Fabian FitzDas schwarze Schaf

 

Sabrina schiebt ihre Brille wieder auf den Nasenrücken. Das blöde Mistding ist viel zu locker und rutscht ständig runter. Dann legt sie ihre Hand zurück in den Schoß, wo sie mit der anderen zappelig zu ringen beginnt. Sie ist nervös. Vor jedem dieser Gespräche ist sie unglaublich nervös. Sie macht das alles schon sehr lange, doch diese Situation ist anders. Nichts, woran man sich gewöhnen könnte.

“Wie geht es dir, Magda? Es sind jetzt beinahe zwei Wochen vergangen, wie fühlst du dich?“

 

„Wie soll ich mich schon fühlen?“, erwidert Magda dünnhäutig. „Mein Vater ist abgehauen, dieser Mistkerl. Zu meiner Schwester hab ich auch keinen Kontakt mehr. Ich kann mit dir und meiner Mutter reden, doch wenn ich alleine bin, ist alles dunkel und trist.“

 

Sabrina setzt sich aufrecht hin und mustert ihr Gegenüber. Magdalena ist bildhübsch, groß, mit langen blonden Haaren. Doch innerlich ist diese wunderschöne Blume schon lange verblüht. Die Psychologin beschließt, nichts zu notieren. Einzig das Gespräch zählt. „Helfen dir die Unterhaltungen? Ich meine, man darf nach zwei Wochen keine Wunder erwarten, aber schaffst du es, an die Gespräche zu denken und dich daran zu klammern, wenn du alleine bist?“

 

„Manchmal. Aber meistens nicht. Ich denke sehr oft an Papa und Sophia. Das macht mich wütend. Nicht, weil sie weg sind, sondern weil ich wütend darüber bin, dass ich sie vermisse.“

 

„Aber sie sind deine Familie.“

 

„Schon. Aber irgendwie auch nicht.“ Magdalena starrt zu Boden und fixiert einen imaginären Punkt. „Mein Vater hat Sophia schon immer sehr geliebt. Sie ist erfolgreich, hat seine hohen Ansprüche stets erfüllt, ja manchmal sogar übertroffen. Sie, die Anwältin ist, nachdem sie die Uni und die Anwaltsprüfung mit Klacks bestanden hat. Mich hingegen, die kleine Popcornverkäuferin aus dem Kino, hat er nie gemocht. Obwohl Sophia und ich Zwillinge sind! Als ich dann auch noch meinen Job verloren habe, hat er mich gänzlich abgeschrieben. Und trotzdem vermisse ich die beiden, besonders nach dem, was mir vor zwei Wochen passiert ist. Das macht mich wütend.“

 

Sabrina überlegt fieberhaft, wie sie helfen kann. Sie befinden sich mittlerweile in der zehnten Sitzung, aber jedes Mal läuft es in dieselbe Richtung mit Magdalena.

 

„Dabei hätte Sophia das verdient gehabt, was ich durchmachen musste. Sie hat ein Leben lang alles bekommen.“

 

„Magdalena, sag so etwas nicht, es ist nicht…“

 

„Ich glaube wir sollten aufhören. Heute habe ich nicht das Gefühl, dass unser Gespräch mir hilft. Ich werde nur noch trauriger.“

 

„Okay, okay“, stottert Sabrina, während sie hastig aufsteht. Sie läuft um den Tisch, um Magdalena, die bereits bei der Tür ist, noch zu verabschieden. „Das nächste Mal könntest du gerne vor 21:00 Uhr zu mir kommen. Ich muss noch einiges für morgen vorbereiten, und so spät ist das sehr anstrengend.“ Magdalena nickt nur und verschwindet ins Treppenhaus.

