JelaDas Selbstbild

Leave your weapon on the table
Wrapped in burlap, barely able
Don’t get angry, don’t discourage
Take a shot of liquid courage

Leave a light on if you’re able
‘Cause we both know you’re unstable
Call a doctor, say a prayer
Choose a god you think is fair

Shinedown – Monsters

Das Selbstbild
Schlaf ist nur für denjenigen erholsam, der ihn findet. Wieder bin ich durch die Schläge meines Herzens hellwach.
Ich stehe auf, weil das Liegen auf der Couch schmerzt. Egal wie spät es ist, dafür ist es zu früh. Ein Blick in den Spiegel verrät mir, dass ich ebenso elend aussehe, wie ich mich fühle. Die Schatten unter meinen Augen sind schon zu Weggefährten geworden. Tiefe Furchen ziehen sich auf beiden Seiten durch meine unteren Augenlider. Ich benutze keine Faltencreme. Morgen erst sind die Geschäfte wieder geöffnet. In meinen Wimpern kleben Reste von Mascara. Meine Haare hängen wie von der Sonne ausgebleichtes Stroh auf meine Schultern herab. Vor Kurzem hatten sie die Farbe von Weizen. Jetzt scheinen sie von einer Schicht Asche überzogen zu sein.

Es ist drei Tage her, dass ich dieses Handy gefunden habe. Ein neues Modell. Seine Form war quadratisch, dabei wirket es platt getreten. Das Gerät, das ich erst für eine Spielekonsole gehalten habe, lag direkt vor meinen Füßen auf den Gehwegplatten. Der Schlüssel war mir einige Meter vor unserem Wohnhaus herunter gefallen, sonst hätte ich das Handy nicht entdeckt.
Wie einen Notizzettel hob ich es auf und der erste unsinnige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, war, dass nicht viele Daten darauf sein können. Aber die eine Datei reichte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ich legte das Handy vor mir auf die Handfläche, wie ein Blatt, das im nächsten Moment vom Wind weggetragen wird. Aber es blieb liegen und ich tippte das Display an. Ein Foto erschien als Hintergrundbild. Alles war klar zu erkennen, denn es gab keine Icons.
Eine Frau war zu sehen. Sie stand vor einem Babybettchen. Ein weinroter Teppich lag vor ihren Füßen. Er hatte eine fast kreisrunde Form. Dass es kein Teppich war, erkannte ich nur daran, dass seine Ränder tropfenförmig ausgefranst waren. Er war nicht aus Stofffasern gewebt, sondern entstand aus einem Rinnsal, das aus dem Bettchen sickerte.
Mein Magen wurde von einer Faust umschlossen, als ich erkannte, was die Frau in ihrer Hand hielt. An dem Messer klebten Reste des roten Teppichs, doch ich wusste, dass es Blut war. Vom Display aus traf mich ihr irrer Blick. Als ich ihr Gesicht unter den wirr herabhängenden Haaren genauer betrachtete, bekam ich keine Luft mehr. Die Frau auf dem Foto war ich.

Der erste Anblick dieses Fotos versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich hatte den Impuls, das Handy sofort ins Gebüsch zu werfen, doch ich nahm es mit nach oben.
Jetzt sehe ich es mir in jeder wachen Minute an. Versuche, eine Erklärung dafür zu finden, wie so ein Bild von mir existieren kann. Jemand muss das inszeniert haben und vor diese abscheuliche Kulisse ein Foto von mir eingefügt haben. Doch es gibt kein Bild, auf dem ich so aussehe. Da bin ich mir völlig sicher. Aus meinem Gesicht spricht schierer Wahnsinn. Das kann nicht ich sein.
Als Psychologin habe ich einen Blick dafür. Warum finde ich dann keine plausible Erklärung? Wann immer ich auf das Bild sehe, stechen mir meine eigenen Augen entgegen. Sie wirken in sich verdreht und entrückt von dieser Welt.

Den nächsten Tag rief ich Tina in der Praxis an. Da ich in der Nacht zuvor kein Auge zugekriegt hatte, nahm ich mir einen Tag frei. So überbrückte ich die Lücke bis zum Wochenende. Genug Zeit, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dachte ich, aber ich hatte nicht mit der Gedankenspirale gerechnet, in der ich mich jetzt direkt auf dem Weg nach unten befinde.
Ständig rast mir die Frage durch den Kopf, was das zu bedeuten hat. Ich habe kein Kind. Markus ist bis Mitte der nächsten Woche auf Dienstreise und ich will ihn damit nicht belasten. Schwanger bin ich auch nicht.

