DeniseHuDas Polaroid

Es regnete an diesem kühlen Oktobermorgen. „Von wegen Goldener Herbst“, sagte Matthias Beck zu sich selbst, während er sich eine Tasse Kaffee eingoss. Das Wetter war seit Tagen so, wie er sich fühlte. Einfach miserabel.

Es war Samstag, der 05. Oktober 2019. Der erste Samstag im Monat und somit auch der Grund für seine schlechte Stimmung. Heute stand der monatliche Besuch bei seiner Schwester an. Wie gerne hätte Matthias jetzt ein Glas Whisky getrunken. Früher hatte er diese Besuche nie nüchtern ertragen, doch seit 3 Jahren war er nun bereits trocken. Seiner Familie zu liebe.

„Du musst dich entscheiden Matthias. Der Alkohol oder deine Familie.“ Das war es, was seine Frau Libby damals zu ihm gesagt hatte. Am nächsten Tag hatte Matthias seine Sachen gepackt und war einige Wochen in die renommierte Betty Ford Klinik eingecheckt.

Seither war jeder Tag eine Qual für ihn gewesen, denn der Alkohol hatte ihm geholfen zu vergessen und das war es, was er wirklich wollte – vergessen, was damals vor 20 Jahren geschehen war. Nun musste er mit der Schuld leben, die er sich als 15-jähriger Teenager aufgebürdet hatte. Einer Schuld, von der niemand sonst wusste. Nicht einmal Libby, die Liebe seines Lebens.

„Damals. Wenn ich doch nur…“ Ein Klingeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Der Taxifahrer war da. Hastig schüttete Matthias den restlichen Kaffee weg, stellte die Tasse in die Spüle, nahm seine Jacke von der Garderobe und ging zur Tür.

„Guten Morgen Karl“, begrüßte Matthias den älteren Mann im Tweed-Anzug freundlich, der ihn erwartete. „Wie immer pünktlich auf die Minute.“ „Selbstverständlich, Herr Beck. Es tut gut Sie zu sehen.“ erwiderte Karl lächelnd.

Gemeinsam durchquerten die beiden Männer den gepflegten Vorgarten und gingen zum Taxi hinüber, welches Karl vor dem Haus in zweiter Reihe geparkt hatte.

Matthias kannte Karl bereits seit vielen Jahren und schätzte seine feinfühlige Art. Karl spürte, wann Matthias einen guten Tag hatte und zu einem Pläuschchen aufgelegt war und wann er lieber seine Ruhe wollte und das Schweigen bevorzugte. Heute war definitiv Letzteres der Fall.

Auf der Rückbank vertiefte Matthias sich nun in die Tageszeitung, welche Karl ihm beim Anfahren reichte. „Die Ablenkung wird mir guttun“. Als Matthias bei den Lokalnachrichten ankam, hielt er verwundert inne. Statt eines aktuellen Beitrags war dort ein anderer Artikel eingeklebt. Einer, der ihm sehr vertraut war. Matthias rieb sich die Augen und schaute noch einmal auf die Stelle. Der Anblick blieb der Gleiche. „Familientragödie – Vater stirbt bei Treppensturz“ war die Schlagzeile des Artikels, quer darüber prangte in blutroten Lettern der Satz „Ich kenne die Wahrheit“.

„Karl, das ist wirklich nicht lustig“ brauste Matthias auf.

Karl schaute verwundert über die Schulter und fragte „Was meinen Sie, Herr Beck?“ „Na was wohl, Karl! Ich meine den alten Zeitungsartikel, den Sie zwischen die Lokalnachrichten geklebt haben.“ Matthias hielt die Zeitung hoch, sodass Karl im Rückspiegel sehen konnte, was er meinte. Dieser schüttelte jedoch nur verwundert den Kopf. „Ich habe die Zeitung aus der Zentrale für Sie mitgebracht, habe sie selbst noch nicht einmal gelesen.“

Matthias Puls raste noch immer. „Ich kenne die Wahrheit“. Dieser Satz hatte sich in seine Augenlider gebrannt. Wer hatte den alten Artikel dort eingeklebt? Und warum? War es Zufall oder vielleicht einfach ein schlechter Scherz?

Matthias Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Zurück zu dem Tag vor 20 Jahren, als sein Vater, Reinhold Beck, die Kontrolle verloren hatte.

Nach Außen waren sie die perfekte Vorzeigefamilie. Sein Vater hielt jeden Moment auf Kamera fest. Am liebsten mit seiner alten Polaroid-Kamera. Er liebte es, einen Schnappschuss zu machen und diesen sofort in den Händen zu halten. Der Rest der Familie war zuweilen genervt von dieser Angewohnheit, aber sein Vater und die Polaroid-Kamera schienen miteinander verwachsen zu sein und so fanden sich im ganzen Haus verteilt glückliche Familienfotos.

