SinaLeaDas zweite Gesicht bleibt nie geheim

April 2020

 

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und zeichnete einen hellen Streifen an der Wand, der durch die nicht ganz zugezogenen Vorhänge schien. Kilian öffnete langsam die Augen, der Kopf hämmerte. Er drehte sich auf die Seite, aber der Schlaf war vergangen. Mühsam rappelte er sich auf, setzte sich auf die Bettkante und stemmte den Kopf in beide Hände. Gestern Abend war es wohl doch etwas zu viel gewesen. Die Uhr zeigte bereits 12, die Kissen auf der anderen Bettseite waren leer. Silia musste ohne ihn zu ihren Eltern aufgebrochen sein. „Gott sei Dank“, dachte er. Einen Brunch mit ihrer ganzen Familie hätte er an diesem Sonntag nicht ausgehalten. Stattdessen stand er auf und ging auf leicht wackeligen Beinen in Richtung Dusche.

Mit nassen Haaren und Shorts ging er in die Küche, geradewegs in Richtung Kaffee. Den leichten Luftzug, der durch die geöffnete Terrassentür hereingetragen, bemerkte er nicht. Die Blumenvorhänge waren zugezogen. Der Wasserkocher rauscht und Kilian holte einen Becher und Milch. Als er beides auf den Tisch stellte viel ihm ein Handy auf. Seins war es nicht und auch Silias konnte es nicht sein. Beide hatten moderne IPhones, dieses war eines der alten, kleinen Vorgängermodelle mit zerkratzten Display.

Der Wasserkocher piepte kurz, Kilian drehte sich um und kramte das Kaffeepulver aus dem Schrank. Mit der Kaffeekanne in der Hand setzte er sich an den Tisch, schenkte ein und genoss den ersten Schluck. Sein Blick fiel wieder auf das Handy. Er nahm es in die Hand und drückte den Button, der Display leuchtete auf. Das Iphone viel scheppernd auf die Tischplatte, das war er, wie er schlief, in den gleichen Sachen die er eben noch angehabt hatte. Erlaubte sich Silia vielleicht einen blöden Streich? Ärger kroch ihm die Kehle hoch, er mochte es nicht, wenn ihn jemand verarschte, lustig fand er das schon gar nicht.

Er nahm das Handy wieder in die Hand und drückte erneut den Button, das Bild leuchtete wieder auf. Auf dem Foto war es bereits hell und die Sonne schien. Da heute der erste sonnige Tag seit einer Woche war, gab es eigentlich keinen Zweifel daran, dass das Foto heute morgen erst entstanden war. „Aber warum zum Teufel“, dachte er. Er drückte den Button erneut und wischte das Display nach oben, es war nicht gesperrt, der Startbildschirm erschien. Wo sonst eigentlich Apps zu sehen waren herrschte gähnende Leere. Nur die bunte Blume war zu sehen, das Fotoarchiv. Kilian versuchte nach links und rechts zu wischen, aber da tat sich nichts. Ein ungutes Gefühl breitete sich bleiern in seinem Magen aus. Er drückte auf die App und es erschien ein kleines Bild. Seit Herz klopfte bis zum Hals. Er klickte das Bild an, es war das gleiche, welches bereits als Startbildschirm erschienen war. Am unteren Rand des Bildes stand etwas: „Jetzt musst du die Augen schließen.“ So ein makabrer Streich passte nicht zu Silia, oder? Eine Mischung aus Unbehagen und Wut durchzuckte ihn.

Er stellte die Tasse ab, schmiss das unbekannte Handy auf den Tisch, um sein eigenes zu suchen. Er schob hastig den Stuhl zurück, etwas zu viel Schwung ließ ihn krachend nach hinten schleudern. „Scheiße!“ rief Kilian laut. In dem Moment bewegte sich etwas an der Terrassentür, er wirbelte herum und lauerte auf einen Eindringling. Voller Adrenalin stellte er fest, dass nur die Blümchenvorhänge von einem Windstoß nach innen gewirbelt wurden. Wieso war denn die Tür auf? Kilian ging um den Tisch herum, schob die Gardinen auf und schaute in den Garten hinaus. Da war niemand. „Ich werde schon paranoid“, murmelte er, schloss die Tür und suchte sein Handy. 