Bis auf den Einkauf habe ich meine Wohnung am Freitag nicht verlassen. Der Schwangerschaftstest war negativ, wobei ich mir nicht sicher sein kann, denn ich konnte ihn nicht kurz nach dem Aufstehen machen.
Den gesamten Freitag saß ich im Wohnzimmer und zerbrach mir den Kopf darüber, warum jemand eine Fotomontage von mir in so einer schrecklichen Szene erstellte. Und wieso legte er sie mir vor die Füße?
Ich habe im Laufe des Tages das Handy vollständig durchsucht. Das Einzige auf seinem Speicher war dieses Foto. Das Gerät besaß nicht einmal ein Telefonbuch geschweige denn die Telefonfunktion. Ich wischte auf dem Bildschirm in alle Richtungen. Immer wieder öffnete sich ein neues Fenster, doch der Hintergrund blieb derselbe. Mein irrer Blick sorgte regelmäßig dafür, dass ich eine Gänsehaut bekam, sobald ich nur das Gerät ansah.
Ich kam nicht über die Frage hinweg, wie jemand ein Foto von mir technisch derart verzerren konnte. Das kann nicht ich sein. Erst am Abend dachte ich darüber nach, Markus in seinem Hotelzimmer zu erreichen. Aber ich wusste nicht, wie ich ihm das Ganze erklären sollte.
Ein Bellen riss mich aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und ging zum Fenster. Der Innenhof war von Hecken durchzogen, die spärlich von Straßenlaternen beleuchtet wurden. Ich blickte die drei Stockwerke hinunter. Da war kein Hund zu sehen. Und niemand sonst. Doch dass Bellen hörte nicht auf. Plötzlich klang es, als stünde der Hund in  meinem Wohnzimmer. Ich drehte mich um und erkannte, dass es aus Richtung der Couch kam. Mir wurde gleichzeitig heiß und kalt, bis ich die beiden Temperaturen nicht mehr voneinander unterscheiden konnte.
Langsam bewegte ich mich auf die Couch zu. Dann sah ich ein Aufleuchten vor mir auf dem Glastisch. Ich hob das grün schimmernde Quadrat auf. Das Bild war nicht mehr allein. Es wurde in der rechten oberen Ecke von einem kleinen Briefumschlag überlagert. Darauf ein @ und eine weiße Eins in einem roten Kreis. Einen Moment starrte ich auf das Zeichen, dann tippte ich es an.
Betreffe: Kindsmord.
»Ich hätte nie gedacht, dass du zu so etwas fähig bist, Levke.« Jemand hatte mir den Boden unter meinen Füßen weggezogen. Ich war das nicht!

Seit drei Tagen bin ich wie ausgewechselt. Ich pendle zwischen den Räumen hin und her. Vom Schlafzimmer ins Bad, in die Küche, zum Wohnzimmer, alles im Wechsel. Jetzt bin ich auf der Couch gestrandet und komme nicht aus dieser Dauerschleife heraus.
Habe ich etwas Schreckliches getan und verdränge es? Dieser Gedanke kriecht wie Ameisen unter meine Haut. Das Kribbeln wird stärker. Kratzen reicht nicht mehr. Ich wippe mit den Beinen, um die Viecher herauszuschütteln.
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und wanke wieder zum Spiegel. Die Furchen unter meinen Augen setzen sich in meinen Wangen fort. Haben sich tief eingegraben in den Schatten, der dahinter liegt. Ich verwandle mich langsam in die Frau auf dem Foto.
Wieder schleiche ich zur Couch. Als ich mich hinsetze, umhüllt mich ein Gedanke, der mich seltsam beruhigt. Ich habe gar kein Kind. Es kann nichts passiert sein. Alles ist weiterhin unter Kontrolle.
Bei dieser Überlegung bemerke ich bei mir ein Schulterzucken. Das kann ein Zeichen dafür sein, dass die Belastung von mir abfällt. Doch aus der Praxis weiß ich, dass es Überforderung bedeutet.