Neben der Kamera hatte Reinhold Beck jedoch noch eine weitere Leidenschaft – den Alkohol. Er begann mit dem Trinken, als bei Matthias Mutter das zweite Mal Krebs diagnostiziert wurde. 5 Jahre zuvor hatten Sie das erste Mal die schlimme Diagnose erhalten. Ein Jahr lang kämpfte seine Mutter gegen die Krankheit, bis endlich die erlösende Nachricht kam, dass der Krebs besiegt war.

Nur 3 Jahre später kam dann der erneute Schlag. Der Krebs war zurück und hatte diesmal bereits gestreut. Für Matthias Vater brach eine Welt zusammen und er ertrank seinen Schmerz mit Alkohol. Ein Jahr nach der Diagnose verstarb Matthias Mutter.

Matthias selbst veränderte sich in diesen Jahren. Er handelte sich ständig Schwierigkeiten ein. Zündeln, Diebstahl und Schlägereien auf offener Straße waren für ihn an der Tagesordnung. Der Adrenalinschub gab ihm das Gefühl lebendig zu sein. Er brauchte den Kick und galt schon bald als das schwarze Schaf der Familie. Mehr als einmal musste sein Vater ihn auf der Polizeiwache einsammeln.

Am Todestag seiner Mutter geschah dann die Tragödie. Reinhold Beck trank an diesem Abend um seinen Kummer zu betäuben und wenn er viel trank, dann veränderte er sich. Aus dem liebenden Familienvater wurde ein aggressiver Mann. Von Wut und Trauer übermannt packte er Matthias im Alkoholrausch bei den Haaren und schrie ihn an, dass alles seine Schuld sei. Dass seine Mutter gestorben sei, weil er ein ihr so viel Kummer bereitet hatte war und dass er ein Schwächling sei und immer sein würde. Er schrie ihn an, bis ihn seine Kräfte verließen und er schließlich im Ohrensessel neben dem Kamin in sich zusammensackte.

Nach dem Streit zog Matthias sich in sein Zimmer zurück. Auch seine Schwester Sandra schlief bereits, als er plötzlich merkwürdige Geräusche aus ihrem Zimmer wahrnahm. Matthias hörte Sandras halb erstickten Schrei und einen kurzen Kampf, der entbrannte. Vorsichtig schlüpfte er in seine Hausschuhe und ging den Flur entlang zum Zimmer seiner Schwester. Er wollte ihr helfen. Er wollte endlich Mann stehen und nicht der Schwächling sein, den sein Vater in ihm sah.

Doch der Anblick, der sich ihm bot, als er durch den offenen Türspalt blickte, lähmte ihn.

Es war sein Vater. Er hatte das Nachthemd seiner Schwester zerrissen und lag stöhnend auf ihr. Sandra weinte stumm. Sie sah zu Matthias herüber und ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Dieser Augenblick reichte aus um Sandra erkennen zu lassen, dass er ihr nicht helfen würde und in jenem Moment zerbrach etwas in ihr.

Nur wenige Minuten später ließ sein Vater von Sandra ab und verließ das Zimmer. Matthias versteckte sich und so sah er, wie Reinhard Beck an einer losen Diele hängen blieb und ins Straucheln geriet. In einem Akt der Verzweiflung sprang Matthias aus seinem Versteck und schubste seinen Vater, der sein Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden hatte. Verzweifelt suchte Reinhold Beck nach halt, fand ihn jedoch nicht und stürzte mit rudernden Armen die Treppe hinab. Er war sofort tot.

„Da wären wir.“ mit diesen Worten riss Karl Matthias aus seinen Gedanken. Verwirrt sah Matthias auf, als müsse er die Bedeutung dieser drei Worte erst begreifen. Angespannt strich er sich mit der rechten Hand eine herabgefallene Haarsträhne aus dem Gesicht, schaute auf das Taxameter und bezahlte Karl für die Fahrt. Den Zeitungsartikel riss er noch aus der Zeitung und steckte ihn in seine Jackentasche, dann atmete er tief aus und öffnete die Autotür.

„Wir sehen uns in 2 Stunden, Herr Beck.“ rief ihm Karl noch hinterher, doch Matthias reagierte nicht mehr. Er hatte bereits die Schultern gestrafft und machte sich auf den Weg zum Eingang der Privatklinik. Der Kies der Einfahrt knirschte geräuschvoll unter seinen Sohlen.