 

April 1998    

 

Es war einer der ersten sonnigen und zugleich warmen Tage in diesem Jahr. Perfektes Wetter, um den Wald unsicher zu machen, jeden Falls den Teil, den sie alleine betreten durften. Bis zur Brücke, alles was dahinter lag war das ‚geheime Land‘ und für die Acht- und Neujährigen absolut tabu.

Max und Felix schnappten sich ihre Fahrräder und fuhren los. Nebeneinander radelten sie durch das Wohngebiet, bis sie vor einem Haus anhielten. Felix lehnte sein Rad gegen den Zaun, ging zur Tür und klingelte. „Kann Timo rauskommen zum Spielen?“, fragte er, ohne darauf zu warten, das die Frau im Türrahmen etwas sagte. Sie drehte sich wortlos um, ging in den Flur und brüllte die Treppe rauf: „ Timo komm runter, deine Freunde sind vor der Tür.“ Damit ließ sie die Jungs stehen und ging ins Wohnzimmer zurück. Es polterte auf der Treppe und eine Sekunde später stand Timo im Flur: „Hey“, sagte er, schnappte sich seine Schuhe und knallte die Haustür zu. Von innen war nur ein genervtes: „Timo, knall die Tür nicht immer“ zu hören. Unbeeindruckt lief er zum Schuppen und zog sein Fahrrad hervor. „Wollen wir den Neuen noch fragen?“ Timo nickte in Richtung des großen weißen Hauses am Ende der Straße. Felix zuckte mit den Schultern, Max raunte: „ Meinetwegen.“

Die Dreierbande setzte sich in Bewegung. Nach wenigen hundert Metern hielten sie wieder an und schauten auf das lange Grundstück an dessen Ende eine große, weiße Villa stand. Das Tor war verschlossen, man musste bereits hier klingeln. „Sie wünschen?“, dröhnte es aus den Lautsprechern. „Äh, ist Kilian da?“, etwas verdutzt sah Timo die anderen beiden an. „Einen Moment bitte“, sagte die Stimme.

Sie waren drauf und dran wieder los zu fahren, als das Tor plötzlich summend aufschwang. Die Fahrräder ließen sie stehen und machten sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Eingang. Trotz des riesigen Grundstückes wirkte es irgendwie bedrückend. Die Haustür ging auf und ein Mann in feinem Anzug stand im Rahmen. Breitschultrig, groß und mit einer undurchdringlichen Miene schaute er auf die Jungs hernieder. Ein paar Schritte hinter ihm, stand etwas verschüchtert sein Sohn Kilian. „Was wollt ihr?“, fragte Herr von Tischendorf mit strengem Ton. Erst traute sich keiner was zu sagen, dann gab Timo ein leises: „spielen“, von sich. Herr von Tischendorf drehte sich zu Kilian um, der sich sofort anspannte. „Hausaufgaben erledigt?“, fragte der Vater. „Ja“, antwortet Kilian. „Nun gut, du kannst eine Stunde mit gehen, dann bist du wieder hier“, sagte Herr von Tischendorf, ging an seinem Sohn vorbei ins Arbeitszimmer. Kilians Muskeln entspannten sich, er setzte ein verschmitztes Lächeln auf und rannte raus. Die Tür ließ er einfach offen stehen. Auch die drei Jungs entspannten sich wieder und liefen hinter Kilian her, der schnell sein Fahrrad aus der Garage holte und es neben sich herschob. „Und was stellen wir an?“ fragte Kilian mit einem blitzen in den Augen. „Wir wollten in den Wald und endlich Anfangen das Baumhaus zu bauen“, sagte Felix. Kilian schwang sich auf sein Fahrrad: „Gut dann alle mir nach.“ 

 

April 2020

 

Weder in der Küche, noch im Schlafzimmer fand Kilian sein Handy. Genervt schmiss er die Tür zum Wohnzimmer auf, die gegen das Bücherregal krachte. Er funkelte sie böse an. Kilian stand mitten in dem großen Raum griff den Telefonhörer und wählte seine eigene Nummer, vielleicht fand er das blöde Ding so schneller. Es summte im angrenzenden Zimmer. Das Handy lag auf dem Schreibtisch.

