Ein sehr, sehr kleines Zimmer, irgendwo in einer großen Stadt, Berlin.
Wenige Sonnenstrahlen geraten durch das staubige Fenster und die Klänge der langsam erwachenden Umgebung sind nur dumpf zu hören. In der linken Ecke steht ein Bett, ein Mann liegt darin, schon etwas älter, und er dreht sich hin und her. Schon in diesem Zeitpunkt plant er seinen nächsten Schachzug, soviel ist sicher.
Mit einem Ruck richtet sich Felix auf, stellt seine Füße auf den Boden, stützt seine Ellenbogen auf die Knie, legt seinen Kopf in beide Hände und überlegt. Jeder Schritt, der nun folgt, muss bis auf das kleinste Detail ausgearbeitet, vor allem aber kontrollierbar sein. Bis heute hat Felix keinen Fehler begangen, seine Spuren immer gut verwischt. Er weiß, was es bedeutet, verrückter als ein Serienkiller auf Badesalz zu sein, denn genau das war er, verrückt. Für gewöhnlich befolgt er die Regeln anderer nicht, er macht sie und wenn nötig, bricht er sie auch. Doch schon bald sollte er verstehen, dass es sowas wie Kontrolle gar nicht gibt, es gibt nur Chaos und solch eine Erfahrung spürt man am besten am eigenen Leib.
Nach einer langen, eiskalten Dusche begibt sich Felix auf den Weg zur Arbeit, welche nur 15 Minuten von dem Zimmer entfernt ist. Niemand weiß von diesem Rückzugsort, und das ist auch gut so. Immer, wenn er nicht zu Hause schlief, erzählte er seiner Frau Sophie, dass ihn die Arbeit mal wieder nicht zur Ruhe kommen lässt, schließlich ist er der Geschäftsführer eines großen Unternehmens und Sophie glaubte ihm diese simple Ausrede jedes Mal, ohne auch nur einen Moment daran zu zweifeln. Abgesehen von der Tatsache, dass Felix seine Rolle nahezu perfekt spielte, verbrachte er dennoch nicht viele Nächte in seinem Versteck, meistens nur dann, wenn er einen todsicheren Plan schmieden musste, damit die ein oder andere Person aus dem Weg geräumt werden konnte. Das letzte Mal hatte er keine Wahl, als Alexander, der Freund seiner Tochter Juliane, eindeutig zu weit gegangen war. Felix hatte sich fest vorgenommen, das Glück seiner Tochter nicht zu zerstören, ihrem Freund eine faire Chance zu geben, doch Alexander erwies sich einfach nicht als der Richtige. Er versuchte doch tatsächlich, Juliane zu überreden, mit ihm nach London zu ziehen, ein schickes Haus zu kaufen und eine kleine Familie zu gründen, meilenweit weg von dem zu Hause, wo sie hingehörte. Das konnte und wollte sich Felix nicht gefallen lassen, das ein daher gelaufener Möchtegern-Liebhaber ihm seine Tochter entreißt, dazu noch in ein völlig anderes Land. Jeder der ihn auf irgendeine Art und Weise herausfordert, wird dieses Spiel verlieren, und so verlor es auch Alexander, welcher plötzlich vor zwei Wochen verschwand und bislang nicht wieder gesehen worden ist. Es wird vermutet, er habe ein anderes Mädchen kennengelernt, doch Felix weiß es besser; er weiß, dass Alexander gefesselt und mit schlimmen Stichwunden im Keller seines eigenen Unternehmens liegt. Früher oder später musste es leider soweit kommen.
Wenige Minuten darauf, nachdem Felix sich seinen morgendlichen Kaffee aus der Küche geholt hat, betritt er sein Büro und sieht die Post des heutigen Tages durch. Ein paar belanglose Briefe, diverse Rechnungen, Werbung und ein kleines Päckchen befinden sich auf seinem Schreibtisch. Überraschenderweise ist kein Absender auf dem Päckchen vermerkt und auch durch mehrmaliges Schütteln lässt sich nicht genau identifizieren, was sich in der Verpackung befinden könnte. Felix beschließt, es dennoch zu öffnen, seine Neugier war einfach zu groß. Vorsichtig riss er das Päckchen auf und entdeckte ein Handy, welches in Luftpolsterfolie eingewickelt war. Behutsam entfernte er die Folie und inspizierte das Handy etwas genauer. Es schien neu und unbenutzt zu sein, es waren keinerlei Kratzer oder Fingerabdrücke zu verzeichnen. Doch von wem stammte dieses Päckchen?
