biezekreiselDer 40ste Geburtstag

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1

Als Christian wach wurde, schien die Sonne durch die Rollläden. Das leichte Ziehen in den Schläfen und der etwas pelzige Geschmack auf der Zunge kündeten vom Alkohol und der Zigarre, die er gestern auf der Familienfeier noch geraucht hatte. Wie immer, wenn sich seine ganze Familie traf, lief das Ganze etwas aus dem Ruder. Als Nichtraucher hatte er immer etwas mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Vielleicht lag es auch daran, dass er mit Anfang vierzig nicht mehr so viel vertrug, wie noch als 20-jähriger. Er war zwar körperlich gut in Schuss, der Alkohol zeigte aber dennoch seine Wirkung. Neben ihm lag Anne. Die Frau, die er vor gut einem Jahr zufällig an der Supermarktkasse kennengelernt hatte und die seit dem immer an seiner Seite war. Der gemeinsame Griff nach einer Plastiktüte und die damit verbundene Berührung hatte beide seit dem nicht mehr losgelassen. Das nannte man wohl Liebe auf den ersten Blick.

Christian lag noch eine Zeit lang mit offenen Augen im Bett und beobachtete Anne wie sie schlief. Langsam hob und senkte sich der Brustkorb im Rhythmus ihres Atems. Anne war, als sieben Jahre jüngere Frau, von Anfang an super in seiner Familie aufgenommen worden. Mit Ihrer fröhlichen und offenen Art war Anne eine Person, die schnell Kontakt fand und sich gerne, mit echtem Interesse, an Gesprächen beteiligte. Auch gestern war dies wieder so gewesen. Keine Familiengeschichte war ihr zu viel und kein Gespräch über eigentlich langweilige Urlaube, Krankheiten und die Angewohnheiten von Christians Familie war ihr unangenehm. Vielleicht lag dies auch daran, dass Anne selbst keine Familie mehr hatte. Für Christian jedenfalls war ihre offene und familiäre Art ein Grund, warum er diese Frau so liebte. Dazu kam, dass Anne mit ihrer sportlichen schlanken Figur umwerfend aussah. Für Christian die schönste Frau der Welt. Nie konnte er sich an ihrem Anblick sattsehen. Wie so häufig hatte Anne auch jetzt ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, der nun neben Ihrem Kopf auf dem Kissen lag.