Er nahm es in die Hand, das Display leuchtete auf und das erste was er sah, war eine Nachricht von seiner Verlobten: „Hey Schatz, ich bin schon zu meinen Eltern gefahren, komm doch einfach nach, wenn du wach bist.“ Ja klar, als wenn er sich jetzt noch ins Auto schwang, um ans andere Ende der Stadt zu fahren. Silia und er lebten in einer großen Altbauwohnung in Hamburg Blankenese mit Blick auf die Elbe und den Hafen. Ihre Eltern wohnten in Bergedorf, in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung.

Silia war dort zusammen mit ihrer Schwester aufgewachsen, sie teilten sich damals ein Zimmer. Ihre Eltern schliefen auf einer Klappcouch im Wohnzimmer. Mittlerweile waren sie in das ehemalige Kinderzimmer gezogen, eng war es trotzdem. Kilian fühlte sich da nie richtig wohl. Er und Silia hatten sich im Studium kennen gelernt. Er studierte BWL im Master, sie hatte gerade mit VWL begonnen. Kilian war drei Jahre älter als Silia, die junge, schüchterne Studentin mit den blauen Augen war ihm sofort aufgefallen. Silia war fasziniert von diesem schönen stattlichen Mann, der sich anscheinend nur für sie interessierte. Schnell zogen sie zusammen, sie natürlich zu ihm in die Wohnung. Er bezahlte alles, sie war ihm dankbar. Nachdem Kilian fertig war mit dem Studium und in die Geschäfte des Vaters einstieg zogen beide in die großzügige Wohnung nach Blankenese. Für Kilian war klar, er arbeitet, bald wird geheiratet und das erste Kind ist auch schon unterwegs. Er hatte alles unter Kontrolle. Silia machte es mit, auch wenn sie hin wieder etwas vom Weg abkam, schaffte er es immer wieder, sie zurück zu holen, ihr zu zeigen, dass sie es woanders nicht besser haben kann als an seiner Seite.

Die Nachricht von Silia war bereits um 10 Uhr eingegangen. Er ignorierte sie, ging in seine Favoritenliste und klickte auf ihren Namen. Das Freizeichen kam und er wartete ungeduldig darauf, dass sie sich meldete. Ein Lachen ertönte: „Hallo Schatz, na hast du ausgeschlafen?“, fragte Silia mit ihrer freundlichen, sanften Stimme. „Was soll das Silia?“, fragte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. Hörbar irritiert antwortete Silia ein paar Sekunden verzögert: „Aber du wusstet doch, dass ich zum Brunchen zu meinen Eltern wollte?“ „Das meine ich nicht“, fuhr er sie an. „Was soll das mit dem Handy?“ „Schatz, ich weiß wirklich nicht was du meinst“, im Hintergrund hörte man einen Stuhl, der nach hinten geschoben wurde. Anscheinend ging sie aus dem Zimmer. „Das Handy, was du auf den Küchentisch gelegt hast, dieses alte Ding mit den Fotos von mir beim Schlafen. Und warum zur Hölle hast du die Gartentür aufgelassen, da hätte jeder einfach rein spazieren können“, Kilian schrie schon fast. „Schatz, ich hab die Tür nicht aufgelassen und ich weiß nicht von was für einem Handy du da redest, ich habe meins doch hier“, Silias Stimme klang brüchig. Kilian legte einfach auf. „Was für ein Scheiß ist das hier eigentlich?“, er machte auf dem Absatz kehrt und ging wieder in die Küche zurück.

 

April 1998

 

Die vier Jungs legten ihre Fahrräder in die Büsche und schauten nach oben. Sie standen direkt am Ende eines Hügels, der auf einer Seite steil einige Meter in die Tiefe abfiel, kurz vor der Brücke zum ‚geheimen Land‘. Auf der Seite, auf der die Jungs gerade standen war es nicht so hoch, gerade einmal drei Meter. Nacheinander kletterten sie den Hang hoch, Kilian zuerst. Er kam oben an und schaute auf die anderen drei herunter. „Kilian geh mal weg“, schnaubte Timo.