 

 

 

Nachdenklich geht sie die Stufen aus dem ersten Stock hinunter zum Parkplatz. Als die Scheinwerfer beim Aufsperren aufleuchten, überlegt sie, mit ihrem Auto einfach gegen einen Baum zu fahren. Sie ist in Behandlung, doch selbst dadurch kann sie nicht verkraften, was ihr passiert ist. Das Leben ist so nicht mehr lebenswert. Wenn es das überhaupt jemals war. Magda lässt sich hinters Lenkrad fallen. Es ist kühl im Auto, weil sie das Fenster auf der Beifahrerseite einen Spalt offen gelassen hat. Sie lehnt sich rüber, um es nach oben zu kurbeln. Da entdeckt sie es. Ein Handy. Ein fremdes Handy. Es liegt auf dem Beifahrersitz. Wem kann das gehören? Sie schaut hinaus auf den Parkplatz. Niemand ist zu sehen. Hat es jemand in ihr Auto geworfen? Wozu? Zögerlich greift sie danach. Ein voreingestelltes Hintergrundbild von einem Wasserfall ist der Sperrbildschirm des I-Phones. Sie betrachtet ihn kurz. Dann tut sie es. Ihr Finger wischt nach oben. Sie erschrickt. Es ist entsperrt. Ohne Code oder Fingerabdruckscan. Kurz überlegt sie. Dann öffnet sie skeptisch die Kontakte. Niemand eingespeichert. Als nächstes die SMS. Es gibt keine. Sie durchforstet das Handy nach Apps wie Facebook oder Instagram, aber auch da wird sie nicht fündig. Dann öffnet sie die Galerie. Als sie das erste Bild sieht, wirft sie das Handy reflexartig weg. Sie merkt, dass ihr ein vollkommen lautloser Schrei entwichen ist, als eine kleine Stelle der Windschutzscheibe beschlägt. Das ist unmöglich. Sie sieht noch einmal hinaus, doch die Straßen sind leer. Die Laterne, die den Parkplatz in fahles Licht taucht, flackert. Keine Menschenseele ist unterwegs. Sie sitzt alleine in ihrem Wagen, mit einem fremden Handy, auf dem…. Sie kann es nicht fassen. Langsam bückt sie sich in den Fußraum, wo sie das Teil hingeschleudert hat und holt es herauf. Sie merkt, wie sie stoßartig ein- und ausatmet und versucht sich zu beruhigen. Als sie das Handy wieder entriegeln will, zittert ihre Hand heftig. Mit der anderen hält sie sie fest, um etwas runterzukommen. Sie wischt den Bildschirm nach rechts und sieht es direkt wieder vor sich. Mit offenem Mund starrt Magdalena auf das Foto. Auf das Foto von ihr selbst, wie sie mit gefesselten Händen und Knebel im Mund zwischen einigen Kartons hockt und panisch in die Kamera blickt. Automatisch, ohne, dass sie es beabsichtigt, fährt ihr Daumen nach links und rechts. Keine weiteren Bilder. Nur das eine. Eine Aufnahme von ihr. Von ihrer Entführung. Und der Fotograf kann demnach nur eine Person sein…. Ihr graut bei dem Gedanken. Ihr Entführer hat ihr ein Handy zugesteckt. Der Mann, der ihr Leben endgültig ins Chaos gestürzt hat, befindet sich in ihrer Nähe! Ohne ein weiteres Mal nach draußen zu blicken legt Magdalena den Gang ein und braust aus der Parklücke in die Nacht davon.

 

 

 