Ohne darüber nachzudenken schaltete Felix das Handy ein, in der Hoffnung, dort auf ein paar Hinweise zu stoßen, die die Identität des Absenders ans Licht führen würden. Entgegen seiner Erwartungen musste man das Handy nicht entsperren, er hatte problemlos Zugriff auf alle Programme und Dateien die sich darauf befanden, fand jedoch im ersten Moment nichts brauchbares. Als Felix geradewegs dabei war, die Sache auf sich beruhen zu lassen, auch wenn sie merkwürdig erschien, riskierte er noch einen schnellen Blick in die Galerie – und hatte tatsächlich Erfolg. Ein Album mit dem Titel „M.“ existierte, und ehe Felix sich fragen konnte, wofür das „M.“ wohl stand, tippte er das Album an und erstarrte.
Angst war das grundlegendste, das menschlichste Gefühl und so lernte es auch Felix kennen, als er die drei Bilder seines Albums vor sich sah. Es waren Fotografien, die ihn ungefähr 20 Jahre jünger zeigten, unter seiner früheren Identität – namens Manuel. Felix begann leicht zu schwitzen und sah sich die Fotos genauer an. Zwei dieser zeigten ihn allein, mit anderer Statur, anderem Haarschnitt. Das eine Bild im Fitnessstudio aufgenommen, das andere im Vorgarten. Jedoch war es das letzte Foto, was ihn am meisten schockierte.
Felix war nicht allein, sondern mit einer blonden Frau darauf zu sehen, zusammen hielten sie ein kleines Baby im Arm. Es war eines der perfektesten Familienfotos schlechthin, jeder schien glücklich zu sein. Doch die wichtigste Frage, die Felix durch den Kopf ging, war, wie diese Bilder auf das Handy gelangt waren. Er ist sich ziemlich sicher, das er sämtliche Hinweise in Bezug auf seine Vergangenheit vernichtet hat, ganz gleich ob es sich um Dokumente, Fotos oder Social Media Accounts handelte. Leider war es äußerst notwendig, solch drastische Maßnahmen zu ergreifen, einen Wechsel der Identität vorzunehmen und das alles nur, weil er durch einen Eifersuchtswahn jegliche Kontrolle der Selbstbeherrschung verloren hatte. Niemand außer Felix wusste, was in der Nacht vor 20 Jahren geschehen ist, er brauchte sich vor niemanden rechtfertigen – wieso auch? Er hatte seine Gründe, so wie er sie auch heute hat, es ist keine Rache, die er ausübt, sondern Gerechtigkeit und die felsenfeste Überzeugung, das Richtige zutun.
Wo Gefühle im Spiel sind, gibt es meist auch viel Leid. So auch in jener Nacht, als Felix die Eifersucht gegenüber seinem kleinen Sohn Sebastian übermannt hat. Sein Familienglück mit seiner damaligen Frau Emily war nahezu perfekt, aber eben nur nahezu. Sebastian hat seines Erachtens nach viel zu viel Zeit beansprucht, es blieb kaum Zweisamkeit für ihn und Emily. Einige Wochen lang hat Felix versucht, das Beste aus der Situation zu machen, bis er seine Frau vor die Wahl stellte – entweder er oder Sebastian. Ihm hätte von Anfang an klar sein müssen, dass Emily sich gegen ihn entscheiden würde, doch manchmal wollen wir die Augen vor der schmerzhaften Wahrheit verschließen, vor der wir allerdings nicht davonlaufen können. Wir wollen die Wahrheit schlichtweg nicht wahrhaben, doch wir leben nicht in einer Fantasiewelt, wo nur das existiert, was wir uns wünschen. Und so wurde Felix wütend, einerseits weil er wusste, dass er dieses Spiel nicht gewinnen kann und andererseits, weil er von jemanden, ausgerechnet seiner Frau, abgelehnt wurden ist. Es folgte ein Tobsuchtsanfall der besonderen Art, als er Emily das Baby entriss und ins Kinderzimmer rannte, dieses zuschloss, Sebastian auf den Wickeltisch legte und ein Kissen auf ihn drückte. Du atmest nur, weil ich dir Luft gebe, dachte sich Felix, während sein eigen Fleisch und Blut unter seiner Gewalt wenige Momente darauf starb.