Am Samstagmorgen wollte ich das Thema ruhen lassen. Dafür bereitete ich mir ein gemütliches Frühstück vor, fast schon kitschig mit Brötchen aus dem Ofen und dem gesamten Aufschnitt, der mir zur Verfügung stand. Frischer Kaffe, Orangensaft, alles was das Herz begehrt.
Der Duft der Brötchen schwang im Schimmer der Morgensonne durch den Raum und ließ mich glauben, es wäre ein normaler Tag. Doch beim Aufschneiden rutsche ich mit dem Messer ab und ritze mir tief in die Fingerkuppe. Sofort spurtete ich in die Küche und hielt meine Hand unter das laufende Wasser. Es vermischte sich mit dem Blut, das langsam in den Abfluss rann.
Sofort sah ich vor meinem inneren Auge das Blut, das aus dem Babybettchen sickerte. Um es abzuschütteln, schaute ich mich in der Küche um. Mein Blick fiel auf die Ablage der Spüle und ich fror in der Bewegung ein.
Dort lag das Küchenmesser. Ich war mir sicher, dass ich es zurück in den Messerblock gesteckt hatte. Es ist immer ordentlich weggeräumt. Wenn es offen rum läge, würde mich das verrückt machen. Markus war nicht da. Er hatte es nicht herausgenommen.
Als ich es berührte, bekam ich einen elektrischen Schlag. Der Geruch von Eisen stieg mir in die Nase. Im nächsten Moment hörte ich ein Zwitschern von der anderen Seite der Durchreiche. Doch es klang einförmig und trotz des Frühlings, der draußen herrschte, war ich mir sicher, dass es nicht von einem echten Vogel kam.
Nachdem ich das Messer in den Block geschoben und die Blutung gestoppt hatte, kehrte ich zur Essecke zurück. Das Zwitschern lag neben mir und wiederholte sich in einer Dauerschleife. Um dem ein Ende zu machen, hob ich das Gerät vom Tisch auf.
Neben dem Briefumschlag war ein weißes F vor blauem Grund hinzugekommen. Auf dem Icon eine Zahl von 4892 in einem roten Feld. Keine Chance mehr, es wegzulegen. Ich musste nachsehen. Es gab einen Account, den ich nicht angelegt hatte. Er trug das Titelbild der Bluttat. Darunter mein Name: Levke Silbermann. Mein Profilbild war der vergrößerte Ausschnitt meines Gesichts aus dieser Szene und der einzige Post war das gewohnte Hintergrundbild. Wie ein digitales Zählwerk, das Clicks auf einer Website registriert, ratterte der Zähler der Kommentare im Sekundentakt.
Augenblicklich legte sich eine Schnur um meine Kehle und wurde zugezogen. Ich merkte, wie mir der Sauerstoff ausging. Mit letzter Kraft torkelte ich zum Fenster und versucht, die kühle Morgenluft aufzunehmen. Ich redete mir ein, dass Zittern würde von der Kälte kommen, doch mir war klar, was mit mir geschah. Ich begann, den Verstand zu verlieren.
Immer wieder schüttelte ich den Kopf in der Hoffnung, meine Gedanken würden sich hierdurch ich einem Regal an ihrem Platz einfinden. Als ich glaubte, ich hätte sie geordnet und könnte mich wieder diesem Gerät zuwenden, hatte ich mich geirrt.
Ich schwankte zurück zum Esstisch. Mein Finger schwebte eine Zeit lang zitternd über dem Display und mein Gesichtsfeld verschwamm in Tränen.
Als ich wieder etwas sehen konnte, fiel mein Blick auf die oberste Zeile des Posts und die kurze Lebendigkeit, die mir die frische Luft verliehen hatt, verfiel sofort in Winterstarre.
»Ich habe endlich diesen Schreihals abgestochen.«
Als Psychologin kenne ich eine Vielzahl an Mechanismen, die hinter so einer Tat stecken. Bei Depressionen etwa kann es zu einer produktiv-psychotischen Symptomatik kommen. Hierbei hören die Täter Stimmen, die ihnen befehlen, das Kind zu töten. Oftmals treten Verfolgungsideen hinzu. Die Patienten sagen einhellig, dass sie nicht mehr sie selbst waren. Danach setzt meist die Verdrängung ein.
Aber ich höre keine Stimmen.
Das Kopfschütteln war wieder da. Aus weiter Ferne zwitscherte der Vogel. Doch ich brauchte lange, um wieder auf das Handy zu blicken. Das Vögelchen trug einen grünen Telefonhörer im Schnabel. Auf ihm stand eine 143 in einem roten Feld. Das Symbol anzutippen geschah fast automatisch. Der Chat hieß Shitstorm. Ich legte mir die Hand vor meinen Mund und schüttle wieder den Kopf. Die Nachrichten quollen über. Daher tippte ich auf die Gruppe. Aber mir war nicht klar, dass ich diesem Sturm nicht standhalten konnte. Ich las nur die ersten Zeilen. Dort standen Beleidigungen und Urteile von Menschen, die ich nicht einmal kannte. Ich schaffte es nicht, weiterzulesen. Ich könnte mir das nie verzeihen! Wenn ich ein Kind hätte, könnte ich mir nicht einmal vorstellen …
Ein neuer Chat kam hinzu. Jemand hatte mir eine Nachricht geschickt. Obwohl die Morgensonne Helligkeit im Raum verströmte, wurde ich augenblicklich in den grellen Lichtkegel des Handys hineingesogen. Die App zeigte in einem Fenster an, dass der Absender nicht in meinen Kontakten gespeichert war und gab mir die Möglichkeiten Spam zu melden, zu blockieren oder ihn hinzufügen. Schnell speicherte ich die Nummer ohne einen Namen.
Im Chat stand +49 und eine Handynummer. Die Zahlen tanzten vor meinen Augen und veränderten sich ständig. Der Name ~Mnemonic saß auf der anderen Seite der Zeile.
~Mnemonic
»Es gibt nur eine Möglichkeit, hier raus zu kommen.«
Mir fiel nichts Besseres ein.
Levke
»Wer ist da?«