Auf der letzten Treppenstufe, die zum Eingang des Gebäudes führte, hielt er noch einmal inne. „Noch kannst du umkehren“ dachte er sich, schüttelte den Kopf, nahm widerwillig auch die letzte Stufe und betrat durch die eindrucksvolle Flügeltür aus Kirschholz die Residenz der Langzeitpatienten.

Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen und die Neonröhren tauchten den Empfangsbereich in ein unnatürlich grelles Licht. Am Empfang saß ein junger Mann, den Matthias nicht kannte und der sein Eintreten offenbar nicht bemerkt hatte, denn er telefonierte lautstark. „Nein Oma, ich kann heute leider nicht bei dir vorbeikommen und dir beim Abnehmen der Gardinen helfen. Ich muss arbeiten.“ Irgendwie kam ihm der Mann bekannt vor. Aber Matthias konnte sich nicht erinnern, wo er ihm schon einmal begegnet sein könnte.

Da er noch immer nicht beachtet wurde, räusperte er sich nun, worauf der Mann sich ihm zuwandte und hastig das Gespräch beendete. „Entschuldigen Sie bitte, was kann ich für Sie tun?“ fragte dieser nun abschätzig. Offenbar war er nicht sehr erfreut über die Unterbrechung. Matthias musterte in einen Augenblick bevor er langsam antwortete: „Mein Name ist Matthias Beck und ich würde gerne meine Schwester Sandra besuchen.“ Der junge Mann zog kaum merklich die linke Augenbraue hoch und bat Matthias dann sich in die Besucherliste einzutragen. Julius Obermeyer war sein Name, wie Matthias dem Namensschild entnahm. „Julius. Der Name passt zu diesem arroganten Bürschchen“ dachte er bei sich, während er sich in die Liste eintrug.

Als Nächstes bat Julius ihn sein Smartphone, sowie weitere mit sich geführte Wertsachen und Gegenstände, welche Verletzungen hervorrufen könnten in eine Plastikbox zu legen. Matthias kannte das Prozedere bereits und entledigte sich seines Smartphones, seiner Uhr und seines Portemonnaies. „Sehr gut, dann folgen Sie mir bitte, Herr Beck. Ich fürchte, dass Ihre Schwester heute leider keinen sehr guten Tag hat. Heute früh hat sie bereits eine Pflegerin mit dem vollen Frühstückstablett beworfen.“ „Na toll, der Tag wird ja immer besser“ dachte sich Matthias, sagte jedoch nichts. Schweigend gingen sie den Flur entlang bis sie zu einem der Besucherräume gelangten. Dort nahm Matthias Platz und wartete auf das Eintreffen seiner Schwester.

Einige Minuten vergingen. Minuten, die Matthias wie eine Ewigkeit vorkamen. Das Ticken der Wanduhr durchbohrte seine Gedanken. Tick Tack, Tick Tack. Er überlegte gerade aufzustehen und die Batterie aus der Uhr zu nehmen, als sich die Tür öffnete und Sandra in Begleitung einer älteren Pflegerin den Raum betrat.

Sandras Haut war blass und eingefallen. Ihre blonden Haare hingen schlaff über ihren Schultern. Und doch konnte man in Sandra Beck noch immer die Schönheit erkennen, die sie einmal gewesen war.

Ihre Blicke trafen sich und kurz flackerte etwas in Sandras Augen auf. War das etwa Angst, die sich in ihren Augen spiegelte? „Nein, warum sollte sie Angst vor ihrem eigenen Bruder haben? Ich bin vermutlich noch etwas paranoid durch den Artikel in der Zeitung.“

Sandra setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl. Er nahm ihre Hand in seine und strich ihr mit seiner anderen Hand sanft über die Wange. Sie zuckte leicht zusammen unter der Berührung, entzog sich ihm jedoch nicht. Beide schwiegen. Ihre Treffen verliefen meistens wortlos. Es war, als würden sie in Gedanken miteinander sprechen und als bräuchte es nicht mehr als diese kleinen Vertrautheiten zwischen ihnen. Matthias liebte seine Schwester von ganzem Herzen, aber er hasste es sie so sehen zu müssen.

„Es tut mir leid, dass ich dir damals nicht geholfen habe. Es tut mir leid, dass ich nicht Manns genug war um zu verhindern, was Vater dir angetan hat.“ flüsterte er leise. „Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen. Ich würde dich beschützen und mit dir gemeinsam weglaufen. Unser beider Leben hätten anders verlaufen können. Wir waren doch noch Kinder. Keiner von uns hatte so viel Schmerz und Leid verdient.“ So hing Matthias seinen Erinnerungen nach und vergaß alles um sich herum.

