KriHaDas Versprechen

Lars Erichsen und Kristin Harnisch

Das Versprechen

 

 

1

Er war mittlerweile bei seinem fünften Vodka angekommen. Wie viele würde er noch brauchen, um endlich eine berauschende Wirkung zu verspüren? Manchmal fragte er sich, ob an dem Klischee, Russen würden Vodka bereits mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, etwas dran war. Er gab dem düster dreinschauenden Barkeeper ein Zeichen. Vermutlich sah dieser tagtäglich dieselben traurigen Gestalten in seiner Kneipe. Kein erfüllender Job. Nicolaj dachte darüber nach, ob er selbst zufrieden war, mit dem was er tat. Eigentlich gab es heute etwas zu feiern. Endlich hatte er seinen Job erledigt. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen und er war seiner Tätigkeit wie immer sehr gewissenhaft nachgegangen. Dennoch verspürte er eine tiefe Anspannung. Da half auch das ganze Gesöff nichts. Er kippte seinen sechsten Kurzen runter und ging dann zur Toilette. Was war bloß los mit ihm? Er war doch sonst so cool und souverän. Irgendetwas störte ihn. Eine dunkle Vorahnung machte sich in seinen Gedanken breit.

Im Toilettenraum war kein Mensch. Überhaupt war die Kneipe nicht sonderlich gut besucht. Er hatte nur zwei weitere Personen gesehen. Eine davon zog sich nonstop Bier rein und gab einen äußerst erbärmlichen Anblick ab. Der andere Typ verbrachte schon den ganzen Abend am Spielautomaten. Alkohol- oder Spielsucht – Nicolaj fragte sich, was er beschissener fand. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und kehrte dann zurück an die Theke, um sich die beiden Kerle genauer anzuschauen.

Als er sich dem Barhocker näherte, lag dort ein Handy. War ihm sein Smartphone etwa aus der Hosentasche gerutscht? Schnell fasste er sich an seinen Arsch und stellte zufrieden zwei Dinge fest: Sein tägliches Training zahlte sich aus und sein Handy war noch da, wo es sein sollte. Welcher Depp hatte dann ein Handy auf seinem Platz abgelegt. Er sprach den Barkeeper an, der jedoch nichts mitbekommen hatte und nur mit den Schultern zuckte. Merkwürdig. Er nahm das Smartphone in die Hand und konnte es ohne Pin oder Fingerabdruck entsperren. Wie konnten Menschen nur so unvorsichtig sein? Aber wenigstens konnte er so sicher schnell den Besitzer des Handys ausfindig machen. Auf dem Bildschirm erschien ein Foto. Schlagartig gefror ihm das Vodka getränkte Blut in den Adern. Auf dem Foto war eine intime Situation einer ihm sehr vertrauten Person zu sehen. Nicolaj zweifelte bereits an seinem Verstand und fragte sich, ob der Alkohol ihn doch benebelt hatte. Aber es gab keinen Zweifel. Die Person auf dem Foto war er selbst! Und zwar nackt, unter seiner Dusche. Jemand war in seinem Zuhause gewesen. Jemand hatte unbemerkt ein Foto von ihm geschossen. Und nun lag dieses Handy plötzlich in der Kneipe, in der er sich gerade in aller Ruhe abschießen wollte. Er wischte das Foto weg und bekam ein weiteres zu sehen. Wieder sah er sich selbst, jedoch vor einem Blumenladen. Was zur Hölle sollte das Ganze? Er schaute auf und betrachtete die drei Gestalten in der Kneipe. Den Barkeeper, den Biertrinker, den Spielsüchtigen. Keiner von ihnen interessierte sich für ihn oder das Handy in seiner Hand. Es musste sich noch eine weitere Person in der Bar befinden. Wieder sprach er den Barkeeper an, doch der konnte seinen Verdacht nicht bestätigen. Und er war der Einzige, der es hätte mitbekommen müssen. Die anderen beiden Vögel waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er hatte es geahnt. Irgendetwas war von vorneherein faul gewesen.