Erst passierte nichts, dann sah ich am oberen Rand des Bildschirms das Wort online, danach schreibt …
~Mnemonic
»Du hast es in der Hand.«
Ich wandte meinen Kopf vom Display zu meiner Rechten. In ihr hielt ich das Küchenmesser.
Jemand hatte auf einmal die gesamte Luft aus meinen Lungen geschlagen. Sie waren leer und ich verspürte nicht mehr den Drang einzuatmen. Ich war mir sicher, dass ich es vorhin im Messerblock verstaut hatte. Als wäre es aus der Esse eines Schmiedes in meine Hand gelegt worden, ließ ich es zu Boden fallen. Die Hitze des Metalls hinterließ einen Abdruck auf meiner Haut und ich wischte mir sofort die Hand an der Hose ab. Was blieb, war ein Kribbeln in Form der Waffe, die ich eben in Händen hielt. Es schlüpfte unter meine Haut und stieg von dort meinen Unterarm hinauf. Doch als ich zu Boden sah, war das Messer verschwunden.
Mir wurde klar, dass ich halluzinierte. Ich brauchte unbedingt ein Beruhigungsmittel und rannte in den Flur. Es fiel mir schwer zu laufen, denn meine Gliedmaßen hatten sich aufgebläht. Zuerst humpelte ich in die Küche, nahm ein Glas Wasser mit und lief dann hinüber ins Bad.
Der Medikamentenschrank stand offen. Sein Inhalt war durcheinander geworfen und es sah aus, als hätte jemand Tabletten herausgenommen. Auf einmal verschmolz mein Rücken mit der Wand hinter mir. Ich hätte nicht mehr alleine stehen können. Mir schossen sämtliche Personen durch den Kopf, die Zutritt zur Wohnung hatten. Markus war auf Dienstreise. Doch er nahm niemals so viele Medikamente mit. Er verzichtete sogar auf Schmerzmittel, wenn sie nicht nötig waren. Meine Mutter hatte einen Schlüssel. Und Tina. Doch das ergab alles keinen Sinn.
Ich trat einige Schritte vor und stützte mich auf den Rand des Waschbeckens. Dabei stieß ich gegen etwas aus Metall. Es klirrte und ich dachte zuerst an die Haarschere. Doch als ich ins Becken sah, verwandelte sich das Blut in meinen Adern zu Eis. Ich war gegen das Küchenmesser gestoßen. Ungläubig blickte ich es an und konnte mir nicht erklären, wie es ins Bad gekommen war.
Schnell griff ich in den Medikamentenschrank. Wie ein wild gewordenes Eichhörnchen wühlte ich in den Resten der Pappschachteln, um ein Beruhigungsmittel zu finden. Nichts. Die verschreibungspflichtigen Medikamente waren verschwunden. Ich fand nur etwas gegen Schmerzen und einige Duftöle. In der Hoffnung, eines davon könnte mir helfen, nahm ich eine Mischung mit Lavendel. Sie trug den Namen Schlaf schön, was mich unfreiwillig auflachen lies. Damit bewaffnet hetzte ich ins Wohnzimmer und warf mich auf die Couch. Ich drückte meinen Rücken fest an das Polster.
Nach langem Starren auf den Glastisch überwand ich die Lähmung und drehte das Fläschchen auf. Dann hielt ich es mir unter die Nase und war überrascht davon, wie schnell meine Muskeln auf den Duft der Provence reagierten. Sie lockerten ihren Griff um meinen Brustkorb und mein Rücken konnte tiefer in die Kissen einsinken.
Ich schloss die Augen und sah den Garten meiner Eltern vor mir. Wie ich über die Terrasse zur Tür laufe und langsam ins Wohnzimmer gehe, um dann zu erstarren. Vor mir stand eine Wiege, die leicht schaukelte, als hätte sie jemand angestoßen. Darunter bildet sich eine dunkle Lache.
Ich schüttelte das Bild sofort wieder aus meinem Kopf. Es dauerte einige Minuten. Doch ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, was ich meinen Patienten in solche Situationen riet. Sie sollten sich durch die Konzentration auf ihren Geist oder die aktive Entlastung der Muskeln entspannen. Seufzend legte ich mich hin, schloss die Augen und begann mit autogenem Training. Durch die gedankliche Fokussierung auf meine Gliedmaßen und deren Manipulation durch das Einreden von Schwere, versuchte ich die überschießende Stressreaktion zu reduzieren.
Ich lag lange da, suggerierte mir Wärme und Durchatmung, doch es stellte sich keine Veränderung ein. Mein Herz kam nicht zur Ruhe. Ich versuchte, die ganze Zeit es zu verlangsamen, doch es zappelte in meinem Brustkorb, als wollte es sich hinaus arbeiten.
Ich sollte mir Hilfe holen. Am Montag würde ich mit Tina sprechen. Ich nahm mir fest vor, sie zu fragen, ob sie mir mit ihrer Hypnose-Methode weiter helfen könne. Jetzt musste ich den versäumten Schlaf nachholen. Aber ich kam nicht zur Ruhe.
Plötzlich spürte ich einen Lufthauch auf meiner Wange. So nah, als hätte jemand einen Kuss auf sie gehaucht. War Markus zurück?
Ich riss meine Augen auf und schoss in die Höhe. Wie ein Stock saß ich auf der Couch und suchte den Raum ab. Das Wohnzimmer war mittlerweile vom Licht der Sonne durchflutet. Die Möbel und Pflanzen waren vom Frühling eingenommen worden. Doch ich steckte im Winter fest und konnte nicht hinüber. Auf einmal blies mir jemand in den Nacken. Ich zog sofort meine Schultern hoch und ein Kribbeln befiel meine Arme. Dann passierte es. Ein Scheppern in der Küche fror mich ein. Ich musste nicht nachsehen. Ich wusste es. Schloss meine Augen, weil ich nichts mehr sehen wollte. Doch durch mein Lid stach das Bild des Küchenmessers in der Spüle und brannte sich tief in meine Netzhaut.