Die gut zehn Meter vom Gehsteig über den kleinen Kiesweg durch den Vorgarten bis zur Haustür ist sie gerannt. Sie klingelt. Eine gefühlte Ewigkeit steht sie angsterfüllt da, bis sie bemerkt, dass das Haus finster ist. Niemand zuhause. Hastig kramt sie in ihrer Handtasche und fingert einen Schlüsselbund heraus. Nachdem sie den richtigen Schlüssel gefunden hat, versucht sie die Tür zu öffnen. Doch er passt nicht. Magda wird noch nervöser. Wie kann das sein? Sie sieht auf das Namensschild neben der Eingangstür. S. Ettinger steht da. Sauer schüttelt sie den Kopf. Es ist das Haus ihrer Mutter und sie überprüft tatsächlich, ob sie richtig ist. Wird sie nun endgültig verrückt? In diesem Moment erschrickt sie, als der Schlüssel doch ins Schloss rutscht. Da sieht man’s: Angst ist kein guter Begleiter. Sie ist nicht verrückt, sondern einfach nur ungeschickt beim Aufsperren der Tür. Beim Hineingehen sieht sie über ihre Schulter. Sie ist alleine. Niemand steht hinter ihr. Als sie die Türe geschlossen hat, dreht sie den Schlüssel doppelt herum. Sicher ist sicher. Das Licht knipst sie nicht an, ihre Mutter könnte erschrecken, wenn sie nach Hause kommt. Stattdessen leuchtet sie sich mit der Handytaschenlampe den Weg ins Wohnzimmer. Ihre Gedanken rasen. Wie hat der Entführer sie gefunden? Wer ist er? Heftig schlägt sie sich mit der Faust gegen die Stirn. Warum bloß kann sie sich nicht an ihn erinnern. Oder an ihre Flucht. Oder an irgendwas von diesem schrecklichen Erlebnis. Verdrängt die menschliche Psyche solche Dinge? Sie atmet tief ein und aus und versucht sich zu beruhigen. Als Ablenkung betrachtet sie die Einrichtung des Hauses. Magda ist noch nicht oft hier gewesen. Ihre Mutter ist gerade erst eingezogen. Gleich nachdem ihr Vater abgehauen ist, hat sie das alte Haus verlassen. Warum genau weiß Magdalena auch nicht. Vielleicht aufgrund schlechter Erinnerungen.

 

Eine alte Lampe steht im Eck, völlig schief, mit kaminrotem Stoffüberzug, die Magda noch von früher kennt. Ein Teppich liegt unter dem Couchtisch, der überall Fusseln zu verlieren scheint. Ihre Mutter ist endlich auf einen Flachbildfernseher umgestiegen. Gut so, Magda hat die Röhrenkiste gehasst. Das Bild hat immer so geflackert. An der Wand hängen einige Fotos von einer Familie, die glücklich wirkt. Wie der Schein auf solchen Aufnahmen trügen kann, denkt Magda. In der Mitte hängen zwei Golfschläger überkreuzt. Ihre Mutter ist begeisterte Golferin. Sie selbst ist noch nie dabei gewesen. Sophia bereits einige Male als Kind. Doch darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Entkräftet plumpst Magdalena auf das Sofa. Sie weiß nicht wo ihr der Kopf steht. Einige Male hat sie schon Filme gesehen, in denen Menschen verrückt und dann weggesperrt worden sind. Sie denkt, dass ihr das momentan auch wiederfahren könnte. Wie ist sie in diesen Zustand geschlittert? Ab welchem Zeitpunkt während der Entführung hat sich ihr Gehirn einfach ausgeschaltet? Neu gestartet? Auf null gestellt? Sie kann nicht klar denken, als sie plötzlich aus ihren Grübeleien gerissen wird. Ein Schlüssel dreht sich im Türschloss. Ihre Mutter kommt heim. Hoffentlich.

 

 

 

„Mama?“, schreit sie.

„Hallo? Magdalena, bist du das?“, fragt ihre Mutter zurück.

 

Erleichtert atmet Magdalena auf und merkt, wie ihre Finger den Krallengriff um die Couchpolster lösen. Ihre Mama ist zuhause. Kein Monster, das sie fesseln und fortbringen würde. Draußen im Vorzimmer knipst ihre Mutter das Licht an und Magda tut es ihr gleich. Sie steht auf und geht zur Tür, die weiter in die Küche führt, um die Deckenlampe im Wohnzimmer einzuschalten. Als sie sich umdreht sieht sie ihn. Das Herz hüpft ihr mit einem Schlag bis zum Hals und sie hat Angst, sie könnte ersticken, weil sie so schwer Luft bekommt. Ihre Augen sind weit aufgerissen und sie merkt, wie sich ihr sämtliche Nackenhaare aufstellen. Sie träumt doch, oder? Sie ist mitten in einem Albtraum, aus dem sie hoffentlich bald erwacht. Doch je näher sie kommen, desto klarer wird ihr, dass es kein Erwachen geben wird. Gedanklich sieht sie sich bereits in der Klapse. „Entführt und verrückt geworden“, wird die Schlagzeile lauten. Ihr Gehirn spielt ihr offenbar einen Streich nach dem anderen. Zitternd löst sie sich aus ihrem wie angewurzelten Stand und tapst vorsichtig ein paar kleine Schritte in die Raummitte. Was passiert hier? Ihre Mutter ist heimgekommen. Doch nicht alleine. Wer hinter ihr steht und ihr ein Messer an die Kehle drückt, kann Magdalena zwar erkennen, nicht aber verstehen.