Felix verspürte weder Reue noch plagte ihn ein schlechtes Gewissen, als er den toten, leblosen Körper seines Sohnes vor sich sah. Im Gegenteil, auf irgendeiner Art und Weise hat es ihm Spaß bereitet, und er wusste genau was nun als nächster Schritt folgen musste, auch wenn dies bedeutete, dass er seiner geliebten Emily weh tun musste. Einen weiteren Mord wollte er jedoch nicht begehen, er wollte Emily für ihre Fehlentscheidung büßen lassen und das konnte er nur, wenn er sie am Leben ließ, zumindest für den Anfang. Felix ging einige Minuten darauf zu seiner Frau, schlug ihr die erstbeste Vase, die er greifen konnte, an den Hinterkopf und brachte Emily erst einmal zu Boden. Er fesselte sie an einen Stuhl, ging in den Gartenschuppen und bastelte aus den Holzspanplatten, die sich darin befanden, einen Sarg, mit der Absicht, seine Frau später lebendig zu begraben, was er dann auch tat.
Bis heute kam niemand dahinter, welche Tragödie sich wirklich in der einst so glücklichen Familie abgespielt hat, man hatte zwar die Leiche seines Sohnes Sebastian gefunden, doch von Emily und Manuel, so wie er damals hieß, fehlte jede Spur. Er begann ein neues Leben, ließ alles hinter sich, während Emily unter der Erde wortwörtlich verrottete.
Als Felix nach dem Schock der Fotos wieder zu sich kam, bemerkte er, dass über eine Stunde vergangen war, in der er das Handy und die Fotos betrachtete. Verzweifelt suchte er nach weiteren Hinweisen, hatte jedoch kein Glück. Mit der Zeit wurde ihm bewusst, dass er höchstwahrscheinlich selbst Teil eines raffinierten Spiels geworden ist, in welchem er diesmal die Zügel nicht in der Hand hatte, jedoch nahm er die Herausforderung gerne an und wartete auf die nächste Aktion, die früher kam als erwartet.
Felix nahm sich für den Rest des Tages frei, um einen kühlen Kopf zu bewahren und Zeit mit seiner Familie zu verbringen. Er rief Sophie an und sagte ihr, dass er pünktlich zu Kaffee und Kuchen zu Hause sein würde und versuchte so normal wie nur möglich zu wirken. Seine Frau durfte von all dem nichts erfahren, damit würde er eine Menge riskieren und er war sich nicht ganz sicher, ob er auch ein zweites Mal einen Identitätswechsel vornehmen konnte. Die Chance erwischt zu werden, war definitiv größer als beim ersten Mal.
Felix erledigte noch ein paar Sachen, ehe er zu seiner Familie fuhr. Bislang ist nichts weiter merkwürdiges passiert und er hoffte, dass sich jemand einfach nur einen dummen Scherz mit ihm erlauben wollte, was jedoch nicht erklärte, weshalb diese Bilder zum Vorschein gekommen sind. Irgendjemand musste wissen, was damals geschehen ist, und das gefiel Felix überhaupt nicht. Diese Tatsache allein reichte vollkommen aus, um sein Kartenhaus zum einstürzen zu bringen und auch wenn er selbst in Spiellaune war, wollte er nicht verlieren, er war so ein schlechter Verlierer.
Zu Hause angekommen öffnete Juliane Felix die Tür und vor lauter Schreck fiel ihm der Kuchen beinahe aus der Hand, den er besorgt hatte.