Jetzt liege ich nur noch auf der Couch herum. Das Zittern hat seit Stunden nicht mehr aufgehört. Es ist Sonntag Nacht. Die Sonne ist vor langer Zeit hinter den Häusern verschwunden und ich kriege immer noch kein Auge zu. Ich will, dass alles wieder normal ist.
Das Handy hörte in den vergangenen Stunden nicht mehr auf, mich mit Tierlauten zu bombardieren. Ich habe mehrmals versucht, das Gerät auszuschalten, doch ich finde keinen Knopf dafür. Langes Drücken aufs Display funktioniert nicht. Ich bringe es nicht zum Schweigen. Jetzt liegt es unter einem Kissen, damit es mich nicht anleuchtet und ich es vergessen kann.
Das Geräusch einer Eule fliegt auf einmal an mir vorbei. Ich blicke vom Kissen auf und sehe hektisch nach, ob sich ein Raubvogel in mein Wohnzimmer verirrt hat. Dabei rast mein Herz, als wäre ein Messerstecher bei mir in der Wohnung. Es ist drei Tage her, dass ich das Handy gefunden habe und ich bin nicht mehr die Frau, die ich vorher war.
Der Schrei des nächtlichen Waldgeists erklingt erneut. Durch das gleichzeitige Aufleuchten unter dem Kissen wird mir klar, dass er vom Handy kommt.
Die steigenden Zahlen im Shitstorm und in der Social Media App ignoriere ich. Doch es gibt eine neue Nachricht auf dem Telefonhörer.
~Mnemonic
»Nimm es in die Hand!«
Levke
»Was willst du von mir?«
~Mnemonic
»Nimm es an.«
Erneut der Eulenlaut. Ein anderer Chat kommt hinzu.
Mama schreibt …
Mama
»Geht’s dir besser, mein Schatz?«
Levke
»Woher weißt du, dass ich kran…«
Ich lösche ein paar Zeichen. Die Buchstaben lassen sich kaum zusammensetzen.
Levke
»Woher weißt du es?«
Mama
»Eine Mutter weiß immer, wenn es ihrem Kind schlecht geht.«
Ich kann mir das nicht vorstellen. Als Mutter würde ich völlig versagen, wenn ich schon für möglich halte, dass ich mein eigenes Kind töte. Ein Kind, das ich nicht einmal habe.
Erneut der Eulenruf. Ich springe zum neuen Chat.
Tina
»Alles in Ordnung, Levke? Warum bist du noch wach?«
Schnell werfe ich einen Blick auf die Uhrzeit im Nachrichtenfenster. Diese Meldung trägt den Stempel 03:42 Uhr. Dann verschwimmen die Zahlen. Ich wundere mich, dass es schon so spät ist. Die Nacht hatte doch erst begonnen. Auf einmal bin ich endlos müde und weiß, dass ich morgen nicht zur Arbeit komme. Daher antworte ich Tina.
Levke
»Aus gesundheitlichen Gründen bleibe ich morgen noch zu hause.«
Tina
»Du bist nicht krank.«
Das musst du schon mir überlassen, denke ich. Dann schießt mir auf einmal durch den Kopf, dass Tina die Nummer dieses Gerätes gar nicht haben kann. Ich kenne sie selbst nicht. Tinas Kontaktdaten sind hierin unmöglich gespeichert, es sei den …
Die Couch beginnt zu schwanken, doch ich bewege mich nicht. Jemand hat mich mit Gurten an ihr fixiert. Meine Beine, mein Brustkorb, sogar meine Schultern sind festgebunden und zu keiner Bewegung fähig.
Dafür rast mein Gehirn. In ihm steckt nur ein einziger Gedanke, doch der zieht seine Bahnen. Tina ist es. Sie will mich in den Wahnsinn treiben. Dann bin ich raus aus der Praxis und sie kann mit ihrer Hypnotherapie das große Geld machen.
Aber warum so? Warum will sie mich fertig machen?
Ich atme tief durch, soweit die Gurte es zulassen. Dann schüttle ich den Kopf. So etwas kann ich mir nicht vorstellen.
Doch nach dieser Geschichte ist mein Ruf ruiniert. In den sozialen Netzwerken glauben tausende Menschen, ich hätte mein Baby ermordet. Vielleicht klärt sich alles auf, wenn ich mir Hilfe holen. Aber ich könnte mich nicht mehr auf der Straße sehen lassen, geschweige denn in der Praxis.
Habe ich mein Kind erstochen? Konnte ich das so tief verdrängen, dass ich mich nicht einmal daran erinnere ein Kind zu haben?
Ich winde mich in einem Heulkrampf zur Seite und bleibe zusammengekauert auf der Couch liegen. Wenn es so wäre, könnte ich mir das nie verzeihen.