In Gedanken ging er noch einmal seinen Tagesablauf durch. Er hatte das Mädchen in die Wohnung am alten Park gebracht. Es war bereits dunkel gewesen und er war sich zu 100% sicher, dass ihm Niemand gefolgt war. Dem Mädchen hatte er selbstverständlich zuvor das Handy abgenommen, damit es keinen Kontakt zur Außenwelt herstellen konnte. Sie hatte protestiert, aber es ging nicht anders. Danach war er direkt in diese Dreckskneipe unweit der Wohnung gegangen. Die Fotos mussten einen Tag zuvor aufgenommen worden sein. Gestern hatte er wie immer seinen Körper in Form gebracht, duschte und ging anschließend zu dem Blumenladen, der auf dem Weg zu seiner geheimen Zweitwohnung lag. Die Blumen hatte er gekauft, damit das Mädchen sich einigermaßen wohl fühlte. Was für eine Schnapsidee! Dabei hatte ihn offensichtlich Jemand beobachtet und war ihm womöglich bis zu dem Versteck gefolgt. Was bedeutete, sein gut gehütetes Geheimnis war nicht mehr sicher!

2

Nicolaj knallte dem nun irritiert drein schauenden Kneipenbesitzer das Geld auf die Theke und rannte raus auf die Straße. Ohne jede Vorsicht sprintete er durch den Park zur Wohnung. Wenn er das tatsächlich vermasselt hatte, würde er seines Lebens nicht mehr froh werden. Er würde seinen Job, seinen Ruf, sein Ansehen, einfach alles verlieren! Er schloss auf, stürmte die Treppe rauf zum Dachgeschoss und musste sich beherrschen, nicht die Tür einzutreten. Das Schloss der Eingangstüre war unversehrt. Es war also schon mal Niemand gewaltvoll eingedrungen. Als er die Wohnung betrat, sah er sie sofort. Sie saß auf der Couch und schaute sich irgendeinen Disneyfilm an. Erleichtert seufzte er. Das Mädchen würdigte ihn keines Blickes. Vermutlich war sie immer noch sauer wegen des Handys. Apropos. Er zog das fremde Kneipen-Handy aus der Tasche, um sich noch einmal die Fotos anzuschauen. Plötzlich registrierte er, dass eine Nachricht eingegangen war. Eine SMS einer unbekannten Nummer mit einer schlichten Aufforderung: Erinnere dich!

Ihm zog sich der Magen zusammen. Das war doch verrückt! In seiner gesamten Laufbahn war ihm so etwas noch nie passiert. Nie ließ er sich aus der Ruhe bringen. Das war seine Begabung. Er arbeitete effektiv, gewissenhaft und vorausschauend. Dieses Mal musste ihm etwas entgangen sein. Er konnte es nicht fassen! Ausgerechnet ihm! Ausgerechnet bei diesem Fall!

3

Nicolaj Rebak arbeitete als Personenschützer. Früher war er ein Niemand. Kein Schulabschluss, eine Familie, die sich einen Dreck um ihn scherte, kein fester Wohnsitz. Er schlug sich mit Gelegenheitsjobs so gut es ging durch, bis er eines Tages unverhofft ein Angebot bekam, das sein Leben veränderte. Seitdem hatte er sich einen Namen auf seinem Gebiet gemacht. Er war stolz auf das, was er erreicht hatte. Sein Leben war anstrengend, aber gut. Mit seinen 46 Jahren war er im besten Alter. Sein tägliches Training hielt ihn nicht nur körperlich fit. Seiner charmanten Ausstrahlung hatte er ein erfülltes Sexleben zu verdanken. Doch seit mittlerweile sechs Jahren war er in einer festen Beziehung. Niemals hatte er damit gerechnet, dass er sich einmal so verlieben könnte. Janine war einfach umwerfend. Er begehrte sie, wie keine andere Frau jemals zuvor. Und er wusste, wie sehr sie auch ihn begehrte. Sein Leben hätte nicht besser sein können, bis zum heutigen Tage.