So in etwa musste sich die Vorhölle anfühlen. Das war zumindest das einzige, was Felix durch den Kopf schwirrte, als er an Juliane hinab blickte und das Kleid betrachtete. Das rote Kleid. Genau dasselbe Kleid hatte Emily früher immer getragen, es war ihr Lieblingskleidungsstück und sie sah so umwerfend darin aus. Er hatte es ihr an einem Pärchenwochenende in Paris gekauft, und ausgerechnet dieses Kleid trug jetzt seine Tochter. Felix war sich nicht ganz sicher, ob er eventuell einfach nur halluzinierte und ging an Juliane vorbei, geradewegs in die Küche, nahm sich ein Glas Wasser und beruhigte sich. Mittlerweile war auch Sophie mit im Raum, durchlöcherte ihn mit Fragen, was denn mit ihm los sei, aber er war nicht derjenige, der Antworten geben musste, es war seine Tochter. Er fragte Juliane direkt, woher sie dieses Kleid habe und als sie antwortete, dass Alexander es ihr vor seinem Verschwinden geschenkt hatte, wurde Felix schlecht, er rannte ins Bad und musste sich erst einmal übergeben.
Nachdem sich sein flaues Gefühl im Magen wieder einigermaßen beruhigt hatte, setzte sich Felix auf den Badewannenrand und überlegte, ob das alles nur ein dummer Zufall war. Warum hatte Juliane jenes rote Kleid an, wusste sie und Sophie etwa von seiner Vergangenheit oder spielte ihm das Leben einer der schlimmsten Streiche überhaupt? Felix war an einen Punkt gelangt, an dem er nicht mehr zwischen richtig und falsch, zwischen gut und böse entscheiden konnte. Im Gegenteil, langsam entglitt ihm der Boden unter den Füßen und all die Jahre, in denen er so hart gekämpft hatte, holten ihn in Windeseile wieder ein.
Nachdem sich Felix einigermaßen wieder gefangen hatte, ging er zurück zu Sophie und Juliane, die mittlerweile am eingedeckten Esstisch saßen, wartend darauf, dass er sich zu ihnen gesellen würde. Sophie gab ihm erneut ein Glas Wasser und fragte ihn, ob sein kleiner Zusammenbruch etwas mit der Arbeit zutun hätte, er bejahte die Frage und entschuldigte sich für sein Verhalten. Mittlerweile war Felix der Annahme, dass seine Familie nichts mit dem Handy zutun haben konnte und dass die Sache mit dem Kleid ein sehr dummer Scherz gewesen sein musste, schließlich saßen sie gemeinsam beieinander und niemand könnte so gut schauspielern, nicht einmal er selbst kann es. Irgendjemand hätte mit Sicherheit Fragen über Fragen gestellt oder ihn hinausgeworfen, wenn sie die Wahrheit gewusst hätten, aber sie aßen Kuchen, als hätten sie nie etwas anderes getan und so versuchte Felix seinen Kopf von all den negativen Gedanken freizuschaufeln und das zutun, was er all die Jahre getan hat – normal wirken.
Er war gerade dabei, sich das zweite Stückchen des Käsekuchens zu nehmen, als es plötzlich an der Tür klingelte. Felix fragte Sophie, ob sie noch Besuch erwarten würde, währenddessen Juliane die Tür öffnete, doch ehe er eine Antwort bekam, stand diese schon im Raum. Es war Emily, mit Haut und Haaren, unversehrt, lebendig. Felix spürte, wie seine Kinnlade wortwörtlich nach unten klappte, zum allerersten Mal in seinem Leben war er einfach nur sprachlos. Noch bevor er auch nur ansatzweise irgendetwas sagen oder einen klaren Gedanken fassen konnte, ergriff Emily das Wort:
„Überrascht mich zu sehen? Nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen kommt das definitiv auf die Liste deiner Top Ten Nachmittage. Du hast ja keine Ahnung, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe. Sehnlichst habe ich mir gewünscht, endlich Rache auszuüben, Genugtuung macht sich in mir breit. All die verdammten Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet und ich kann dir sagen, das Warten hat sich definitiv gelohnt. Doch nun von Anfang an …