Christian beschloss die ruhigen ersten Minuten des Tages für sich allein zu nutzen. Er erhob sich langsam, ohne dass Anne aufwachte und schlenderte in die Küche, um die Kaffemaschine anzustellen. Anschließend ging er ins Bad. Die kalte Dusche würde seine Lebensgeister wecken und anschließend wollte er Anne mit einem Frühstück im Bett überraschen. Er freute sich auf das kommende Wochenende, an dem beide endlich mal wieder etwas mehr Zeit miteinander verbringen konnten. In letzter Zeit war viel los gewesen. Er war in der Steuerberatungskanzlei, in der er seit 15 Jahren beschäftigt war, ziemlich eingespannt und Anne hatte im Pflegeheim alle Hände voll zu tun, in dem sie seit Ihrer Ausbildung arbeitet. Der Mangel an Pflegekräften sorgte häufig für Doppelschichten. Dies alles sollte aber in den nächsten beiden Tagen keine Rolle spielen. Nach der ausführlichen Dusche verließ Christian das Bad und nach einem Blick ins Schlafzimmer, in dem Anne immer noch schlief, durchquerte er das Wohnzimmer auf dem Weg in die Küche. Christian und Anne waren nach dem Kennenlernen schnell zusammen gezogen und er liebte noch immer den Blick durch die Terrassentür in den großen Garten. Besonders jetzt im Frühjahr, wenn die ersten Pflanzen anfingen zu blühen. Verwundert stellte Christian fest, dass die Terrassentür nur angelehnt war, dachte sich aber nichts weiter dabei. Häufig lies Anne den dicken roten Hauskater Stitch nachts nochmal nach draußen. Danach lehnt Sie die Terrassentür meistens nur an und kam ins Bett zurück. Christian machte die Tür zu und ging in die Küche um den Kaffee in die Thermoskanne zu füllen und den Toast vorzubereiten. Beim Blick auf die Küchenuhr schweifte sein Blick über den Küchentisch und blieb an einer kleinen roten Schachtel hängen. Er war sich sicher, dass er das kleine Päckchen nicht auf den Tisch gelegt hatte und schaute daher neugierig auf den kleinen weißen Papieranhänger. „Ein Gruß aus der Vergangenheit“. Christian runzelte nachdenklich die Stirn. Das Päckchen hatte doch vorhin, als er das erste Mal in der Küche gewesen war, nicht auf dem Tisch gelegen? Unschlüssig schaute er sich um und sein Blick blieb an der Terrassentür hängen. Konnte das sein? Hatte sich während seiner Dusche jemand Zutritt zu der Wohnung verschafft? Anne jedenfalls schien noch fest zu schlafen. Und warum sollte sie ihm heute ein Geschenk machen? Hatte er ein wichtiges Datum verpasst? Christian überlegte, ob er das Päckchen öffnen sollte. Da er von Grunde auf eher neugierig als ängstlich war, kam er zu dem Schluss, dass er einen Blick riskieren konnte. Er hob es hoch und wog es in der Hand. Im Innern fiel etwas von der einen auf die andere Seite. Langsam öffnete er den Deckel. In der Schachtel befand sich ein Handy. Das Handy war definitiv nicht seines und auch das von Anne war von einer anderen Marke. Nachdenklich betätigte er den Schalter an der Seite und das Display leuchtete auf. Christian lies beim Anblick der abgebildeten Photographie vor Schreck fast das Handy fallen. Auf dem Bildschirm war ein Pool zu sehen und darüber der Schriftzug „Ich habe dich gesehen“. Das Schwimmbad lag in einem großen Garten und war von einem Haus aus aufgenommen. Beides kannte Christian nur zu gut und das Bild katapultierte ihn 25 Jahre in die Vergangenheit. An einen tristen Dezembernachmittag, der ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen und prägen sollte. An einen Nachmittag, an dem er sich schuldig gemacht hatte und von dem er bis vor einer Minuten geglaubt hatte, dass er allein von den Vorkommnissen wusste. Wie war das nach all der Zeit möglich? Wie aus dem Nichts griffen die Schatten der Vergangenheit plötzlich nach ihm. In dem Moment als er fast den Boden unter den Füssen zu verlieren drohte, wurde er von hinten gepackt und liebevoll auf den Nacken geküsst. „Hallo mein Schatz. Was machst du den schon so früh auf? Gibt´s Frühstück“. Anne war unbemerkt von ihm aufgestanden und zu ihm in die Küche gekommen. Als sie die offene Schachtel auf dem Tisch liegen sah, lächelte sie und die kleinen Grübchen, die er so liebte, waren zu sehen. „Ein Geschenk. Für mich?“ Christian war es gerade noch so gelungen das Handy hinter seinem Rücken verschwinden zu lassen. „Ja……aber, das soll eine Überraschung werden“ stammelte er, weil er nicht wusste, wie er die Situation sonst erklären sollte. „Das bekommst du jetzt noch nicht“. „Oh schade. Na da bin ich ja mal gespannt. Ich gehe auch erst mal ins Bad. In 15 Minuten auf der Terrasse zum Frühstück“? „Ich freu mich mein Schatz“ sagte Christian mehr oder weniger hölzern, war aber in diesem Moment in Gedanken bereits weit zurück in der Vergangenheit.

2

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. Die schwere, mit Wasser vollgesogene Jacke hing wie ein Bleigürtel an ihrem schlanken Körper und zog sie langsam aber sicher auf den Grund des ca. 2 Meter tiefen Pools.

Bis vor wenigen Minuten war die Welt noch in Ordnung gewesen. Svenja war mit ihrem Freund Christian auf dem Weihnachtsmarkt des kleinen Ortes unterwegs gewesen. Die beiden Neuntklässler hatten einen Glühwein getrunken, Zuckerwatte gegessen und hinter den Buden abgehangen. Irgendwann war das aber langweilig geworden und so hatten die beiden beschlossen zu Svenja nach Hause zu gehen. Die beiden Teenager waren gegangen, ohne dass es jemand bemerkte. Sollten die Erwachsenen doch alleine weiter feiern. Christian wusste, dass Svenjas Eltern vor zwei Jahren einen großen Pool im Garten des Einfamilienhauses gebaut hatten. Dieser war aktuell zugefroren und so war die Idee geboren, diesen als Schlittschuhbahn zu benutzen. Svenja hatte zwar verboten bekommen, den zugefrorenen Pool zu betreten, aber wer sollte schon etwas sagen. Svenjas Eltern waren mit Bekannten auch auf dem Weihnachtsmarkt und es würde noch eine ganze Zeit dauern, bis sie zurück kamen. Beide hatten viel Spaß auf der zugefrorenen Fläche, bis Christian auf seine Uhr sah und bemerkte, dass es schon 16 Uhr war. Es dämmert bereits, als er sich verabschiedete, um unbemerkt von den Erwachsenen, auf den Weihnachtsmarkt zurückzukehren. „Sei doch kein Spielverderber“, rief Svenja und sprang wild auf der glatten Fläche herum. In dem Moment zerbrach der Boden unter Ihren Füssen und innerhalb von wenigen Augenblicken war sie im Pool verschwunden.