Etwas riss ihn aus seinen Gedanken. Das Mädchen schaute ihn mit großen Augen an. Hatte sie etwas gesagt? „Bist du krank? Du siehst blass aus.“ Er musste sich jetzt zusammen reißen. Die Kleine sollte nicht beunruhigt sein. „Alles Ok, Danke der Nachfrage. Und bei dir? Welchen Film schaust du dir an?“ „Das siehst du doch: Arielle, die Meerjungfrau. Setzt du dich zu mir?“ Oh Gott, mit Disney-Filmen konnte er so gar nichts anfangen. Außerdem musste er sich schnellstens um das Problem kümmern. Was sollte er jetzt unternehmen? War das Mädchen hier nach wie vor in Sicherheit?

Malinka war die 11-Jährige Tochter des reichsten Mannes in Moskau. Dieser hatte es sich bedauerlicherweise mit sehr üblen Typen verscherzt. Er befürchtete, dass man seine Tochter entführen und ihn erpressen würde. Nikolajs Aufgabe bestand nun darin, Malinka so lange zu beschützen, wie es dauern würde, bis Sergej Tarasov seine Angelegenheiten geregelt hatte.

Plötzlich vernahm er ein Geräusch. Sofort war er hochkonzentriert, spannte alle Muskeln seines makellosen Körpers an und schlich zur Haustüre. Er lauschte angestrengt, konnte jedoch nichts Verdächtiges hören. Ein Blick durch den Türspion verriet ihm, dass er sich getäuscht hatte. Es war Niemand dort. Vielleicht wurde er schon paranoid. Er hätte einfach heute Abend nichts trinken sollen. So einen Fehler würde er auch nicht noch einmal begehen. Wie also würden seine nächsten Schritte aussehen? Er musste an die Orte gehen, wo er fotografiert worden war. Und dann lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Er war Zuhause fotografiert worden. In dem Haus, das er gemeinsam mit seiner Freundin bewohnte. Was, wenn auch sie in Gefahr war? Schnell wählte er ihre Nummer und war erleichtert, dass sie sofort abnahm. „Wo treibst du dich so spät noch rum und wann kommst du endlich nach Hause?“ fragte sie ihn in einem leicht säuerlichen Tonfall. „Geht es dir gut? Ist bei dir alles in Ordnung? Hast du abgeschlossen und die Alarmanlage aktiviert?“ „Du jagst mir Angst ein, was ist denn los?“ Ok, das war taktisch nicht allzu clever gewesen, direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Er durfte sich nicht von seinen Gefühlen übermannen lassen und musste dringend die Ruhe bewahren. „Ich weiß auch nicht, ich bin da in etwas hineingeraten und habe mir Sorgen um dich gemacht.“ „Was genau ist denn passiert?“ „Je weniger du weißt, umso besser. Ich komme jetzt nach Hause. Bis gleich!“ Er legte auf und fasste kurzerhand einen Plan: Tarasovs Tochter musste mitkommen. Nur bei ihm war sie wirklich sicher. Gut, dass er seinen Wagen ganz in der Nähe geparkt hatte. Auf dem Weg nach Hause würde er kurz bei dem Blumenladen halten und nach Hinweisen suchen. Er durfte keine weitere Zeit verlieren. „Malinka, du musst den Film ein anderes Mal weiter schauen. Wir Beide machen jetzt einen Ausflug.“ „Jetzt noch?“ Wieder schaute ihn das Mädchen mit ihren großen braunen Augen an. Manchmal wünschte er sich, er hätte selbst Kinder. Andererseits würde er dann wahrscheinlich ständig in Angst um seine Nachkommen leben. Die Welt war einfach grausam. „Wir fahren zu meiner Freundin. Sie wird sich um dich kümmern.“ „Ok.“ Er hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Umso besser. Nach einem erneuten Blick durch den Türspion, verließ Nicolaj mit dem Mädchen an der Hand die Wohnung. Unten angekommen ging er voraus und sah sich prüfend vor dem Haus um. Nichts und Niemand zu sehen. Er nahm Malinka wieder an die Hand und ging zu seinem schwarzen Ford Mustang. Das Mädchen stieg kommentarlos ein. Die Gesprächigste war sie nicht, was ihm ganz recht war. Worüber sollten sie auch reden? Arielle, Aladdin, Bambi oder wie diese ganzen Disneyfiguren hießen? Seine eigene Kindheit hatte so etwas nicht zu bieten gehabt.