Ich glaube nicht, dass ich dir erzählen muss, was wir einst für eine glückliche Familie waren. Es gab nur dich, mich und Sebastian. Nichts hätte besser laufen können, wir waren die kleine perfekte Familie schlechthin, bis du der Ansicht warst, das Familienglück auf tragischste Weise zerstören zu müssen. Du hast mein Herz nicht in zwei, nicht in drei, sondern in hunderttausend Teile zerrissen, als du mir Sebastian genommen hast. Bis heute kann ich nicht verstehen, wieso du das getan hast und wie der Mann, den ich so sehr geliebt habe, zu solchen Taten fähig war. Wie konntest du mich auch vor die Wahl stellen, mich zwischen dir und unserem Sohn entscheiden zu müssen und dann auch noch annehmen, ich könnte mich auf deine Seite stellen? Wie geistesgestört muss ein Mensch nur sein, um solche Grausamkeiten zu vollbringen, wie das eigene Kind zu ermorden? Aber als wäre das nicht schon schlimm genug, bist du noch auf die glorreiche Idee gekommen, mich lebendig in unserem Garten zu vergraben. Du fragst dich sicher, wie ich entkommen konnte? So schnell und leichtsinnig, wie du mich begraben und dann die Stadt verlassen hast, hast du einen entscheidenden Fehler begangen: Du hast nicht tief genug gegraben. Ich dachte wirklich, für mich kommt jede Hilfe zu spät, und das ich bereit war um zu sterben, doch dann habe ich gelernt, dass so etwas wie Schutzengel tatsächlich existierten, als Claudia, unsere ehemalige Nachbarin mein Scharren und Kratzen, als auch die gedämpften Schreie hörte, während sie an diesem Tage unser Grundstück betrat, um ein Geschenk für Sebastian vorbeizubringen. Sie war es auch, die den Leichnam von ihm als erstes entdeckte und rief die Polizei, doch bevor diese eingetroffen war, rettete sie mir das Leben und gab mir eine Chance, dich aufzusuchen und dir das Leben zur Hölle zu machen und dafür bin ich so, so dankbar.
Ich verschwand genauso wie du von der Bildfläche, bat alle Beteiligten stillschweigen darüber zu bewahren, dass ich doch noch am Leben war. Allein dein Blick sagt mir, dass es sich gelohnt hat solange zu warten, bis ich endlich zuschlagen konnte.
Eines muss man dir wirklich lassen – du warst schon immer ein Perfektionist. Du hast dir über all die Jahre so ein scheinbar perfektes Leben aufgebaut, eine neue Familie gegründet. Es war nicht ganz einfach, dich ausfindig zu machen, bis ich durch Zufall diesen einen, so wichtigen Zeitungsartikel entdeckt habe, in welchem deine Firma vorgestellt wurde und nicht nur das, es war sogar ein Gruppenfoto mit abgedruckt wurden. Ich habe dich sofort erkannt, das würde ich immer wieder tun, egal ob zehn, zwanzig oder dreißig Jahre zwischen jener Nacht und heute liegen. Du hast dich verändert, ohne Frage, doch die Gesichtszüge sind dieselben wie damals auch.
Ich fing an zu recherchieren, über dein Unternehmen, deine Familie, über dich. Zuerst machte es wirklich den Anschein, als hättest du dein Verhalten geändert, doch wer einen anderen Menschen lebendig begraben kann, würde sich niemals ändern und war zudem einfach nur geisteskrank. Es stellte sich heraus, dass du nach unserem gemeinsamen Sohn Sebastian nicht aufgehört hast, Menschen zu verletzen, oder besser gesagt, du hast nicht aufgehört mit morden. Personen im Umfeld deiner Familie verschwinden auf mysteriöse Art und Weise, so zuletzt auch Alexander. Woher ich das weiß? Schon vor einiger Zeit habe ich den Kontakt zu deiner Frau Sophie und deiner Tochter Juliane gesucht und auch wenn sie mir anfangs nicht glaubten, konnte ich sie dennoch vom Gegenteil überzeugen, sie haben dich ebenfalls erkannt anhand der Fotos, die ich ihnen gezeigt habe. Man kann sein Aussehen zwar ändern, aber die Gesichtszüge, die bleiben. Das Handy, welches du auf deinem Schreibtisch gefunden hast, das rote Kleid – auf diesen Teil hatte ich mich besonders gefreut, denn Juliane bekam es von mir um dir einen Schock einzujagen – und die Tatsache, dass ich vor dir stehe war alles Teil meines Plans. Ich wollte dich dort treffen, wo es am meisten weh tut, dir dieselben Schmerzen hinzufügen, die ich gespürt habe. Dass du mich lebendig