 

„Hallo, Magda“, zischt er. Sein Kopf ist knallrot, er scheint vor Wut zu kochen.

 

„Papa…was machst du da?“, stottert Magdalena. Sie sieht zu ihren Eltern. Ihre Mutter, panisch über den Brillenrand blickend, weil das alte Teil beinahe von der Nase rutscht. Ihr Vater, zähnebleckend mit einer im Licht bedrohlich glänzenden Klinge an Sabrinas Hals. Magda ist maßlos überfordert. Ihr Gehirn kann die Situation nicht deuten. Ihre Beine sind wackelig, sie hält sich an der Lehne des muffigen Couchsessels fest, um nicht umzukippen.

 

„Hast du mich denn nicht erwartet, Magdalena?“ Kein Fünkchen Liebe klingt in diesem Satz mit. Sie ist als Tochter für ihn gar nichts mehr wert, das erkennt sie in diesem Moment.

 

„Wie…was meinst du? Was heißt erwarten? Papa, ich….“

 

„Natürlich verstehst du nicht. Tut mir leid, dass ich dein löchriges Hirn so dermaßen überfordere!“ Der klitzekleine Fetzen Leben, der noch in Magdas Seele hängt, wird von den Worten ihres Papas scharf attackiert. Es fühlt sich an, als würde ihr Herz in Salzsäure gebadet werden.

 

„Siehst du Sabrina, genau deshalb habe ich dir geholfen. Weil sie nie und nimmer ein Gefängnis von innen gesehen hätte, mit ihrer gestörten Psyche!“

 

„Gefängnis? Mama, was redet er denn da?“ Magda kommen bereits die Tränen. Sie kann es nicht verhindern, es ist als würde ein Staudamm, der ihre Probleme zurückhält, langsam bersten. Es beginnt mit Rinnsalen, doch wird in einer Flutwelle enden.

 

„Mein Schatz, denk nach, du weißt, was du getan hast“, schluchzt ihre Mama, der bereits ein Tropfen Blut den Hals hinunter an ihre Bluse läuft. Zehn Sitzungen und kein Fortschritt ist erkennbar. Sabrina zweifelt langsam an ihren beruflichen Qualifikationen.

 

„Nein, sie weiß es nicht, Sabrina“, brüllt Richard, „Und das ist dir genauso klar wie mir!“

 

Das ist es. Sabrina kann sich auch nicht vorstellen, dass ihre Tochter versteht, was hier gerade passiert. Aber so wie sie ihren Noch-Ehemann kennt, wird er es ihr gleich erklären. Auf abscheulich brutale Art und Weise. Er ist nur ein einfacher Lagerarbeiter, wenn es aber darum geht, Magda zu beleidigen und seelisch zu verstümmeln, ist er ein redegewandter Psychopath.

 

„Hat dich Sophia noch nicht aufgeklärt, hm? Hat sie dich nicht angerufen?“, legt er los.

 

„Nein“, trieft Magda, deren Wangen mittlerweile salzige Tränenbahnen zeigen.

 

„Wie sollte sie denn auch, wenn du sie umgebracht hast, du krankes Weib!“

 

Mit einem Schlag versiegen die Tränen. Es ist, als wäre plötzlich keine Flüssigkeit mehr übrig. Magdalena versucht das Gehörte zu verarbeiten. Aber das kann sie nicht. Ihr Blick drückt das so gut aus, dass ihr Vater nicht auf eine Antwort wartet, sondern sofort weiterschimpft.

 

„Hast du dich über das Handy in deinem Auto gewundert? Vermutlich nicht, oder? Es ist Sophias Handy. Und das Foto darauf, kommt dir das bekannt vor?“

 

Magda schluckt. Ist ihr Vater ihr Entführer? Hat er das Smartphone in ihr Auto gelegt?