Auf einmal höre ich einen Schrei hinter mir in der Wohnung. Mein Herz rast sofort los, aber mein Körper kommt nicht mit. Es war ein Schrei aus voller Kraft, dabei zu hell, um von einem menschlichen Wesen zu stammen. Langsam rolle ich mich aus den Polstern und stehe auf. Mein Blick fällt auf das Küchenmesser, das auf dem Glastisch auf mich gewartet hat. Ich soll es in die Hand nehmen. Es gibt keinen anderen Weg.
Das Messer in der einen, das Handy in der anderen Hand stolpere ich mit Knien aus Gummi in den finsteren Flur. Das Gerät ist meine einzige Lichtquelle.
Kurz bevor ich auf halber Strecke bin, ertönt erneut dieser Schrei. Doch er verwandelt sich in ein verzerrtes Wimmern, immer wieder durchstoßen von einem Kreischen. Ich höre, dass es aus dem hintersten Raum kommt, dem Schlafzimmer.
Leise schnappe ich nach Luft. Mein Herz ringt darum, aber ich traue mich nicht, durchzuatmen. Jeder Schritt wird zur Qual, bis sie kurz vor dem Türrahmen unerträglich wird und ich anhalte. Die Tür steht halb offen und die Schreie hören nicht auf. Einige Sekunden vergehen, in denen ich das Messer fester umfasse und es nicht wage, um die Ecke zu blicken.
Dann zieht das Leuchten des Handys meine Aufmerksamkeit auf sich.
~Mnemonic
»Du kannst es tun.«
Das Aufschreien kommt häufiger und das Wimmern ist flehender geworden.
Wie die unsichtbare Linie überschritten wird, die wir uns immer selbst einreden und die für uns viel zu oft ein unüberwindliches Hindernis darstellt, werde ich nie begreifen. Aber ich fasse all meinen Mut zusammen, schiebe die Tür auf und blicke um den Türrahmen.
Vor mir liegt ein Baby im Kinderbettchen. Es ist niemand sonst im Raum. Als ich näher herantrete, sehe ich das Kind in einem Schlafsack zappeln und höre seine Schreie. Sie sind in die Mischung aus Quaken und Kreischen übergegangen, die ich von meiner Tochter kenne. Die Dinge, die zuvor meine Hände blockierten, lasse ich auf den weinroten Teppich fallen und laufe zu dem Bettchen hinüber. Sofort nehme mein Kind hoch und drücke es fest an mich. Jetzt schluchzt es aus tiefster Seele und ich fange an, mein Baby auf und ab zu wippen. Gleichzeitig beruhigt mich diese Bewegung und ich atme zum ersten Mal seit Tagen wieder durch.
Plötzlich werden meine Arme und Beine leicht und ich tauche aus der klebrigen Luft dieses Raumes auf. Eine klare Flüssigkeit entsteht unter meinen Füßen und spült mich und meine Tochter hoch. Ich halte sie weiter fest im Arm. Im nächsten Moment gleite ich aus dem Schwimmbecken, das aus meinem Schlafzimmer geworden ist an eine schimmernde Wasseroberfläche. Über mir sehe ich verschwommene Bilder. Meine Tochter zappelt und lockert hierdurch meinen Griff. Sie wird immer leichter und ihre Konturen lösen sich auf.
Mit dem nächsten Wimpernschlag wird alles dunkel. Als ich meine Augen öffne, liegt auf mir der gedeckte Farbton eines schlichten Raumes im Alltag. Wenn nichts Besonderes passiert ist und der Tag alle Materie nüchtern zusammenhält.
Ich blinzle ins Halbdunkel und fange an, die Schwere meines Körpers wahrzunehmen, zu genießen. Ich liege auf dem Therapiesofa unserer Praxis. Tina sitzt mir gegenüber und lächelt mich an, wie eine Mutter ihr Kind anblickt, dem sie zuvor eine Weile beim Aufwachen zugesehen hat.
»Wie fühlst du dich, Levke?«
Ein wenig benommen blicke ich mich um und strecke meine Glieder. Mit zittrigen Armen setze ich mich auf und schüttle den Kopf. Meine Nackenmuskulatur war nie so locker nach dem Schlafen.
»Gelöst«, hauche ich ihr entgegen und merke erst jetzt, dass ein Lächeln auf meinen Lippen liegt.
Dann höre ich meine Tochter im Vorzimmer quaken. Ich hatte sie in der Obhut unserer Arzthelferinnen gelassen, bevor wir mit der Sitzung anfingen.
Langsam stehe ich von der Couch auf und gehe in den Nebenraum, aus dem das freudige Glucksen meiner Tochter und der Kolleginnen zu hören ist.
Ein Lichtstrahl fällt durch den Türspalt, als ich die Klinke herunter drücke. Ich trete hinein, blicke in ihre Augen und bin mir sicher, dass ich meiner Tochter nie etwas antun könnte.