Mit einem schiefen Grinsen stand der Junge am Eingang zu der kleinen Plattform und bewegte sich keinen Millimeter. „Kilian!“, keuchte Timo noch einmal, „ich kann mich nicht mehr halten.“ Erst als Timo schon drohte abzurutschen, setzte sich Kilian in Bewegung. In letzter Minute kroch Timo über den Rand und drehte sich zur Seite auf den Rücken. Kilian lachte laut los: „Man du bist aber auch ein Schwächling“, schnaubte er und trat Timo in die Seite. „Hey, hör auf damit, das ist nicht witzig“, sagte Timo und rappelte sich auf. Kilian beruhigte sich: „Schon gut war doch nur ein Scherz.“ Keiner lachte.

 

April 2020

 

Kilian schnappte sich das Handy und inspizierte es erneut. In dem Moment in dem er es in der Hand hielt ging eine Nachricht ein. Unbekannt. Eine Sprachnachricht: „Es ist nicht vergessen“, kratzte eine metallene Stimme. Kilians Puls raste. Wutentbrannt pfefferte er die noch volle Tasse Kaffee gegen den Kühlschrank. Klirrend zersprang sie, der Kaffee spritzte in alle Richtungen. „Scheiße!“ fluchte er. Er machte einen Schritt zu weit nach vorne und trat direkt in eine Scherbe. Er jaulte auf, zog den Stuhl wieder nach oben, der noch immer umgekippt auf dem Boden lag und schaute auf seinen blutenden Fuß. Ein Schnitt war zu sehen, schlimm schien es nicht zu. Er humpelte ins Bad wusch den Schnitt aus und wickelte einen Verband um den Fuß.

Die Scherben ließ er liegen, nahm wieder das Handy in die Hand. Eine weitere Nachricht war eingegangen. „Hast du es vergessen?“. Die Stimme war verzerrt. Hastig überlegte Kilian, wer der Unbekannte sein könnte: Ein Kunde? Ein Freund? War das ein Scherz? Er drückte in das Schreibfeld und tippte eine Antwort: „Wer zum Teufel bist du?“

Auch nach mehreren Minuten kam keine Antwort. Immer wieder starrte er auf das Display. Die Wut ballte sich innerlich zusammen, er konnte spüren wie sie durch alle Adern floss. Er musste sich bewegen. Sie hatten zum Glück einen großen Garten direkt am Hang zur Elbe. Kilian öffnete die Glastür zur Terrasse und tigerte auf dem Rasen hin und her, alle zwei Sekunden warf er einen hektischen Blick auf das unbekannte Handy.

„Schatz?“, gedämpft drang der halblaute Ruf von Silia in den Garten. Kilian antwortete nicht. Nach kurzer Zeit trat sie auf die Terrasse. In dem Moment kam eine neue Nachricht, diesmal schriftlich: „Du kennst mich, ich bin da, damit du nicht noch mehr Leben zerstören kannst.“ Silia stand an den Stufen zum Garten und schaute ihren Verlobten irritiert an. Noch ein Leben zerstören? Wem könnte er denn das Leben zerstören? Alle die mit ihm zu tun hatten können sich glücklich schätzen. Ein schiefes Lächeln blitzte über seine harten Gesichtszüge.

Silia kam die Stufen runter und bewegte sich langsam in seine Richtung. Sie sah schön aus, in ihrem weißen T-Shirt, den Jeans und den nackten Füßen im Gras. Eine Hand hatte sie auf ihren Babybauch gelegt, der sich mittlerweile deutlich abzeichnete. „Was ist los?“, fragte sie besorgt. Kilian schaute sie nur an, er stand zwei Meter entfernt, etwas nach vorne gebeugt, wie ein Tier bereit zum Sprung. „Schatz?“, Silia ging einen Schritt auf ihren Verlobten zu. „Du hast damit zu tun oder?“, schrie er sie an. Silia sagte nichts. „Irgendwer will mir was anhängen und du hängst da auch mit drin, du willst mich verlassen stimmt‘s?“, Kilians Wut war am Anschlag. Die Nachbarskatze schlich hinter Silia durch den Garten. Wie ein Irrer lief er auf sie zu, versuchte nach ihr zu treten, aber sie war schneller und flüchtete durch die Büsche. Entsetzt sah Silia ihren Verlobten an: „Was geht hier vor zum Teufel“, Angst blitzte in ihren Augen auf.

