, ich hatte sie noch nicht einmal gesehen, da hatte ich Emilys Stimme bereits wiedererkannt.

In dem Moment, als ich mein Gegenüber dann auch noch bildlich vor mir sah, wurde ich schlagartig fünf Jahre in die Vergangenheit zurück katapultiert.

 

Es war jener Tag im Sommer 2015. Die Sonne ging langsam aber sicher unter. Wieder einmal lauerte ich der Laura hinter einem Gebüsch auf. Ich konnte einfach nicht anders. Sie war so bildschön und ich musste sie endlich davon überzeugen, dass ich der Richtige für sie war. Ihr blondes, welliges Haar wehte leicht im Wind, als sie in Richtung einer Ampel lief – vermutlich um nach Hause zu gehen.

Da passierte mir zum ersten Mal in meiner langen Zeit als Stalker ein Fehler: Ich trat auf ein laut raschelndes Etwas unter meinen Füßen. Verdammt, eine leere Dönerpackung! Natürlich inklusive Alufolie, für die Extraportion Lautstärke. Welcher Idiot hatte hier nur seinen Müll entsorgt?

In diesem Moment drehte sich Laura so rasch um, dass ihr die Haare in das schlanke Gesicht schlugen und die himmlisch blauen Augen bedeckten, in die ich mich so verliebt hatte. Entsetzt sah sie mir mitten ins Gesicht. Natürlich hatte sie mich schnell hinter dem Busch entdeckt – trotz der langsam einsetzenden Dämmerung.

„Nein. Nicht du schon wieder. Lass mich in Frieden, Alex!“, schrie sie mir entgegen, ehe sie sich umdrehte und losrannte.

Weg von mir, dem schlimmsten Unfall ihres Lebens entgegen. Dem letzten Unfall ihres Lebens. Denn just als sie einen Fuß auf die Straße setzte, bretterte ein Möchtegern-Macho mit seinem BMW mit viel zu hoher Geschwindigkeit dort entlang – und erwischte Laura trotz Vollbremsung frontal.

Mein Herz setzte einen Moment aus. Obwohl ich nicht hingesehen hatte, reichten das Bremsgeräusch, der Aufprall auf der Motorhaube und das Splittern von Glas, um mich noch monatelang von diesem Schreckensmoment träumen zu lassen.

Mein Gehirn schien nicht mehr zu funktionieren. Dafür übernahmen meine Füße die Kontrolle, ohne dass ich ein Mitspracherecht hatte. Ich rannte und rannte und rannte. Ohne noch einmal zurückzusehen.

 

„Emily.“, keuchte ich mit trockener Stimme.

„Schön, dass du mich noch erkennst … MÖRDER.“, begrüßte sie mich.

Zeitgleich erkannte ich, dass wir nicht allein im Raum waren. Miriam war auch hier. Gefesselt an einen Sessel im Wohnzimmer blickte sie mich entsetzt und verwirrt zugleich an: „Mörder? Was redet diese Frau da, Alex?“

„Sag ja nicht, die Süße kennt dein dunkles Geheimnis gar nicht, Alex Schätzchen?“, verspottete Emily die verwirrte Miriam hämisch. „Oder sollte ich besser sagen: Du Stalker?“

„STALKER?“

Für Miriam ergab gerade nichts einen Sinn, das konnte ich ihrem Blick entnehmen.

„Schatz, hör zu, …“

Doch ich sollte nicht zu Wort kommen. Wutentbrannt brüllte Emily: „NICHTS DA, ‚SCHATZ HÖR ZU‘! Sie wird genau erfahren, was Laura durchmachen musste!“

„Lass Miriam da raus, das ist eine Sache zwischen uns beiden!“, ächzte ich mit nach wie vor trockener Kehle.

„Das hättest du wohl gerne. Du Perversling konntest ja deine Spinnereien auch nicht für dich ausleben. Und jetzt wirst du spüren, wie sich das anfühlt.“

Miriam guckte uns beide immer noch abwechselnd mit fragendem Blick an. Erst jetzt realisierte ich, dass sie mit eng zusammengeschnürtem Kabelbinder gefesselt war. Emily hatte es wohl für ausreichend erachtet, ihr die Hände und Füße zusammen zu binden – im Gegensatz zu mir, der mit Kabelbindern an die vier Enden des Bettpfostens im Wohnzimmer gebunden war, was mich komplett bewegungsunfähig machte.