 

Wild mit den Armen rudernd und nach Luft schnappend tauchte sie kurz danach wieder auf. Christian stand am Beckenrand. Hatte er zunächst noch sehr besorgt und aufgeregt gewirkt, veränderte sich plötzlich seine Körpersprache. Er stand ganz ruhig da. Svenja registrierte in ihrer ausweglosen Situation, dass sein Ausdruck von Angst und Besorgnis zu Neugier und unverhohlener Sensationslust wechselte. Ja er schien regelrecht neugierig zu sein, wie lange Svenja den Kampf würde aushalten können. Christian jedenfalls rührte sich keinen Millimeter vom Fleck und starte Svenja bei ihrem Todeskampf an, ohne auch nur den Anschein zu machen, seiner Freundin helfen zu wollen. In panischer Angst und der plötzlichen Gewissheit, dass ihr niemand helfen würde, tauchte das Mädchen immer wieder ab, bis sie die Kraft verlies. Dann war alles ruhig. Svenja war im Pool verschwunden und die nun wieder spiegelglatte Oberfläche des Pools lies nicht mehr erahnen, was sich hier vor wenigen Augenblicken noch abgespielt hatte.

Im Polizeiverhör sagte Christian aus, dass er Svenja das letzte Mal gesehen habe, als er sie bis zur Haustür gebracht hatte. Christians Eltern waren bemüht ihn möglichst nicht mit dem Vorfall zu konfrontieren und nach einiger Zeit war der schreckliche Unfall in seinem Umfeld kein Thema mehr. Als seine Familie schließlich berufsbedingt wegzog, ließen sie auch räumlich die Vergangenheit ruhen. Christian selbst hatte das Geschehen und die Gefühle im hintersten Teil seiner Seele weggeschlossen und erfolgreich verdrängt. Dies sollte sich 25 Jahre später schlagartig ändern.

3

Nach dem ersten Schock und dem verzweifelten Versuch, sich den Fund des Handys zu erklären war Christian dazu übergegangen noch etwas Obst für das Frühstück zu schneiden. Wenn ihm, neben seinem beruflichen Erfolg, etwas in den vergangenen 25 Jahren bis zur Perfektion gelungen war, dann war dies, Gefühle nicht zu zeigen oder gekonnt zu überspielen. Dies ließ ihn im Freundeskreis im Gegensatz zu Anne immer etwas unnahbar erscheinen. Er hatte für sich beschlossen, Anne nicht in die Geschichte einzuweihen. Tatsächlich verlief das gemeinsame Frühstück relativ normal. „Was wollen wir den heute unternehmen? Hast du Lust mal auf den Wochenmarkt zu fahren und ein wenig zu bummeln? Dann können wir auch die Zutaten für das Abendessen heute ganz frisch einkaufen“? „Oh ja“ antwortetet Anne, die es sehr genoss die freien Samstage auf dem Markt zu verbringen. Das Marktleben war ein ziemlicher Kontrast zu ihrem täglichen Berufsleben in dem sie als Pflegerin häufig mit schwerkranken Patienten zu tun hatte, die ihre ganze Aufmerksamkeit forderten.

 