„Du weißt genau was hier vor geht“, sagte er steif. „Kilian es reicht, du sagt mir jetzt mal im Klartext was hier los ist, sonst geh ich wieder“, ihr standen bereits die Tränen in den Augen. Mit einem Satz stand Kilian vor seiner Verlobten, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken schlug er Silia ins Gesicht. Seine Wut war am Höhepunkt. Der nette Nachbar, der liebevolle Verlobte, der akkurate und gute Geschäftsmann Kilian von Tischendorf stand rasend im Garten, die Hand noch immer erhoben, der Blick wild und furchteinflößend. Silia fasste sich an die Wange, Tränen rannen über ihr Gesicht. Wortlos drehte sie sich um und ging zum Haus zurück. Auf der Terrasse blieb sie stehen und drehte sich langsam um. Kilian stand mit dem Rücken zu ihr. „Ich habe schon immer gewusst was du bist“, sagte sie leise. Kilian hörte es, ignorierte es.

Das Handy vibrierte: „Treffpunkt: Alte Tischendorf Villa.“ Die Fassade war zerbröckelt. Der nette junge Mann war verschwunden, übrig blieb der rohe Kilian. Wie schon sein Vater stand er wie eine Statue da, breitschultrig mit festen Zügen. Er war der Mittelpunkt, alles andere waren nur Kollateralschäden. 

 

April 1998

 

Die vier Jungs bauten den ganzen Tag an ihrem Baumhaus. Jedenfalls nannten sie es ein Baumhaus, Kilian fand zwar Schloss besser, aber die anderen waren dagegen gewesen. Einige Zeit hatte er schmollend in der Ecke gesessen, packte dann aber wieder mit an. Die kleine Plattform verwandelte sich in kürzester Zeit zu einem richtigen Versteck zwischen den Bäumen. Sie überlegten gerade, wie sie sich noch Sitzmöglichkeiten bauen konnten also Kilian fast schrie: „Ich hab eine tolle Idee!“ Felix, Max und Timo sahen ihn an. „Wir machen eine Mutprobe und wer gewinnt, der ist der Anführer“, sagte Kilian. „Das ist doch doof, wir können doch alle Anführer sein“, sagte Timo. Kilian verzog das Gesicht. „Du hast doch nur Angst“, Kilian machte einen Schritt auf Timo zu, er überragte ihn um etwa einen halben Kopf. Bedrohlich baute Kilian sich vor Timo auf. „Du kannst gar kein Anführer sein“, Kilians Gesicht war nur wenige Zentimeter vor Timos. Der wich ein paar Schritte zurück. „Sei nicht so doof“, sagte Timo und drehte sich um. Kilians Augen funkelten, er schnellte nach vorne und schubste Timo, der fiel hinten über, stürzte und landete auf dem Rücken. Sein Kopf baumelte über dem Abhang. „Timo“, schrien Max und Felix gleichzeitig.

Kilian hatte einen Fuß auf Timos Brust gestellt. Timo strampelte, versuchte sich zu befreien, aber konnte sich nicht bewegen. „Lass mich los“, sagte Timo verzweifelt und schielte den Abgrund hinunter. Kilian lachte nur: „Ich sag ja, du kannst gar kein Anführer sein.“ Max und Felix griffen sich Kilians Arme und zogen ihn nach hinten, Timo rappelte sich auf und robbte vom Abgrund weg. Schwer atmend saß er auf dem Boden. Kilian hatte immer noch dieses schreckliche Grinsen im Gesicht. Max und Felix ließen ihn los, er stand hochgewachsen in der Mitte. „Ich hab keine Lust mehr“, sagte Timo, ging mit dem größtmöglichen Bogen an Kilian vorbei und kletterte wieder Richtung Fahrrad hinunter. Max und Felix folgten ihm.

Kilian blieb noch kurz stehen, sonnte sich in seinem Erfolg und erklärte sich zum König des Baumhauses, nein des Schlosses. Ein paar Minuten später machte auch er sich auf den Weg nach unten. Sein Fahrrad lag noch im Busch, die Jungs hatte gewartet, etwas entfernt und verunsichert. Vielleicht war es ja doch nur ein Spaß?