„Du sollst wissen, warum du sterben musst, Miriam.“, wandte sich Emily nun an sie. „Ich kann dich leider nicht aus der Sache raus lassen. Du hast dich in den falschen Mann verliebt, Süße.“

„Was willst du von mir? Was hat Alex dir denn getan?“, schrie Miriam panisch.

„Nun gut, wenn du es unbedingt wissen willst …“

 

Die unbequeme Wahrheit

Emily

Unruhig schritt Emily im Raum auf und ab. Sie war jetzt schon viel wutentbrannter, als sie es sich ausgemalt hatte. So lange schmiedete sie nun schon diesen Plan und dennoch hatte sie ihre Wut über diesen Alex einfach nicht unter Kontrolle bringen können. Aber bald – schon ganz bald – würde sie die wohlverdiente Rache in die Tat umsetzen.

„Dein Freund hier hat meine Schwester umgebracht.“, sagte sie trocken.

„Sie lügt!“, hörte sich Emily diesen Idioten verteidigen.

Mit einem eisigen Blick brachte sie ihn zum Schweigen.

„Nun gut, er war nicht derjenige im Auto, der Laura letztendlich erfasst hat, aber er ist Schuld, dass sie vor lauter Panik auf die Straße gerannt ist. Dein toller Freund, Miriam, hat meine Schwester verfolgt – monatelang. Bis sie ihn auf frischer Tat ertappt hat .Und sich dabei so erschrocken hat, dass sie das herannahende Auto nicht gesehen hat, als sie vor ihm fliehen wollte.“

Die nächsten Sekunden des Schweigens fühlten sich für Emily wie eine Genugtuung an. Sie genoss den abwertenden und entsetzten Blick, den Miriam diesem Penner zuwarf. Bittersüße Rache ganz nach ihrem Geschmack. „Und ich muss sagen, dass ich überrascht bin, wie früh er das Handy entdeckt hat.“

Ja, sie wollte den Keil noch weiter zwischen die beiden treiben.

„Was ist das hier für ein falsches Spiel?“, fragte Miriam mit einer Mischung aus Angst und Wut in der Stimme. „Welches Handy? Was verheimlichst du mir?“

„Ja, welches Handy, Alex?“, wandte Emily ihren Blick an den gefesselten und ziemlich verzweifelten Mann.

 

Alex

Ich war ratlos. In wenigen Minuten hatte Emily alles zerstört. Selbst wenn Miriam und ich hier wieder heil heraus kämen, so wäre unsere Beziehung vermutlich unwiederbringlich ruiniert. Sollte ich versuchen, Schadensbegrenzung zu betreiben? War das überhaupt möglich – bei meiner Vorgeschichte?

„Vorhin habe ich, bevor ich in den Whirlpool gestiegen bin, ein Handy gefunden. Dort waren Bilder von uns beiden und mir allein… abgespeichert in diversen Kategorien wie Zuhause, Garten, Arbeit, Sport. Ich nehme an, du hast uns gestalkt, Emily?“, erklärte ich und wandte mich mit meiner abschließenden Frage an Emily.

Noch ehe sie antworten konnte, kam ihr Miriam zuvor: „Du hast ein fremdes Gerät gefunden, auf dem Bilder von uns zu sehen sind und mir nichts davon gesagt? Was zum Teufel ist hier los?!“

„Es reicht! Es ist genug geklärt. Jetzt geht der Spaß los. Na ja, zumindest für mich…“, lachte Emily hämisch. „Erst einmal solltet ihr sehen, dass keiner eurer intimen Momente je wirklich intim war. Da Alex ja leider das Smartphone gegen den Baum geschmissen hat, muss ich auf die Sicherungskopien der Fotos auf meinem Laptop zurückgreifen.“

Emily griff nach einer Fernbedienung, drückte einen Knopf und eine Beamerleinwand fuhr von der Decke herab. Das wäre sicher schön gewesen, um den Abend und den erfolgreichen Antrag ausklingen zu lassen. Wenn hier alles ein ganz normales, perfektes Wochenende geworden wäre.