4

Nach fünf Minuten Fahrt hielt er am Blumenladen, stieg aus, verriegelte die Türen und schlich um das Gebäude. Er schaute sich das Handyfoto erneut an. Aus welcher Perspektive war es aufgenommen worden? Auf dem Bild war er von hinten zu sehen, wie er vor der Ladentüre stand. Er ging zu der Stelle, von der aus das Foto geschossen worden sein musste. Dort stand ein Baum, der einen guten Sichtschutz bot. Er stellte die Handy-Taschenlampe an, um nach Spuren zu suchen. Obwohl er nicht damit rechnete, hatte er das Gefühl, des Rätsels Lösung ein Stück näher zu kommen. Er leuchtete den Baumstamm entlang und hielt plötzlich inne. War das ein Scherz? Jemand hatte in den Stamm eine Nachricht geritzt, eine Nachricht, die ihm nur allzu bekannt vorkam: „Erinnere dich!“ Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er schaute zu seinem Wagen rüber. Das Mädchen beobachtete ihn mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Wo war er da nur hineingeraten? Er ging zurück zum Auto und schaute sich dabei mehrmals um. In Gedanken versunken fuhr er den restlichen Weg bis zu seinem Haus schweigend und die fragenden Blicke der Kleinen ignorierend. Zuhause angekommen überprüfte er noch einmal, dass ihnen Niemand gefolgt war, holte Malinka aus dem Auto und führte sie in sein stilvolles Heim, dass Janine geschmackvoll eingerichtet hatte. Seine Freundin kam ihnen entgegen und sah erstaunt erst Malinka, dann ihn an. „Du bringst Besuch mit?“ Sie zog eine Augenbraue hoch, was er unter normalen Umständen super sexy gefunden hätte. „Erkläre ich dir später. Richtest du ihr bitte einen Schlafplatz ein? Ich muss kurz noch was erledigen und komme dann gleich zu dir ins Bett.“ Kopfschüttelnd kniete sie sich vor die Kleine und sagte „Ich bin Janine und wie heißt du?“ „Malinka“, entgegnete das Mädchen schüchtern. „Malinka. So ein schöner Name! Sag mal, magst du Eiscreme? Ich jedenfalls könnte jetzt etwas Süßes gebrauchen!“ Ein Lächeln huschte über Malinkas Gesicht. Das lief besser, als Nicolaj es sich erhofft hatte. So konnte er sich in Ruhe im Haus umsehen.

Nachdem er überprüft hatte, dass kein Fremder im Haus war, ging er ins Badezimmer und rief sich das entsprechende Handyfoto auf. Splitterfasernackt. Die Scheibe der Dusche war nur minimal beschlagen, da er am liebsten kalt duschte. Somit waren er und sein bestes Stück gut zu erkennen. Es machte ihn wütend, dass ein Wildfremder so ein Foto von ihm geschossen hatte. Oder war es gar kein Fremder? Vielleicht kannte er seinen Verfolger? Das Foto war von der Türe aus aufgenommen worden. Er stellte sich in den Türrahmen und bemerkte dabei, dass die Fußleiste etwas nachgab. Das war ihm zuvor noch nie aufgefallen. Er hockte sich hin, zog die Leiste leicht nach oben und tastete den Spalt darunter ab. Tatsächlich berührten seine Fingerspitzen nach kurzer Zeit etwas, das sich wie ein Stück Papier anfühlte. Er bekam es zu fassen und zog es hervor. Ein kleiner zusammengefalteter Zettel. Er konnte sich schon denken, was darauf stand. Wieder dieselbe Botschaft „Erinnere dich!“. Dieses Mal in anonymer Computerschrift.