 

„Das Foto hast du gemacht! Kurz bevor du deine eigene Zwillingsschwester ermordet hast!“

 

Etwas zerbricht in Magdas Körper. Die Scherben bohren sich in sämtliche Nerven. Sie fällt auf die Knie. Die Tränenflüssigkeit ist wieder da und rinnt jetzt in Bächen ihr Gesicht hinab. Sie hat ihre Schwester getötet. Das Foto, zeigt nicht sie, sondern Sophia. Und geschossen hat sie es selbst. Mit Sophias Handy. Ein Krematorium ist in Magdalenas Kopf geöffnet worden, aus welchem nun die Reste von dunklen, verbrannten Erinnerungen strömen.

 

„Richard, es reicht“, hört Magda ihre Mutter winseln.

 

„Halt die Klappe!“, schreit ihr Vater und schubst Sabrina fest auf den Boden. „Du betreust den kleinen Psycho auch noch! Hast du denn gar kein Gewissen? Wir haben Sophias Leiche einfach entsorgt. Doch da hab ich nicht mitgemacht, um Magdalena zu schützen, sondern um dafür sorgen zu können, dass sie keinen Aufenthalt in irgendeiner Anstalt bekommt! Dort wäre es ihr viel zu gut gegangen, das wäre einfach unfair gewesen! Sie hat Sophia umgebracht – und dafür muss sie jetzt die Konsequenzen akzeptieren!“

 

„Richard, nicht, das musst du nicht tun! Magdalena und ich machen in der Therapie Fortschritte, erst heute, vor etwa zwei Stunden war sie bei mir in der Praxis und wir haben…“ Diese Worte registriert Magda, doch sie kann ihnen nicht folgen. Bei ihrer Mutter in der Praxis? Sie war doch bloß bei ihrer Psychologin. Langsam dämmert es ihr, doch da wird sie wüst aus ihren Gedanken gerissen.

 