Nachdem die beiden den Tisch abgeräumt hatten, ging Christian noch einmal durch die Wohnung und kontrolliert, alle Türen und Fenster. Das mulmige Gefühl war zurück und er fühlte sich beobachtet. Doch es war alles wie immer. Alle Türen und Fenster waren verschlossen und so gingen beide die Auffahrt zu Christians Auto hinunter, nachdem sie auch die Haustür sorgfältig abgeschlossen hatten. Auf der Straße war heute wenig los und lediglich ein einzelner Fahrradfahrer fuhr gerade an ihrem Grundstück vorbei um in diesem Moment sein Gesicht Richtung Haus zu wenden. Irgendetwas an dessen Haltung und Aussehen kam Christian bekannt vor, ohne dass er genau sagen konnte woran das lag. Vermutlich wohnte der Mann, der ungefähr in seinem Alter war, in der Gegend. Christian öffnete das Auto, verstaute den Korb im Kofferraum und Anne war bereits auf der Beifahrerseite eingestiegen, als er an die Fahrerseite heran trat. Was er dort sah, ließ ihn in der Bewegung erstarren. Unter den Türgriff war ein kleines Polaroidbild geklebt. Das konnte unmöglich sein. Auf dem Bild war seine frühere Freundin Svenja abgebildet. Christian riss das Bild schnell von der Tür und dreht sich um, aber außer der leeren Straße und dem Radfahrer, der gerade um die nächste Ecke bog war niemand zu sehen. Schnell stieg er ins Auto ein und warf die Tür hinter sich zu als würde in jemand verfolgen. Entsprechend fragend schaute ihn Anne an. „Schatz was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus als hättest du einen Geist gesehen“. Wie dicht Anne mit dieser Aussage der Wahrheit kam. Christian jedenfalls versuchte sich nichts anmerken zu lassen und antwortete: „Das ist wohl der viele Alkohol von gestern. Mir geht es noch nicht so gut. Vermutlich muss ich mich heute Mittag einfach nochmal auf`s Ohr hauen“. Mit dieser Erklärung ließ er es bewenden und schaltete das Radio ein. Nach einer kurzen schweigsamen Fahrt parkten sie das Auto. Auf dem Weg zu den Ständen bemerkte Anne, dass Christian doch ziemlich blass war. „Sag mal, dir geht´s echt nicht gut oder? Du siehst ganz krank aus. Vielleicht tut dir die Sonne ja ganz gut“. „Ja das hoffe ich auch. War vielleicht alles ein bisschen viel in letzter Zeit“. „Dann legst du dich nachher nochmal hin, wenn wir zu Hause sind. Ich wollte mich heute sowieso nochmal mit Klara treffen. Ich kläre das gerade mal mit ihr ab und dann sehen wir uns heute Abend und kochen zusammen. Geh doch schon mal zum Käsestand. Ich komme dann nach“. Anne blieb stehen und fing an eine Nachricht an ihre beste Freundin zu schreiben. Christian schlenderte also allein weiter. Seine Gedanken landeten immer wieder bei den Vorkommnissen in der Vergangenheit und er fragte sich, wer ihn damals beobachtet haben konnte. Als er gerade am Obststand vorbei kam, sah er den Radfahrer von vorhin wieder. Dieser Stand ca. 30 Meter von ihm entfernt und schaute ihn an. In diesem Moment wusste Christian auch, woher er den Mann kannte. Es war Erik ein ehemaliger Mitschüler und vor einer Ewigkeit Mitglied seines Freundeskreises. Erik war damals auch auf dem Weihnachtsmarkt gewesen und hatte den „Unfall“ von Svenja mitbekommen. Christian meinte sich daran zu erinnern, dass Erik sogar ein klein bisschen verliebt in Svenja gewesen war. Gerade als Christian auf Erik zugehen wollte drehte dieser sich um und verschwand schnellen Schrittes in der Menge. Christian versuchte ihn noch zu verfolgen, nach dem nächsten Marktstand war aber von Erik keine Spur mehr zu sehen. In diesem Moment vibrierte das Handy in seiner Hose und signalisierte ihm eine eingehende Nachricht. „Unbekannter Teilnehmer“ war auf dem Display zu lesen. Mit zittrigen Händen tippte er auf das Briefsymbol für empfangene Nachrichten. „Lass es uns zu Ende bringen. In drei Stunden in Svenjas altem Haus. Komm allein…Der Schlüssel liegt unter der Matte“.

 

Die Erklärung, die er gegenüber Anne fand, war kurz und ohne lange Ausführungen. Er wollte schnellstmöglich nach Hause und auf das Sofa. Dass Annes Verabredung mit Klara funktioniert hatte spielte ihm in die Karten. So musste er sich zumindest keine andere Ausrede für seine Freundin einfallen lassen. Zunächst wollte er Anne bei Klara absetzen, danach nochmal kurz nach Hause fahren und anschließend die einstündige Fahrt in seinen alten Heimatort antreten.

 

4

Am frühen Nachmittag traf er in seiner alten Heimat ein. Das Ganze kam Christian sehr surreal vor. Es war gerade sechs Stunden her, dass er das Handy gefunden hatte, aber er fühlte sich um Jahre gealtert. Alles was er in den letzten 25 Jahren mehr oder weniger erfolgreich verdrängt hatte, stürzte nun komprimiert auf ihn ein. Die Straßen und Häuser hatten sich kaum verändert. Auf der Bahnhofstraße kam er an seinem Elternhaus vorbei. Das Haus war neu gestaltet worden. An Stelle der vielen kleinen Fenster waren große lichtdurchlässige Scheiben getreten. Christian wusste nicht, wer jetzt hier wohnte und an wen seine Eltern damals verkauft hatten.