5

Nicolaj raufte sich seinen blonden Haarschopf. Woran zur Hölle sollte er sich denn erinnern?! Die Vorstellung, dass Jemand ihn beobachtete, anscheinend ihn und seine Geheimnisse kannte, machte ihn ganz wahnsinnig. Das alles durfte doch nicht wahr sein! Was hatte er übersehen? Seine Gedanken drehten sich im Kreis. „Schatz?“ Er zuckte zusammen und Janine fing an zu kichern: „Was ist denn bloß los mit dir?“ „Das ist nicht witzig!“ fuhr er seine Freundin an, der das Lächeln aus dem Gesicht wich. Er ging an ihr vorbei in sein Arbeitszimmer, wo er hoffte, seine Ruhe zu haben. Wieder und wieder fragte er sich, was er übersehen oder was er vergessen hatte. Er sollte sich erinnern. Hatte er Irgendwem geschadet? Wollte sich Jemand an ihm rächen? Er verstand die Zusammenhänge nicht.

Die Vibration des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Es war das Kneipen-Handy. Eine neue Nachricht wurde angezeigt. Mit zittrigen Fingern öffnete er die SMS: 200426. Ein Zahlencode? Was für eine Scheiße! Er wünschte sich zurück in die Kneipe, zurück zu seinem Vodka, zurück zur Normalität, zur Unbeschwertheit. Warum machte ihm Jemand das Leben zur Hölle? Wer war dieser Unbekannte? Was wollte er? Der Zahlencode sagte ihm rein gar nichts. Es war zum Verzweifeln. Konnte das der Schlüssel zu einem Schließfach sein? Bei der Post? Am Bahnhof? In einem Hotel? Er gab den Code bei Google ein: Nichts. Keine brauchbaren Informationen. Er hatte sich schon lange nicht mehr so hilflos gefühlt. Vielleicht sollte er sich an die Polizei wenden? Aber in wie fern würden die Bullen ihm weiterhelfen können? Vermutlich hatte das keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn.

Ein zaghaftes Klopfen an der Türe: „Schatz, darf ich reinkommen?“. Ohne seine Antwort abzuwarten, öffnete Janine die Türe. „Kann ich etwas für dich tun?“, fragte sie. „Weißt du, wofür man einen sechsstelligen Zahlencode benötigt?“ Er wollte Janine nicht mit einbeziehen, aber in seiner Verzweiflung hoffte er nun auf ein Wunder. „Soweit ich weiß, gibt es bei der Post nummerierte Schließfächer, die sich mit einem Zahlencode öffnen lassen. Aber ich glaube, die sind vierstellig. Weshalb fragst du?“ Erstaunt sah er zu ihr auf. Nummerierte Schließfächer. Was, wenn er der Ziffernfolge sowohl die Schließfachnummer, als auch den benötigten Zahlencode entnehmen konnte? Er sprang auf, stürmte an seiner Freundin vorbei und beschloss, seinen Verdacht sofort zu überprüfen. „Wohin willst du?“, rief Janine ihm hinterher. „Ich muss einem Hinweis nachgehen. Pass bitte auf das Mädchen auf, verriegel die Türe und lass Niemanden ins Haus, verstanden?“ Ihre Antwort wartete er nicht mehr ab. Er hatte es eilig, startete den Motor seines Mustangs und gab Gas. Im Rückspiegel sah er Janine im Türrahmen stehen, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

6

Es war der 25. April 2020, 23:50 Uhr. Um diese Zeit war vermutlich kein Mensch mehr unterwegs. Die Post lag verlassen im Dunkeln. Lediglich die Schließfächer an der Gebäudeseite waren spärlich beleuchtet. Nicolaj sah sich um. Seit er diese Fotos von sich gesehen hatte, fühlte er sich permanent beobachtet. Eine Katze huschte an ihm vorbei, was ihn zusammenzucken ließ. Wie in einem schlechten Film. Er musste verdammt noch mal cool bleiben. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Wieder beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Als ob er etwas übersehen hatte. Einen entscheidenden Hinweis. Er dachte an Janine und Malinka. Vielleicht hätte er sie nicht mitten in der Nacht alleine zurück lassen sollen. Leichtsinnig. Wobei seine Freundin sehr taff war. Überhaupt machte sie einen entspannten Eindruck und schien wenig erstaunt, als er mit dem Mädchen aufkreuzte. Und dann hatte sie ihn auf die entscheidende Idee mit dem Post-Schließfach gebracht. Irgendwie störte er sich plötzlich an ihrem Verhalten. Was wenn… Nein, das war völlig verrückt. Er konnte Janine blind vertrauen. Schließlich war er bereits sechs Jahre mit ihr zusammen. Was sollte sie mit dieser Angelegenheit zu tun haben? Wobei sie ihm in letzter Zeit auch etwas geheimnistuerisch vorkam. Wie gut kannte er Janine wirklich? Was wusste er eigentlich über ihre Vergangenheit? Darüber hatten sie nie gesprochen, da Janine dem Thema immer geschickt ausgewichen war. Außerdem interessierte er sich bei seiner Freundin für ganz andere Dinge als für ihre Lebensgeschichte. Vielleicht war er einfach blind vor Liebe? Irgendwo musste dieses Scheiß-Sprichwort schließlich herkommen. Nicolaj schüttelte den Kopf. Er reimte sich gerade etwas zusammen, das er selbst nicht glaubte. Oder nicht glauben wollte?