Automatisch startete eine Bildershow. Doch nicht, wie man das vielleicht in gemütlichen Familienrunden kennt, wenn die Fotos von früher raus gekramt werden und man gemeinsam, teils lachend, teils peinlich berührt, andere Familienmitglieder und sich selbst bestaunt. Nein, diesmal startete mein größter Albtraum. Denn ich musste erkennen, dass Emily uns scheinbar schon lang beschattete. Selbst unser erstes Date im Kino hatte sie abgelichtet. Sie war eine Reihe hinter uns gesessen. DIREKT hinter uns. Es war so unheimlich, dass mir im Nachhinein nun noch ein Schauer den Rücken hinunter lief.

Unser Umzug in die erste gemeinsame Wohnung, sogar die Besuche bei unseren Eltern waren – wenn auch aus Distanz – bildlich abgelichtet. Ich war sprachlos. Ebenso schien es Miriam zu ergehen, die nun nur noch leise schluchzend auf dem Sofastuhl saß und für die sich jedes dieser schrecklichen Bilder wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen musste.

Das ganze ging eine gefühlte Ewigkeit. In Wahrheit hatte ich schlichtweg kein Zeitgefühl mehr. Es hätten 15 Minuten, aber auch schon 5 Stunden vergangen sein können. Doch dann war die Bildershow zu Ende und Emily stand gefährlich langsam und grinsend auf.

„So. Nun durftest du selbst erleben, was du Laura angetan hast. Zumindest für einen kurzen Moment.“, sagte Emily leise und bedacht, ehe sie sich im nächsten Moment blitzschnell zu mir umdrehte und mich anbrüllte: „Und wie gefällt es dir, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen?“

Ich brachte kein Wort über meine Lippen. Nicht, weil ich sie mich eingeschüchtert hatte – nun ja, vielleicht ja auch ein wenig – aber vielmehr, weil ich Angst vor dem hatte, was sie mit Miriam und mir noch vorhatte.

 

Es beginnt …

Emily

„Da du dich damals für das Stalken entschieden hast, ist es nun wieder an der Zeit, Entscheidungen zu treffen. Und zwar wie deine zuckersüße Freundin Miriam sterben soll.“ , lächelte Emily diabolisch.

Es war so eine Genugtuung die entsetzten, schockierten Blicke zu sehen. Natürlich würde er keine Wahl treffen wollen. Aber dafür hatte sie ja auch Plan B.

„Natürlich weiß ich, dass du mir wahrscheinlich keine Antwort geben wirst. Aber sobald du schweigst, werde ich automatisch die schlimmere Variante bevorzugen.“

Sie drehte sich um und deutete auf ihre Gesäß-Hosentasche, wo Alex vermutlich gerade die Umrisse der Pistole erkannte – das vermutete Emily zumindest anhand seines noch erschrockeneren Blickes.

„Nun gut. Es wäre zu einfach dich vor die Wahl zu stellen: Gift oder Messer. Deshalb werde ich dir immer zwei Optionen nennen, die nichts mit der Foltermethode zu tun haben. Und du dann wirst du die Überraschung sehen. Aber keine Angst. Unser Spiel beginnt Schritt für Schritt. Diene ersten Entscheidungen werden Miriam nicht töten …“, mit diesen Worten schritt sie um Miriam herum und streichelte ihre Wange, welche sich angewidert wegzudrehen versuchte. „Aber sie mehr oder weniger stark verletzen. Erst in Runde vier wird es richtig spannend.“

„Du bist so krank. Warum tust du ihr das an? Sie ist unschuldig!“, wetterte Alex ihr entgegen.

Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, spürte aber zugleich auch wieder die Wut in sich aufkochen.

„Warum ich das tue? Willst du es sehen? Willst du?!“, brüllte sie, außer sich vor Wut.

Mist, sie verlor schon wieder die Kontrolle. Reiß dich zusammen, Emily. Wut macht dich angreifbar. Vielleicht durchkreuzt sie sogar deinen Plan.