„Sei still“, unterbricht Richard seine Frau harsch, „schämst du dich nicht, für diese Mörderin auch noch die Psychologin zu spielen?“. Sofort schweigt sie. Sabrina ist einfach nicht dazu imstande, sich gegen ihn zu wehren. Er ist ein dominanter Mann und trotz ihres harten Berufs ist sie privat eine feige Frau, die springt, wenn ihr Mann sie ruft und schweigt, wenn er sie ermahnt. Doch jetzt, wo sie auf dem Boden liegt, mit einer Platzwunde vom Sturz an der linken Schläfe und sieht, wie Richard mit dem Messer auf Magdalena zugeht, die noch immer schnappatmig am Boden kauert, weiß sie, dass sie etwas tun muss. Über die Jahre hat sie an den Hüften und am Po einiges zugelegt, doch vom Adrenalin hochgeputscht ist sie innerhalb von Sekundenbruchteilen bei ihrem Mann und packt seinen Arm. Ein kleiner Widerstand, der ihn von nichts abhält. Mit einem Stoß schiebt er Sabrina das Messer zwischen die Rippen. Sofort lockert sich ihr Griff. Ihre Kinnlade klappt nach unten, sie taumelt rückwärts. Während sie nach hinten stolpert, sticht Richard noch einmal zu. Und ein drittes Mal. Mit einem lauten Krach schlägt Sabrinas lebloser Körper am Boden auf. Seine eigene Frau liegt vor ihm in einer Blutlache. Er betrachtet sie. So fest er es auch versucht, nicht ein Fünkchen Mitgefühl oder Trauer steigt in ihm auf. Sie hätte nicht sterben müssen. Er hat das nicht geplant. Doch es ist ihre Entscheidung gewesen. Sie kann ihn nicht aufhalten. Magdalena, dieses nutzlose Ding, hat Sophia, seinen ganzen Stolz, in ihrer eigenen Wohnung gefangen gehalten und misshandelt. Zwischen Umzugskartons und Werkzeugkisten hat sie ihre Zwillingsschwester einfach umgebracht. Richard bereut, dass er Magdalena als Kind nicht öfter und fester geschlagen hat. Doch jetzt kann er sie von ihrem Leid erlösen, denkt er. Doch er kommt nicht dazu. Er schafft es nicht einmal, sich umzudrehen. Ein irrelauter Knacks, so als würde jemand einen ganzen Baumstamm zerbrechen, erschüttert ihn. Es ist ein Gefühl, das er noch nie verspürt hat. Dann fällt er um. Mit einem Mal sind sämtliche Gedanken ausgeknipst. Mit eingeschlagenem Haupt liegt er da, friedlich neben Magdalenas Mutter im Eck des Wohnzimmers. Am Golfschläger klebt Blut und etwas, das wie Knochenstückchen aussieht. Magdalena lässt den Schläger fallen. Ihr linkes Augenlid zuckt heftig. Er hat ihre Mama getötet, sie hat nicht anders gekonnt! Doch was hat ihr Vater da geredet? Sie soll eine Mörderin sein? Ihre Schwester ist tot? Quatsch. Sie versucht ihre Gedanken zu ordnen. Vergebens. Sie rasen wie Rennautos in ihrem Schädel umher und verursachen immense Kopfschmerzen. Magda blickt umher. Sie mustert den ganzen Raum. Ihr Schweiß durchtränkt ihr T-Shirt, die Panik in der Luft ist fast greifbar. Magdalena läuft zur Tür. Raus. Mehr kann sie nicht denken. Einfach raus und weg hier. Was ist da gerade passiert? Als sie den Kiesweg betritt, versucht sie die Geschehnisse noch einmal durchzugehen. Keine Chance. Sie weiß nicht mehr genau, wie das abgelaufen ist. Ihre Mutter hat ihren Vater bedroht. Mit einem scharfen Messer. Nein, halt, umgekehrt, ihr Vater hat ihre Mutter bedroht. Doch warum? Wieder schlägt sich Magdalena gegen die Stirn. Das kann doch nicht sein. Erlebtes kann doch nicht so schnell verdrängt und vergessen werden, oder? Sie hält inne. Soll sie noch einmal zurückgehen und nachsehen? Den Abend rekonstruieren? Das wäre ausweglos, denkt Magda. Ihr Gehirn funktioniert nicht richtig. Sie weiß nicht mal, wie ihr Auto aussieht. Erst als die Scheinwerfer beim Entriegeln aufleuchten, findet sie es. In eiligen Schritten hält sie darauf zu. Auf halbem Weg bleibt sie abrupt stehen. Sie fährt in ihre Tasche und holt ihr Handy heraus. Sie ist verwirrt, als das Hauptmenü aufleuchtet. Hat sie nicht einen vierstelligen Code festgelegt, den sie zum Entsperren braucht? Ganz durcheinander starrt sie auf die leere Kontaktliste des I-Phones. Wo ist ihr Telefonverzeichnis? Sämtliche Kontakte sind weg. Seltsam, aber egal. Sie weiß die Nummer Gott sei Dank auswendig. Sie tippt sie eifrig ein und presst das Smartphone ans Ohr. Zufrieden stellt sie fest, dass es durchwählt. Nervös kratzt sie sich am Kopf. Wieso kann sie sich Telefonnummern merken, aber was vor fünf Minuten geschehen ist, hat sie jetzt bereits wieder vergessen? Blödes Hirn, flucht sie leise. Der Anrufbeantworter geht ran. Magdalena legt auf. Soll sie es auf gut Glück versuchen und einfach hinfahren? Besser ist es, sie probiert es noch einmal mit einem Anruf. Wieder wählt sie die Nummer. Warum bloß sind in ihrem Handy keine Kontakte eingespeichert? Sie weiß, dass sie die Antwort eigentlich kennen sollte, doch sie kommt nicht drauf. Ein Nebel umgibt diese Information und verschleiert sie, wie so viele andere Dinge. Ihr Gehirn fühlt sich komplett leer an. Während das Handy durchwählt, sieht Magda auf ihre Uhr. Es ist spät und sie hofft, dass Sabrina Ettinger, ihre Psychologin, noch in der Praxis ist.

 

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