Bei den Schließfächern angekommen, suchte er nach der Nummer 20. Da war es. Er gab den Code 0426 ein. Bingo! Das Schloss sprang auf. Begeistert klatschte er in die Hände, riss sich dann aber sofort wieder zusammen. Was würde ihn nun erwarten? Er zog einen unbeschrifteten weißen Briefumschlag hervor und öffnete diesen. Er konnte es nicht fassen! Erneut schaute er auf ein Foto, auf dem ihm eine bekannte Person entgegen lächelte. Dieses Mal war er jedoch nicht alleine. Das Foto zeigte ihn zusammen mit Janine, aufgenommen letztes Jahr in ihrem Urlaub in Paris. Glücklich verliebt. Nicolaj rieb sich die Augen. Was hatte das zu bedeuten? Langsam drehte er das Foto um. Dort stand das Datum: 26.04.

Sein Handy klingelte. Er schrak zusammen und hätte es beinahe fallen gelassen. Irritiert blickte er auf das Display. Es war der 26.04.2020, 00:00 Uhr. Der Anruf kam von Janine. Schlagartig wurde ihm alles klar! Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie hatte er nur so verflucht dumm sein können? Er war ein verdammter Vollidiot! Völlig umsonst hatte er diese Höllenqualen durchlitten. Berufsbedingt hatte er sich in eine Geschichte  hineingesteigert, die komplett hirnrissig war. Er schämte sich, seiner Freundin misstraut zu haben, wenn auch nur für drei Sekunden. Mit dem Dusch-Foto wollte Janine ihn offensichtlich an ihre erste gemeinsame Nacht erinnern. Sie waren zusammen in einem Restaurant gewesen. Auf dem Rückweg wurden sie von einer Regenschauer überrascht und kamen durchnässt und außer Atem bei ihm Zuhause an. So führte schließlich eins zum anderen, woran er sich nur allzu gerne erinnerte! Das zweite Foto vorm Blumenladen war selbsterklärend. Nicolaj sammelte sich und nahm den Anruf entgegen. „Hast du es gefunden?“, fragte Janine. „Alles Gute zum Jahrestag!“ entgegnete Nicolaj und dachte sich, dass er auf dem Rückweg an einer Tankstelle für eine Flasche Vodka und einen Strauß Blumen anhalten würde. „Ich werde es nie wieder vergessen.“

– Ende –

21 thoughts on “Das Versprechen

      1. Die Geschichte hat mir sehr, sehr gut gefallen. Ich war sofort drin in der Geschichte und war schon voller Spannung darauf, was da wohl geschehen wird….da war dann auch für mich das Ende eine sehr lustige und nicht erwartete Überraschung! Freue mich auf die nächste!!! Lg Nadine

  1. Ich finde eure Geschichte wirklich gut und habe schon während dem Lesen so viele Verschwörungstheorien aufgestellt. Das Ende kam dann tatsächlich sehr überraschend aber diese plötzliche Plot Twist hat mir wirklich sehr gut gefallen. Ich wünsche euch beiden wirklich viel Glück

      1. Sehr schöne Geschichte. Der Plot Twist am Ende gab mir den Rest. Ich habe an russische Mafiamachenschaften gedacht und das das! Echt toll.
        Ich wünsche euch viel Erfolg, dass ihr mit unter die 100 kommt ☺️

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