Deshalb holte sie nun langsam das Bild aus ihrer Hosentasche heraus. Bedächtig schritt sie näher an Alex heran und hielt es ihm vor die Nase. Als er zu würgen begann und sich wenige Sekunden später auf sich selbst erbrach, war sie stolz auf sich, es geschossen zu haben. Obwohl es ihr damals unendliche Überwindung gekostet hatte.

Alex

Der Anblick von Lauras Körper – oder vielmehr dem, was nach dem Unfall davon noch übrig war – hatte mir in dieser Situation den Rest gegeben. Da lag ich nun, in meinem eigenen Erbrochenen und musste bald entscheiden, wie meine Freundin sterben sollte. Und als wäre es noch nicht erniedrigend genug, fing Emily erneut an: „Und das ist noch nicht alles.“

Sie schob die Ärmel ihres langärmligen Shirts nach oben und entblößte eine Vielzahl an vernarbten Strichen auf beiden Unterarmen. Ich vermochte sie nicht zu zählen.

„Ja, du hast mich dazu getrieben, mich umzubringen. Du verdammtes Arschloch. Beim vierten Mal hätte es auch fast geklappt. Aber dann habe ich mich dazu entschieden, zu leben. Weiter zu leben und dir das Leben zur Hölle zu machen! Und jetzt hau ab mit der Frage, warum ich das tue!“

Obwohl sie mir heftige Worte an den Kopf knallte, blieb Emily erstaunlich ruhig. Vier Selbstmordversuche. Wollte sie deshalb auch vier Runden mit uns „spielen“? In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken, Fragen und Fluchtpläne.

„Aber nun zu Runde eins. Entscheidest du dich für die 6 oder die 8?“, fragte sie mich mit kühler Stimme.

6 oder 8. War es Zufall, dass der 6. August Lauras Geburtstag gewesen war? Vermutlich nicht. Emily schien alles genau geplant zu haben.

„Wenn es dich beruhigt: In Runde eins ist nur einer der zwei Gegenstände schmerzhaft für deine Miriam. Wir wollen schließlich harmlos anfangen. Solltest du dich für keine Zahl entscheiden, wähle ich automatisch den schmerzhaften.“

Ich schluckte. Sah zu Miriam. Sie hatte mich keines Blickes mehr gewürdigt und scheinbar bereits mit ihrem Schicksal abgeschlossen.

„Lass uns hier raus, verdammt nochmal!“, war alles, was mir entwich – und das nicht einmal in dem ernsten Tonfall, den ich geplant hatte, sondern eher wimmernd und jämmerlich.

„Falsche Antwort.“, sagte Emily und griff in ihre Hosentasche, aus der sie eine Rasierklinge hervorholte.

 

Hilflosigkeit

Bedrohlich kam sie auf Miriam zu, die nun – vor lauter Panik wie gelähmt – den Mund zu einem stummen Schrei öffnete. Ihre Fesseln waren allerdings so streng gezogen, dass sie sich nur noch tiefer ins Fleisch schneiden würde, wenn sie sich wehrte.

„Nein, bitte lass sie! Emily, bitte!“, flehte ich jämmerlich. Vergebens.

Als die Rasierklinge Miriams Haut zum ersten Mal durchschnitt, schrie meine Liebste qualvoll auf. Tränen rannten ihr die Wange hinab, als das Blut hervorquoll. Und alles, was mir blieb, war immer wieder lauthals, vergebens und vor allem machtlos „NEIN!“ zu brüllen.

Es waren schnelle, präzise Schnitte. In kürzester Zeit konnte ich erkennen, was sie für einen Namen in die Haut meiner Freundin ritzte: Laura. Bereits beim Buchstaben U hatte Miriam aufgehört zu schreien und war wie in eine Art Trance verfallen. Ich wusste nicht, was geschehen würde, falls wir hier je wieder lebend heraus kamen. Um ehrlich zu sein hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Da kam mir eine perfide wie peinliche Idee.

„Hilfe!“, schrie ich lauthals, als könne uns hier jemand hören. „Hilfeee!“

Blitzschnell drehte Emily sich zu mir herum.

„Sei still oder wir machen direkt mit Runde vier weiter!“, fauchte sie mich an.

Augenblicklich schwieg ich.