„Herr Beck, die Besuchszeit ist um.“ sagte die Pflegerin und drückte ihm sanft die Schulter, um ihn zurück ins Hier und Jetzt zu holen. Matthias blickte zu ihr auf. Stumme Tränen rannen über sein Gesicht. Er wischte sie mit dem Handrücken fort und versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Nach ein paar Minuten hatte er sich wieder einigermaßen gefangen und schaute zu Sandra hinüber. Sie saß noch immer reglos auf dem Stuhl. Zum Abschied drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte ein „Bis in einem Monat, mein kleiner Engel“. Dann verließ Matthias den Besucherraum und machte sich auf den Weg in Richtung Empfang.

Dort erwartete ihn nun ein bekanntes Gesicht. Konstantin, die gute Seele der Einrichtung. „Herr Beck, wie schön Sie zu sehen. Ihre Schwester hat sich sicherlich über Ihren Besuch gefreut, wo Sie doch letzten Monat leider verhindert waren“ empfing er ihn herzlich. Matthias musste lächeln bei der Wärme, die in Konstantins Stimme lag.

Ohne weitere Aufforderung legte Konstantin bereits die zuvor abgegebenen Habseligkeiten auf dem Empfangstresen für Matthias bereit. Dieser legte seine Uhr wieder an, verstaute Handy und Portemonnaie und begab sich mit einem Nicken in Richtung Konstantin zurück in die Freiheit, wo Karl ihn bereits erwartete.

Im Becherhalter der Rückbank steckte ein dampfender Becher Kaffee. „Als kleine Wiedergutmachung für den Ärger mit der Zeitung. Es tut mir wirklich leid, manchmal erlauben sich die Kollegen untereinander einen kleinen Spaß. Vermutlich habe ich die falsche Zeitung gegriffen.“

Auch die Rückfahrt verlief weitestgehend schweigend. Matthias genoss seinen Kaffee, der seine Lebensgeister wieder weckte. Den Schock mit dem Zeitungsartikel hatte er für den Moment erfolgreich aus seinen Gedanken verbannt. Vermutlich war es wirklich nur ein dummer Scherz unter Kollegen gewesen und noch dazu ein unglücklicher Zufall, dass es ausgerechnet dieser Artikel war und er diese Zeitung in die Hände bekommen hatte.

In Wandlitz angekommen bat Matthias noch um einen Zwischenstopp beim Blumenladen. Er wollte Libby einen Strauß weißer Rosen mitbringen – ihre Lieblingsblumen. In den letzten Wochen war er unausstehlich gewesen und hatte sich viel zu wenig um seine Frau und seine Kinder bemüht. Heute wollte er den Abend mit seiner Familie genießen und plante sie zu einem Essen beim Lieblingsitaliener um die Ecke zu entführen. Bei dem Gedanken an den schönen Abend umspielte ein Lächeln seine Lippen.

Da der Blumenladen nur einige Straßen von seinem zu Hause entfernt war, verabschiedete er sich hier bereits von Karl und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück.

Fast schon beflügelt kam Matthias zu Hause an, doch statt Kinderlachen erwartete ihn nichts als eisige Stille im Haus. „Libby? Bist du zu Hause? Ich bin von meinem Besuch bei Sandra zurück.“ rief Matthias. „Libby?“ Doch das Schweigen hielt an.

Matthias lief durch das Haus und schaute in jedes Zimmer. Als er schließlich in der Küche ankam entdeckte er einen Brief auf dem Esstisch. „WARUM?“ stand dort geschrieben. Es war unverkennbar Libbys Handschrift. Matthias nahm den Brief in die Hände und las die Abschiedszeilen seiner Frau „WARUM? Ich habe dir all die Jahre vertraut, habe nie nachgefragt, was damals wirklich passiert ist, weil ich weiß, dass du das Geschehene einfach nur vergessen willst. Das habe ich akzeptiert. Ich habe dich bedingungslos geliebt und dabei war ich all die Jahre mit einem Monster verheiratet. Du wirst mich und deine Kinder nie wiedersehen. Ich dachte, ich würde dich kennen. Ich dachte, wir wären Seelenverwandt – aber da habe ich mich wohl geirrt.“

 

Beim Aufklappen des Briefes war ein Foto zu Boden gefallen. Matthias bückte sich danach und hob es auf. Es war ein altes Polaroid. Auf der Rückseite stand geschrieben „Erinnere dich!“. Langsam drehte Matthias das Foto in seinen Händen und erstarrte beim Anblick.