13 thoughts on “Das Selbstbild

  1. Wow, das hatte was von Poe. Nur das Ende finde ich sehr verwirrend. Warum hat sie sich in die Hypnose begeben? Wurden ihr ihre Erlebnisse unter Hypnose suggeriert oder waren sie ein Traum?
    Dein Stil hat mich jedenfalls durch alle irrealen Wahrnehmungen gesogen, großartig!

    1. Vielen Dank! Es ist interessant, dass den meisten das Ende nicht ganz klar wird. Ich hatte tatsächlich vor, dass nichts an der Geschichte ganz klar wird und Spielraum für Interpretation entsteht. Allerdings hatte ich am Ende nur noch diesen Weg des Aufwachens, um aus der Sackgasse heraus zu kommen. Ich empfand es beim Schreiben als Erlösung und habe mich immer wieder darauf gefreut, das Ende zu lesen.
      Gleichzeitig habe ich erst in der “Verlängerung” angefangen zu schreiben und der Zeitdruck war dementsprechend so groß, dass ich die Geschichte niemanden vor Abgabe lesen lassen konnte. Ich freue mich sehr, dass die irreale Wahrnehmung so gut raus kommt. Beim Schreiben verliere ich mich oft darin und weiß nicht, wie sie von außen wirkt.

  2. Du kannst richtig gut Spannung erzeugen und deine Beschreibungen sind ziemlich detailliert, sodass man sich alles gut vorstellen kann.
    Ich finde die Idee mega interessant, dass eine Psychologin selbst eine Therapie benötigt, um mit ihren Problemen fertig zu werden. Mir fehlte allerdings am Ende eine Auflösung, wieso sie eine Therapie macht. Aber insgesamt eine tolle Geschichte!

    1. Die Idee mit der Therapeutin, die eine Therapie braucht kam mir erst im Laufe des Schreibens. Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass andere Leser die Spannung wirklich so empfinden. Beim Schreiben habe ich das Gespür dafür verloren, ob es weiterhin spannend ist, oder die Spannung steigt.
      Ich habe tatsächlich beabsichtigt, dass nicht alles am Ende genau aufgelöst ist, bis auf den Druck, der auf der Protagonistin lastete.