„Du hast es ja nicht anders gewollt. Lassen wir den Kinderkram und machen mit Runde 3 weiter. Autsch, das wird weh tun, liebe Miriam.“

Erneut streichelte sie Miriam die Wange, die zu nichts mehr im Stande war, außer auf ihren blutenden Unterarm zu starren.

„Nun, Alex… wofür entscheidest du dich diesmal: Schokolade oder Erdnussflips?”

Wieder lief mein Gehirn auf Hochtouren. Schokolade oder Erdnussflips. Schokolade: Lauras Lieblingssüßigkeit. Erdnussflips hatte sie nicht ausstehen können, noch dazu wegen ihrer Nussallergie.

„Alle Entscheidungen, die du mich treffen lässt, haben etwas mit Laura zu tun, richtig?“, begann ich schließlich. „Der 6. August ist ihr Geburtstag. Schokolade hat sie geliebt, Erdnussflips gehasst und war ohnehin allergisch.“

„Schlaues Köpfchen.“, grinste sie mich an. „Aber wofür entscheidest du dich?“

Ich wusste nicht, was ich tun sollte. War das alles überhaupt meine Entscheidung? Oder würde Emily ihren Plan ohnehin durchziehen, egal wofür ich mich entschied?

„Was bringt mir die Entscheidung? Du wirst Miriam doch eh weh tun.“

„Aber du kannst dich entscheiden, ob ich ihr qualvoll mit einer rostigen, alten Säge den Finger abschneide oder sauber mit einem scharfen, frisch gereinigten Messer.“

Da sich Emily vor Miriam gestellt hatte, konnte ich nicht sehen, wie sie reagierte. Ich merkte nur, wie mein Herschlag sich ins Unendliche beschleunigte. Finger abschneiden. Messer. Säge. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vermutlich hatte ich einfach nur einen schrecklichen Albtraum. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich wach zu werden.

„Schokolade oder Erdnussflips, Alex?“, fragte mich Emily eindringlich. „Sonst wird es die rostige Säge.“

„Es tut mir so leid, Miriam.“, wimmerte ich. Und presste schließlich mühsam „Schokolade“ hervor.

Emily lachte. „Sehr schön. Die Säge. Damit habe ich auch viel mehr Spaß.“

Nun rührte sich etwas in Miriam. Panisch riss sie die Arme hin und her und versuchte den Stuhl zum Umfallen zu bewegen.

„Ah, ah, ah, meine Süße. Lass das mal lieber sein. Wir wollen doch nicht, dass DU dir wehtust, oder? Das ist schließlich meine Aufgabe.“

Mit diesen Worten verschwand Emily in Richtung Keller.

„Scheiße.“, nuschelte ich. „Verdammte Scheiße. Es tut mir so leid, mein Schatz.“

Miriam sagte nichts. Sie würdigte mich keines Blickes und weinte weiter still und leise vor sich hin. Es war vorbei. Meine Freundin wurde gebrochen. Von meinem größten Albtraum: Einer traumatisierten Frau, für deren Trauma ich selbst verantwortlich war.

 

Tödliches Ende

Lukas

„Was zum … ?“, fragte sich Lukas, als er die grausigen Schreie aus dem Haus hörte, das er sich von seinem hart ersparten Geld gekauft hatte und über die Sommermonate an reiche Schnösel vermietete, die gerne Urlaub in den Alpen machten.

Wer sollte denn überhaupt im Haus sein? Es war doch unvermietet dieses Wochenende. Denn eigentlich wäre er ja nun am Gardasee und hätte ohnehin keine Schlüsselübergabe machen können. Die einzige, die einen Schlüssel hatte, war … Emily!

Doch der Schrei war eindeutig nicht ihre Stimme. Dennoch kramte er hektisch nach dem Hausschlüssel. Seine Finger waren nun so zittrig, dass er ihn nur mit Mühe und Not ins Schloss gesteckt und umgedreht bekam. Er hätte mit vielem gerechnet. Vielleicht mit einem Paar, das sich irgendwie eingeschlichen hatte und es im Garten trieb. Oder einem Einbrecher, der sich irgendwie schrecklich weh getan hatte. Aber nicht mit der folgenden Szene. Seine Freundin Emily stand dort, im Wohnzimmer. Bewaffnet mit einer rostigen, blutigen Säge. Vor ihr eine gefesselte Frau, die Lukas nicht kannte. Deren Unterarm blutüberströmt war. Und der Zeigefinger gerade auf den Marmorboden hinab fiel.