Zusammen fuhren sie in Richtung des Wohngebietes, hielten vor dem Tor der von Tischendorfs. „Du bist zu spät“, dröhnte die Stimme von Kilians Vater über das gesamte Gelände. Mit großen Schritten kam er auf die Jungs zu, öffnete das Tor von innen und packte seinen Sohn. Das Fahrrad viel klappernd zu Boden. „Du hast dich an meine Regeln zu halten, aus dir wird nie was, wenn du noch nicht mal die Uhr lesen kannst du Nichtsnutz“, bedrohlich stand Herr von Tischendorf über seinem Sohn. Kilian spannte seine Muskeln an, er wirkte kleiner, irgendwie zusammengesackt in den Pranken seines Vaters. Das schiefe Lächeln war verschwunden, Angst huschte über seine feinen Gesichtszüge. Kilians Vater schleuderte ihn Richtung Haus, er stolperte, konnte sich fangen und ging mit hängenden Schultern den Weg rauf. Herr von Tischendorf drehte sich zu den Jungs um: „Verschwindet“, zischte er. 

 

April 2020

 

Kilian stand vor dem Tor seines Elternhauses. Er wusste nicht, ob er rein gehen sollte. Er wartete davor. Ging wie ein Tiger im Käfig an der hohen Ecke auf und ab. Der Schein muss gewahrt werden, er trug einen feinen, maßgeschneiderten Anzug, ein frisches Hemd mit Krawatte. Die dunklen Haare waren ordentlich mit Wachs frisiert. Bei jedem Schritt klackten die Absätze seiner Lederschuhe. Das unbekannte Handy hatte er in der Hand. In der Nachricht hatte keine Uhrzeit gestanden. Er hatte sich gleich fertig gemacht nachdem Silia gegangen war. Silia, dachte er. Schade drum, aber mehr Gedanken verschwendete er nicht an sie und sein Kind. Er wollte nur eines wissen, wer zur Hölle brachte ihn so aus der Fassung?

Neben dem Grundstück seiner Eltern führte früher ein Trampelpfad in den Wald. Mittlerweile war er ausgebaut worden und als richtiger Weg angelegt. Zwei Kinder liefen um die Ecke, gefolgt von einem Mann, der einen pinken Rucksack auf der Schulter trug. Kilian verzog angewidert das Gesicht, niemals würde er so in der Öffentlichkeit rumlaufen. Die beiden Mädchen liefen an ihm vorbei, der Mann folgte. „Kilian? Kilian von Tischendorf?“ Kilian fuhr rum. „Was ja, wer will das wissen?“, Kilian funkelte den Mann an. „Das du mich nicht mehr erkennst, war irgendwie klar. Timo, Timo Drescher. Wir waren in der Grundschule in einer Klasse und“, er brach ab, seine Stimme klang unsicher. „Ich wohne mit meiner Familie jetzt in dem Haus meiner Eltern“, Timo zeigte in die Richtung, in die die Mädchen liefen.

„Ah ja Timo, ich erinnere mich dunkel“, misstrauisch sah Kilian sein Gegenüber an. „Ja gut, ich geh dann mal hinterher“, sagte Timo. War er der Nachrichtenschreiber? Nein, dachte Kilian, der war schon immer ein Versager und ist es auch heute noch. Das Telefon vibrierte: „Komm zum Schloss.“ Kilian sah vom Telefon auf. Hier war nirgendwo ein Schloss, was sollte das? Oder war die Villa gemeint? Wer das alte Ding als Schloss bezeichnete muss ziemlich erbärmlich sein. Kilian schaute die Straße runter und sah wie Timo auf sein Grundstück abbog. Ein kurzer Blick huschte in seine Richtung, dann war Timo hinter dem Zaun verschwunden.

Plötzlich schlug die Erinnerung wie ein Blitz ein. Das Schloss in den Bäumen auf der Kuppel. Sein Vater hatte damals doch alles geklärt, oder nicht?