begraben hattest, war die eine Sache, aber dass du deine Wut, deine unkontrollierte Eifersucht an Sebastian ausgelassen hast, das werde ich dir nie verzeihen. Du hast einer Mutter das liebste genommen, was man ihr nur nehmen konnte – das eigene Kind. Seit über 20 Jahren lebe ich mit diesem Schmerz, ich habe wirklich versucht, nachzuvollziehen, was in deinem Kopf in jener Nacht vor sich ging und wie ein Mensch nur solche Grausamkeiten vollbringen konnte. Ich bin zu keinem Entschluss gekommen, nein, ich weiß nur, dass du es endlich büßen sollst. Sophie, Juliane und ich wissen, was du all die Jahre fabriziert hast, was für ein Wesen du bist. Und jetzt bist du derjenige, der genug Zeit hat, über seine Taten nachzudenken und in der Hölle zu schmoren, denn in wenigen Minuten wird hier die Polizei eintreffen und dich abführen, in Handschellen, die du dein ganzes Leben lang nicht mehr abnehmen wirst. Den Rest deines verkorksten Daseins wirst du hinter Gittern sitzen und dir noch wünschen, dass du all die Fehler nie begangen hättest, obwohl Fehler das falsche Wort für deine Handlungen ist. Einen Fehler macht man einmal, wiederholt man diesen, entscheidet man sich für etwas und du hast dich für den falschen Weg entschieden und musst jetzt mit den Konsequenzen leben.“
Felix hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als Emily ihren Vortrag beendete. Er wollte sich äußern, wollte sich entschuldigen, doch er bekam einfach keinen Ton heraus. Nicht einmal Sophie, geschweige denn Juliane redeten noch ein Wort mit ihm, ihre Körpersprache sprach Bände und wenn er es nicht besser gewusst hätte, würde er meinen, sie verspürten puren Hass. Eines jedoch wusste er genau, er wollte nicht von der Polizei geschnappt und hinter Gitter gesperrt werden, er wollte die restliche Zeit seines Lebens nicht von Schuldgefühlen und Gewissensbissen geplagt werden, er wollte sich nicht mit dem auseinandersetzen was er war – ein Monster.
Ohne groß darüber nachzudenken gab Felix vor, er müsse sich ein weiteres Mal übergeben, in der Hoffnung, ins Badezimmer zu gelangen, ohne dass ihm jemand folgte und ehe die Polizei die Tür betrat. Wider Willen erlaubte Emily ihm den Gang zur Toilette, stellte sich aber vor die verschlossene Tür, damit Felix nicht auf die Idee kam wieder einmal zu verschwinden und sein krankes Spiel ein drittes Mal durchzuführen. Jedoch hatte niemand von den drei Damen bedacht, dass es im Bad ein Fenster gab, sie bemerkten es erst, als es zu spät war, er hinausgeklettert und mit dem Auto davonfuhr.
Ohne Plan und ohne Ziel raste Felix durch die Straßen, achtete weder auf die Ampeln noch auf seine Mitmenschen. Noch nie in seinem Leben war er so aufgewühlt wie heute, er konnte einfach nicht verstehen, was in den vergangenen zwölf Stunden geschehen ist und wie es nur so weit kommen konnte. Immer hat Felix darauf geachtet, nicht ertappt zu werden und seine Spuren gut zu verwischen, doch hatte er den gravierendsten Fehler bereits vor 20 Jahren begangen. Im Nachhinein brauchte er sich nicht einmal wundern, weshalb Emily noch am Leben war und weshalb sein Leben jetzt so aus dem Ruder lief.
Als plötzlich sein Handy klingelte, stellte Felix fest, dass er unbewusst zu seinem Versteck gefahren war. Er ging hinauf in sein Zimmer, setzte sich aufs Bett und sah nach, wer ihn angerufen hatte – es war Juliane. Er wollte sie zurückrufen, ihr sagen, wie leid es ihm tat, dass er ihr Alexander genommen hatte, doch er schaffte es einfach nicht. Er atmete tief ein, schrieb lediglich eine Sms in der stand „Ich habe das alles nur aus Liebe getan“, ging langsam zum Fenster, schrieb in die staubige rechte Fensterscheibe „Ich liebe euch so sehr“, öffnete die linke Fensterscheibe und stieg auf das Fensterbrett. Der Lärm von der Straße vor dem Haus drang mit einer Wucht zu ihm hoch, ein leichter Schauer durchfuhr ihn und er fing an zu frösteln.