  3. Unglaublich! Eine tolle Geschichte!
    Das Ende lässt mich einigermaßen ratlos zurück, aber selbst das gefällt mir. An keinem Punkt der Story hatte ich das Gefühl wirklich zu wissen, was eigentlich los ist. Extrem fesselnd und bildhafte Sprache. Großes Kompliment!
    P.S.. vielleicht hast du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen. Über ein Feedback würde ich mich freuen!
    >>Glasauge

    1. Das war der Plan. Die Geschichte sollte so sein, dass nie richtig klar ist, was passiert und wieso. Das Ende sollte vor allem für die Protagonistin eine Erlösung sein.
      Ich persönlich mag es in Büchern und Filmen etc. sehr, wenn das Ende nicht ganz klar wird und ich die Story weiter spinnen kann. Ich kann allerdings auch verstehen, wenn jemand zum Schluss einen Aha-Effekt braucht. In dieser Geschichte sollte es nicht darauf hinaus laufen.
      Schön dass meine Bildsprache so gut ankommt und ich tatsächlich Spannung erzeugen kann. Dessen war ich mir bisher in dieser Form nicht bewusst.

  4. Wow, eine tolle Geschichte! Ich habe es sehr genossen sie zu lesen. Besonders gefallen hat mir Deine wirklich bildliche Sprache. Die Geschichte wurde zum Ende hin immer spannender und das Ende habe ich nicht vorhergesehen.
    Einziger Kritikpunkt: das Ende ist nicht ganz schlüssig und man weiß nicht wirklich, wie es zu dieser letzten Szene kommt.

    Mein Insta-Account: liondoll
    Meine Kurzgeschichte: Stumme Wunden

    1. Schön dass die Spannung so gut rüber kommt und Du Gefallen an meiner Geschichte hattest. Ich experementiere zurzeit bei allem was ich schreibe mit den Themen Traumwelten, Wahrnehmung, Unterbewusstsein, Transzendenz,… Das sind vor allem meine Themen.
      Der Bereich Spannung und Thriller war für meine eigenen Geschichten eher fremd und daher habe ich mich länger gescheut, bei #wirschreibenzuhause mitzumachen. Hat sich auf jeden Fall gelohnt, denn so habe ich ein erstes Gefühl dafür bekommen, wie andere meine Geschichten erleben. Interessant ist für mich zu erkennen, dass diese Themen großes Potenzial für Verwirrung haben und ich noch üben darf, um die gewünschten Effekte zu erzielen.

  5. Ich muss dir ehrlich gestehen, dass ich das Ende der Geschichte wohl nicht richtig geblickt habe. War jetzt nur alles Einbildung gewesen? Levke hatte ein Baby aber es vergessen? Warum? Das wurde mir irgendwie nicht deutlich. Dein schreibstil – besonders dein erster Satz, hat mich hingegen total überzeugt! Dran bleiben 🙂

  6. Ich schließe ich den anderen an: das Ende war etwas enttäuschend. Aber kurz vorher war es unsagbar spannend. Ich fand allerdings den Schreibstil an sich auch etwas verwirrend- sprünge von Gegenwart und Vergangenheit. Selbst wenn du damit erreichen willst, dass die Leser genauso enthoben von der Realität sind, wie die Protagonistin, hätte ich bei einem Roman wahrscheinlich aufgehört zu lesen. Ich wusste allerdings, dass es bald zu Ende ist, also hab ichs durchgezogen. Und paar Zeilen später wurde es so spannend 🙂

  7. Moin und liebe Grüße

    Deine Geschichte hat mich gefesselt und berührt.

    Du hast ein riesiges Potenzial.
    Und Talent.

    Du hast viele Fragen offen gelassen.
    Mich zuweilen verwirrt.

    Aber das ist Kunst.

    Das darf bei einer Geschichte so sein.

    Ich lass dir liebend gerne ein Like da.

    Du hast es dir verdient.

    Sei stolz auf dich.

    Deine Geschichte ist eine großartige Geschichte.

    Vielen Dank dafür.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Ich würde mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt :

    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

  8. Moin Jela,

    schön wie du aus Worten Bilder malen kannst. 👍🏻
    Dein Stil ist, nennen wir es mal eigen, was ja nie was schlechtes ist. Viele haben gar kein eigenen Stil, somit bist du anderen schon voraus.
    Ich fand deinen Plot sehr gut und bin etwas verwirrt bzgl der anderen Kommentare bzgl des Endes. Hast du da noch einmal nachgebessert? Denn für mich ist es alles klar. Levke befindet sich in ihrer Gedankenwelt, in der Therapie und wacht dann auf…alles was vorher war, ist nur die Manifestation ihrer Gedanken, oder?
    Hmmmm?

    Mir hat deine Geschichte gefallen und dafür bekommst du ein Like!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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