 

 

April 1998

 

Ein paar Tage nachdem die Jungs das Baumhaus gebaut hatten, trafen sich Max, Felix und Timo mit ein paar alten Kissen, Decken und Holzplatten bewaffnet wieder im Wald. An Kilians Haus waren sie diesmal einfach vorbei gefahren. Sie schafften alles nach oben, befestigten die Platten auf den vorher Ästen, mit denen sie eine Art Gerüst gebaut hatten und schafften sich so ein Dach. Darunter legten sie die Decken und Kissen. Felix und Max hatten von ihrer Mutter einen Korb mit Essen mit bekommen. Die drei setzten sich und breiteten die Leckereien vor sich aus. Unten am Hang hörte sie die Bremse eines Fahrrades quietschen und dann raschelte es. Kilians Kopf tauchte an der Öffnung auf.

Die drei sahen sich an, der Blick sagte alles. Keiner hatte Lust auf ihn, das letzte Mal war irgendwie schräg gewesen. Kilian grinste und stemmte sich hoch. „Na müsst ihr eure Hinter jetzt schon auf Mamis Kissen pflanzen?“ Er lachte. „Wenn du nur Ärger machen willst dann kannst du gleich wieder gehen“, sagte Timo genervt. Kilians Gesichtszüge wurden schlagartig hart: „Du hast mir gar nichts zu sagen, dass hier ist mein Schloss, ich hab hier mitgebaut.“ Er trat gegen die Leckereien die vor ihm auf dem Boden lagen, die offene Limonade kippte um und die Jungs bekamen die Butterbrote ins Gesicht. Kilian prustete los. Timo sprang auf: „Man Kilian, was soll das denn. Verschwinde einfach du Idiot.“

Kilian funkelte ihn an, sprang nach vorne und packte Timo an den Schultern. Sie rangelten, Kilian lachte die ganze Zeit. Timo konnte sich nicht befreien, der Abgrund kam immer näher. Felix und Max sprangen ebenfalls auf. Jetzt rangelten alle vier. Die Fäuste flogen, Kilian wurde nach hinten gezerrt. Noch immer hatte er Timo in der Mangel. Max hatte sich hinter Timo gestellt und versuchte ihn von Kilian weg zu ziehen. Felix zog an ihm, er stolperte, viel hin und zog Kilian mit sich. Der konnte sich fangen, fuhr herum und griff im letzten Moment Felix Arme, er war über den Abgrund gerutscht. Kilian hatte wieder dieses funkeln in den Augen. Er krallte sich in Felix Arme, das bereits Blut zu sehen war. „Du bist ein Nichts“, sagte er mit wildem Blick und ließ Felix Arme los. 

 

April 2020

 

Kilian stand in seinem feinen Zwirn vor dem ehemaligen Baumhaus. Mittlerweile war es verwachsen, aber der Kletterpfad nach oben war noch immer sichtbar. Das Handy vibrierte: „Traust du dich nicht?“. Von wegen, dachte Kilian. In wenigen Sekunden stand er auf der Plattform, alleine. Was sollte das?

„Komm raus du Feigling“, schrie er. „Hast wohl doch schiss bekommen was?“, er sah die Lücke, auf der anderen Seite der Plattform, wo der Abgrund steil einige Meter hinunter ging. Er machte einen Schritt und beugte sich nach vorne, um über den Rand zu schauen. Ganz schön tief. Als er sich wieder umdrehte, standen da plötzlich zwei Männer. Er erschrak so sehr, dass er kurz ins straucheln kam, fing sich aber wieder. Der eine war Timo, der andere musste Max sein. „Na Tischendorf, wie geht’s dir?“, fragte Max. „Was?“, Kilian starrte ihn an. Max lachte: „Ich dachte ich fang mal mit Smalltalk an. Dann eben gleich zur Sache, weißt du noch was vor 22 Jahren hier passiert ist, oder hat dein sadistisches Hirn das verdrängt?“

Kilian beäugte beide, sie waren ziemlich groß und breit. Beide hatten mindestens seine Statur. Und sie standen vor dem Ausgang. „Das war ein Unfall“, sagte er. „Pff, das glaubst du doch wohl selbst nicht“, sagte Max. „Dein Vater hat allen diese Geschichte aufgetischt und viel Geld dazu gelegt. Wir wissen alle das du Felix einfach losgelassen hast, du hast gelacht als er fiel“, sagte Timo. Bei Kilian blitzten die Erinnerungen auf, ja der Moment hatte für ihn eine gewisse Komik gehabt. Er war damals einfach umgedreht und auf der anderen Seite Richtung Fahrrad runter geklettert. Es war Zeit gewesen, er musste wieder nach Hause.