Er schaut, mit Tränen in den Augen, nach unten, atmete noch einmal tief ein, stößt sich ab und springt. Die Straße kommt rasend schnell auf ihn zu und kurz bevor sein Gehirn den unheimlichen Schmerz des Aufpralls registriert und an seine Nerven weiterschickt, wird es schwarz und ruhig in ihm. Einige Passanten schreien laut auf, schauen entsetzt, scharen sich um ihn. Einer ruft die Polizei, ein anderer den Rettungswagen, doch der gerufene Arzt kann nichts mehr machen, denn Felix ist aus der vierten Etage gesprungen und eine solche Höhe ist tödlich. Der Leichenwagen kommt, nimmt, nachdem alles von der Polizei fotografiert und notiert wurde, den Leichnam mit, der Hausmeister versucht, den Blutfleck zu entfernen, die Neugierigen verstreuen sich und zwei Stunden später ist alles vorbei.
Es fängt an zu regnen, die Passanten gehen eilig die Straße entlang, laufen nichtsahnend über einen dunklen Fleck, das Zimmer oben ist verschlossen und der Regen schlägt an das offene Fenster. Der rechte Fensterflügel hat sich auch geöffnet und langsam wäscht der Regen die in den Staub geschriebenen Wörter ab.
Auf dem Display von seinem Handy blinkt rhythmisch ein kleiner Briefumschlag.
Sehr gut geschrieben! 👍
Von Anfang an sehr spannend und wirklich gut geschrieben!
Man hatte gar keine Zeit den Text zu überfliegen, weil er einen so gefesselt hat.
Hut ab an dich!!
Grüße
Grüße 😂
Gut
Ich konnte gerade vor Spannung kaum aufhören zu lesen und wäre dadurch fast zu spät ausgestiegen. Du hast da echt eine tolle Geschichte geschrieben. Gern mehr davon in Zukunft! 🙂
Vielen lieben Dank! 😊
Wow, sehr gut geschrieben. 🙂
Dankeschön! 😊
Die Geschichte ist wirklich sehr gut geschrieben! Es gefällt mir, wie du die Kriterien, die für die Kurzgeschichte festgelegt wurden, umgesetzt hast und wie du es schaffst, Spannung und Neugier beim Leser auszulösen (Durch die interessante Anfangssituation wollte man einfach wissen, was dahinter steckt und konnte nicht aufhören zu lesen). Ich konnte der Geschichte super folgen und kam durch den angenehmen Schreibstil auch flüssig durch den Text.
Als Tipp wäre es meiner Meinung nach angenehmer, wenn du Emilys Auftreten und ihre Erklärungen nicht in dem „Vortragscharakter“ geschrieben hättest, denn das macht es schwierig einen Film vor den Augen der Leser herzustellen. Man könnte zum Beispiel zwischendurch den Gesichtsausdruck beschreiben, die Körpersprache und vielleicht auch die Veränderungen darin. Da Felix dabei ja auch sprachlos wirken sollte, könnte man zwischendurch Reaktionen wie: „Wie…“ oder „Aber… du…“ oder Ähnliches einfügen. Das macht diese Situation meiner Meinung nach realitätsnaher und weniger konstruiert und einstürmend, weniger „herunterratternd“.
Bleibe auf jeden Fall weiter dran. Viel Erfolg weiterhin!
Dankeschön für das Feedback! 😊
Sehr gut geschrieben. Respekt! Konnte es nicht einfach so mal überfliegen so gefesselt hat mich die Geschichte….
Weiterhin viel Erfolg!
Vielen Dank ☺️
Hey 🙂 Eine spannende Geschichte. Die Aspekte mit der lebendig begrabenen Ehefrau und dem Mord am eigenen Sohn bringen ein richtiges Thriller-Feeling hinein.
Mir hat sich nur die Frage gestellt, ob es beabsichtigt war, sowohl in den Perspektiven als auch in den Zeiten hin und her zu springen? Auf jeden Fall fand ich das Präsens mit diesem distanzierten Erzähler sehr spannend, das gibt es ja nicht so oft.
Vielleicht könntest du beim nächsten Mal Emilys Geschichte in einem Dialog erzählen. Dieser Monolog ist doch etwas lang und an einem Stück, wirkt er sehr runtergerattert und nimmt etwas Spannung raus.