„Das kann nicht sein.“ Das Bild zeigte ihn im Zimmer seiner Schwester. „Das ist nicht die Wahrheit. Das ist nicht real.“ Matthias hatte Schwierigkeiten Luft zu holen. Seine Erinnerungen überschlugen sich und er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er schaute erneut auf das Polaroid in seinen Händen. Sandra lag mit zerrissenem Nachthemd auf dem Bett. Ihr Blick war genau auf die Kamera gerichtet. Kalt, gebrochen. Doch der Mann, der auf ihr lag war ein anderer, als der, den er in Erinnerung hatte. Bei genauerem Betrachten konnte man die Reflexion des Fotografen im Spiegel erkennen, der im Zimmer seiner Schwester stand. „Das ist unmöglich.“

Die Erkenntnis traf ihn Matthias unvermittelt und mit voller Wucht. Noch einmal an diesem Tag durchlebte er die Geschehnisse von damals, doch diesmal war es nicht sein selbst geschaffenes Trugbild, das er sah.

Als sein Vater ihn an jenem Abend erneut als Schwächling bezeichnet hatte, hatte Matthias einen Entschluss gefasst. Er wollte seinem Vater endlich beweisen, wie stark er war und dass er alles haben konnte, was er wollte.

Das, was er am meisten auf der Welt begehrte, war seine Schwester. Sie war so wunderschön. Ein Engel, der seinesgleichen suchte. So schlüpfte er an jenem Abend in Sandras Zimmer und ignorierte ihr Flehen. Er hatte jedoch nicht mit seinem Vater gerechnet, der in das Zimmer gestürmt kam. „Zuvor musste er dieses Bild gemacht und versteckt haben“ durchfuhr es Matthias nun.

Sein Vater kam auf ihn zu und riss ihn von seiner Schwester. Ein Streit entbrannte. „Du bist ein Monster Matthias! Ein Monster! Du hast deine Familie zerstört, indem du uns alle tyrannisiert hast. Ich habe immer versucht an das Gute in dir zu glauben. Deine Mutter ist von uns gegangen, weil Sie sich so sehr für dich und das, was aus dir geworden ist, geschämt hat. Es tut mir leid, Matthias, aber du musst das Haus verlassen. Du bist nicht länger ein Teil dieser Familie.“

Diese Worte waren es, die ungeahnte Kräfte in Matthias mobilisierten. Sein Vater hatte ihn bereits in den Flur gezogen. Er riss sich aus dem Griff seines Vaters los, wodurch dieser für einen Moment das Gleichgewicht verlor. Matthias schubste seinen Vater mit aller Kraft. Dieser suchte mit rudernden Armen nach Halt, doch er fand keinen und stürzte die Treppe hinunter. Er war sofort tot.

Bei der Polizeibefragung am nächsten Morgen sagte Matthias aus, dass sein Vater betrunken gewesen war und er vermutlich auf dem Weg zur Toilette die Treppe hinabgestürzt sei. Da seine Schwester mit niemandem sprach, wurden auch keine weiteren Fragen gestellt. Die Nachbarn konnten bestätigen, dass Reinhard Beck des Häufigeren zur Flasche griff und so wanderte der Fall zu den Akten.

Keuchend sank Matthias nun in seiner Küche zu Boden. Sein Blick war glasig und leer.

Etwa zur selben Zeit saß Julius Obermeyer bei Sandra am Bett und las ihr eine Geschichte vor. Seit dem Tag als sie Julius im Kinderheim kennengelernt hatte, in welchem Matthias und sie nach dem Tod ihres Vaters untergebracht wurden, vertraute sie dem Klang seiner beruhigenden Stimme und fühlte sich in seiner Gegenwart sicher und geborgen.

Ihr Atem wurde gleichmäßiger und immer ruhiger, bis sie schließlich eingeschlafen war. Im Schlaf begann sie zu murmeln „Lass mich los. Nein, nicht Matthias. Hilfe.“. Julius strich ihr beruhigend über ihr Haar und murmelte „Du brauchst keine Angst mehr zu haben, jetzt ist alles gut.“

One thought on “Das Polaroid

  1. Wow, das Schlagwort Identität hast du wirklich perfekt getroffen; guter Plottwist!! Auch die Idee mit dem Polaroid gefällt mir sehr (es muss ja nicht immer die neueste Technik sein – abgesehen davon feiern die Dinger ja derzeit sowieso gerade ihr Revival ;-)).

    Liebe Grüße und wenn du magst, schau (bzw. lies) auch gerne mal bei mir vorbei! 🙂

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