Max und Timo machten einen Schritt auf Kilian zu. „Weißt du eigentlich was aus Felix geworden ist?“, fragte Max. „Nein, ist mir auch egal“, Kilian grinste die beiden Männer auffordernd an. Max spannte sich an. Timo legte eine Hand auf seine Brust. „Bei dem Sturz hat er sich schwere Verletzungen zugefügt, er konnte nicht mehr laufen, war auf den Rollstuhl angewiesen. Egal was wir gemacht haben, er wurde nicht mehr glücklich und hat sich immer mehr zurück gezogen“, erzählte Timo. Kilian grinste immer noch: „Und?“

„Vor einer Woche hat er sich umgebracht. Du hast sein ganzes Leben zerstört. Das darf nicht noch mal passieren“, sagte Timo. Max fing neben ihm an zu zittern. „Was soll das denn heißen bitte? Wessen Leben hab ich den angeblich noch zerstört?“, Kilian verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir haben mit bekommen, dass deine Verlobte schwanger ist, deine Mutter hat es mal erwähnt. Anstatt sich auf das Enkelkind zu freuen, wirkte sie aber eher bedrückt. Kein Wunder, sie hat Angst, dass das Kind unter ihrem Vater genauso leidet, wie du und sie unter deinem“, Timo blickte direkt in Kilians Augen. „Du hast es nicht verdient zu leben, wenn andere unter deinem Dasein leiden“, Timo machte einen Schritt auf Kilian zu. Der baute sich bedrohlich auf. „Und was jetzt wollt ihr mich auch zum Krüppel machen?“, fragte er. „Du hast es nicht verdient zu leben, du zerstört Leben“, Max zitterte am ganzen Körper. Er macht wieder einen Schritt vor, diesmal hielt Timo ihn nicht zurück, erfolgte seinem langjährigen Freund. Kilian stand noch immer wie angewurzelt mit dem Rücken zum Abgrund. Drei Schritte, schätze er, bis es abwärts ging. Langsam machten Max und Timo noch einen Schritt vor. „Willst du nicht wenigstens was dazu sagen?“, fragte Timo gereizt. Kilian wich fast unmerklich einen Schritt zurück. „Was soll ich denn dazu sagen, es war ein Unfall, Punkt.“ Kilian versuchte seine Atmung zu beruhigen. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich von jemand anderem bedroht als seinem Vater. Wieder ein Schritt vor, wieder ein Schritt zurück.

Doch der letzte Schritt ging ins Leere, Kilian kippte ins Nichts, er hatte sich vertan, der panische Ausdruck auf seinem Gesicht war das letzte was die beiden Männer sahen. Ein Leben nehmen, um zwei andere zu retten, das schien ihnen ein guter Deal.

One thought on “Das zweite Gesicht bleibt nie geheim

  1. Hallo, SinaLea! Na, da hast Du ja mal einen ziemlichen Unsympathen geschaffen..;))
    An ein paar Stellen bin ich beim Lesen gestolpert..z.B. schreibst Du, Kilian bekommt Sprachnachrichten und schreibt zurück – auf einem Handy ohne Apps? Oder, dass Silia am anderen Ende der Stadt ist, aber gefühlte zehn Minuten nach dem Telefonat im Haus….
    Auch die Beschreibung der Landschaft in Kapitel vier hat mich etwas verwirrt, wäre vielleicht verständlicher mit “am Fusse des Hügels”…Ich hoffe, Du verstehst diese Kritik so freundlich, wie sie gemeint ist 😉 ich selbst bin auch froh über ehrliches Feedback, nur das bringt einen weiter. Also wenn Du magst, lies doch gern auch meine Geschichte (“Die Andere” von lotte.quint) Ansonsten finde ich Deinen Plot spannend und das Thema gut getroffen…ein like von mir! LG

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