Alles in allem eine schöne Geschichte! 🙂
Magst du vielleicht auch bei meiner Geschichte vorbauschauen? Ich bin immer sehr auf Feedback gespannt: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/ich-besitze-deine-identitaet
Ganz liebe Grüße,
Ann-Kathrin
Hey ,vielen lieben Dank für dein Feedback. 😊
Es war nicht beabsichtigt, sowohl in den Perspektiven als auch in den Zeiten hin und her zu springen, mir ist das tatsächlich erst später richtig aufgefallen und daran muss ich definitiv noch arbeiten!
Ich habe deine Geschichte auch gelesen, als auch kommentiert 😊
Hallo Laura!
Tolle Geschichte, fesselnd geschrieben. Hat mir wirklich sehr gut gefallen!!
LG, Florian
PS. Ich fände es schön, wenn du auch meine Geschichte lesen würdest und mit dann anschließend ein kurzes Feedback da lässt.
https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/schach-matt
Hey,
vielen Dank für dein Feedback!
Ich habe deine Geschichte auch gelesen, mein Feedback findest du in deinen Kommentaren 😊
Super Tolle Geschichte ! Hat Spaß gemacht sie zu lesen. Sie hat mich mitgerissen. Ich warte auf eine neue Geschichte 🙂
Dankeschön 😊
Hallo Laura
Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen und wollte unbedingt direkt wissen, wie sie endet.
Dir ist eine wirklich gute und außergewöhnliche Story gelungen.
Die Spannung war genial aufgebaut, die Thriller Elemente toll eingeflochten und die Parameter auch gut und charmant umgesetzt.
Herzlichen Glückwunsch.
Ich mag deinen ungezwungenen Schreibstil.
Es haben sich da und dort kleine Rechtschreibfehler und Zeichensetzungsfehler eingeschlichen.
Ist aber okay.
Schließlich haben selbst die größten Autoren und Schriftsteller Lektoren, die Fehler finden und verbessern.
Schreib auf jeden Fall weiter, denn man spürt deutlich, dass du Lust am Schreiben hast.
Und das überträgt sich auf den Leser.
Und deine Geschichten werden von Tag zu Tag besser und sicherer.
Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
Und noch ganz viele Likes.
Mein Like hast du natürlich sicher.
Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)
Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
Würde mich freuen.
🙂
Meine Geschichte heißt:
„Die silberne Katze“
Vielen Dank.
Swen
Hallo Laura,
mir hat die Geschichte auch sehr gefallen.
Die kleinen Schwächen im Schreiben haben meine Vorschreiber ja schon aufgezeigt (Zeitformen, langer Dialog,..), da will ich gar nicht nochmal drauf eingehen.
Eine Anmerkung habe ich aber noch. Anfangs wurde Felix als skrupelloser und „wahnsinniger“ Charakter beschrieben, der sich für meinen Geschmack etwas zu schnell zu einem „Weichei“ entwickelt hat. Hier hätte ich erwartet, dass er gewissenloser gegen seine Ex und evtl auch gegen seine aktuelle Familie vorgehen würde.
Dass seine Familie einfach so bei dem Plan mitmachen würde, finde ich auch etwas schwer nachzuvollziehen. Aber das ist reine Geschmacksache.
Der Plot hat mir auf jeden Fall gefallen.
P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte („Glasauge“) zu lesen und ein Feedback da zu lassen.
Liebe Laura,
vielen Dank für die spannende Geschichte. Die Idee der Geschichte ist richtig gut. Sie hat mir unheimlich gut gefallen.
In den obigen Kommentaren ist bereits erwähnt, was mir ebenfalls aufgefallen ist. Der Sprung zwischen den Zeiten, der Monolog von Emily und der schnelle Charakterwechsel von Felix vom knallharten Serienkiller der keine Liebe kennt zum verletzlichen Mann, der sich aus Liebe das Leben nimmt.
Ich finde du solltest unbedingt dran bleiben. Viel Erfolg weiterhin.
Falls du Lust hast, würde ich mich freuen, wenn du auch meine Geschichte liest. https://wirschreibenzuhause.de/?s=Das+dritte+Leben&submit=Suche
Liebe Grüße
Silke