Lukas wusste nicht, wer in diesem Moment verdutzter drein schaute: Emily oder er selbst.

„E-E-Em…“

Nicht einmal ihren Namen brachte er heraus.

 

Emily

„Was tust du denn hier?“, entfuhr es Emily schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit, ehe sie nur noch ein „verdammt, verdammt, verdammt!“ herausbrachte. Wäre es wirklich ihr Freund Lukas, der ihren perfekten Plan durchkreuzen würde?

„Emily, w-w-was ist da-das hier? Ich rufe die Polizei!“

„Ja, bitte helfen Sie uns. Diese Frau ist wahnsinnig!“, rief ein Mann, der ans Bett gefesselt war.

„So wird es nicht enden!“, kreischte Emily, spurtete zum Schrank, auf dem der Fernseher stand und zog blitzschnell eine Flasche Glasreiniger heraus, die sie direkt aufschraubte. Ehe jemand die Situation überriss, drückte sie die Flasche an Miriams Mund und ließ die Flüssigkeit hineinlaufen. „Runde 4 übernehme ich für dich, Alex!“, brüllte sie währenddessen.

Gluckernd und spuckend versuchte Miriam, die ätzende Flüssigkeit auszuhusten. Doch da war Lukas bereits am Zug und stürmte auf die beiden zu. Emily wusste, dass sie verloren hatte.

„Warte. Ich gebe auf.“, log sie.

Lukas hielt inne. Dann geschah das Unausweichliche: Ihr Plan B. Es würde schwer werden, doch sie wollte es durchziehen. Sie führte die Flasche nun so schnell sie konnte an ihren eigenen Mund und nahm einige große Schlucke daraus. Sekunden später lag sie krampfend und sich erbrechend auf dem Fußboden. Aber immer noch den Gedanken im Hinterkopf, dass ihr Racheplan zumindest zum Großteil funktioniert hatte. Einzig Lukas‘ schockierter Blick und die Hand auf ihrer Wange, während er den Notarzt rief, waren nun wirklich nicht das, was sie als letztes in ihrem Leben sehen wollte.

 

Einige Wochen später

Alex

„Es tut mir leid, dass Miriam sich von dir getrennt hat.“, meinte Lukas und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Ach was.“, entgegnete ich mutlos. „Ich denke, ich hab’s nicht anders verdient. Einem Stalker wie mir musste man einfach eine Lektion erteilen.“

Damit warf ich die kleine Ringbox von der Brücke, auf der Lukas und ich standen, in den Fluss darunter.

„Quatsch. Du warst doch in Therapie! Und wirklich niemand konnte ahnen, welche Rachepläne Emily geschmiedet hat. Nicht einmal ich als ihr Freund habe mitbekommen, wie sie die Website des Reisebüros erstellt und euch den Flyer eingeworfen hat. Ich habe mich so in ihr getäuscht. Ich bin so froh, dass ich Miriams Tod noch rechtzeitig verhindern konnte. Auch …“ Er zögerte einen Moment. „Auch wenn sie mir dennoch sehr fehlt. Die Beerdigung war schrecklich.“

In der Tat hatte Miriam ihr Leben Lukas zu verdanken, der gerade noch rechtzeitig gekommen war. Doch Emilys Tod war durch das Reinigungsmittel schnell besiegelt gewesen, welches sie zusätzlich mit Medikamenten gemischt hatte – das hatten zumindest die Ärzte erzählt.

Und obwohl es irgendwie beruhigend war, zu wissen, dass diese Psychopathin nicht mehr in der Welt herum laufen würde, so tat sie mir dennoch unendlich leid. Denn ich war es gewesen, der sie zu dem gemacht hatte, was sie bis zu ihrem Tod gewesen war. Somit geschah es mir vermutlich recht, dass ich nun ohne Miriam weiter leben würde müssen und erneut in therapeutischer Behandlung war. Vielleicht ja für den Rest meines Lebens …

Emily hatte Recht gehabt: Mein Spiegelbild war kein schöner Anblick.

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