 

Am Ende der Bahnhofstraße bog er links in den Finkenweg ab. In der Nachbarschaft war alles ruhig. Christian parkte sein Auto am Straßenrand direkt vor dem Haus, das er sofort wieder erkannt hatte. Die Gardinen waren vorgezogen aber das Haus wirkte dennoch bewohnt. Was wollte er eigentlich hier? Wer sollte ihm nach 25 Jahren schon etwas anhaben wollen und warum ausgerechnet jetzt? Was hatte er denn Strafbares getan? Wie sollte er weiter vorgehen? Als er so über all die Fragen nachdachte, merkte er, dass er quasi ohne Plan hier erschienen war. Natürlich hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wer hinter all dem steckt, welchen Plan dieser verfolgte und wie er selbst am Ende aus dieser Situation wieder rauskommen konnte. Lösungen hatten ihm seine Grübeleien aber nicht gebracht. Es blieb nur die Flucht nach vorne. Bevor er zur Haustür ging wollte er zuerst einen Blick in den Garten werfen. Diesen schicksalhaften Ort, der das Leben so vieler Menschen verändert hatte. Nachdem er seitlich am Haus vorbeigegangen war, kam er an das kleine Gartentörchen das von der Hecke umwachsen war. Auch hier war alles ruhig. Im hinteren Teil des Gartens sah er den Pool. Schlagartig waren die Gefühle des Nachmittags vor 25 Jahren wieder ganz real. Da war diese unglaubliche Angst, die Trauer, das Entsetzten aber auch diese Gier etwas zu erleben, was man nicht erleben sollte. Dieses Gefühl, dass er nie mehr wieder in seinem Leben haben sollte und über das er bisher mit noch keinem Menschen gesprochen hatte. Er hatte damals die Macht über Leben und Tod gespürt. Ein Gefühl, dass ihm auf der einen Seite Angst machte und ihm auf der anderen Seite eine unglaublichen Kick verlieh. Das Böse hatte sich in diesem einen Moment gezeigt ohne, dass Christian dies erklären konnte.

 

Christian ging zur Haustür und fand den Schlüssel wie besprochen unter der Fußmatte. Er blickte sich um. Immer noch war niemand auf der Straße zu sehen. Wer würde im Haus auf ihn warten? Langsam steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Das Schloss ging ganz leicht und Christian betrat den kleinen Flur, den er von früher kannte. Die Luft roch etwas abgestanden aber das Haus wirkte dennoch bewohnt. Es schien niemand da zu sein. Am Ende des Ganges war die Küche, von der aus man den Garten sehen konnte. Auch diese war leer. Gerade als Christian einen Blick ins angrenzende Zimmer werfen wollte, klingelte es an der Tür.

 

Er erstarrte in der Bewegung und schaute Richtung Haustür. In einem ersten Reflex wollte er sich verstecken und wurde sich augenblicklich der Lächerlichkeit bewusst. Er war ja hier um sich zu stellen. Die Sache musste nun geklärt werden. Langsam ging er zurück zu der Tür durch die er das Haus betreten hatte und riss diese schnell auf. „Mein Gott hast du mich erschreckt“ sagte Anne und blickte ihn ganz verdattert an. Christian wusste nicht wie er reagieren sollte. Er blickte über Annes Schulter die Straße hoch und runter und zog sie dann schnell ins Haus.“Aua, du tust mir weh. Was soll das denn?“ fragte sie, nachdem beide im Flur standen. „Ja das frage ich dich. Was machst du denn hier?“ flüsterte Christian als fürchtete er, dass sie belauscht werden. Er blickte seine Freundin verständnislos an. Anne wirkte irritiert. „Das verstehe ich jetzt nicht. Du hast mir doch eine SMS geschickt und mich hierher bestellt. Ich dachte es geht um die Überraschung, die du für mich vorbereitet hast. Erst warst du den ganzen Tag so seltsam und dann hattest du nichts dagegen, dass ich mich an unserem freien Wochenende mit Klara treffe. Ist das Haus hier die Überraschung, von der du heute Morgen gesprochen hast?“. Christian war völlig überfahren. Erst war er hier an diesen schicksalhaften Ort gelockt worden und dann sollte er eine SMS an seine Freundin geschrieben haben. Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. Was wenn der Unbekannte sie beide bestrafen wollte? Warum zog er jetzt auch Anne in die Sache rein? Seine Gedanken rasten. Unschlüssig, wie er das Ganze Anne erklären sollte, standen sie immer noch im Flur. Zu seinem Glück löste seine Freundin die Situation. „Lass uns doch erst mal hier aus dem Flur gehen“ sagte Anne und schob ihn in das angrenzende Wohnzimmer. Was Christian hier sah, zog im fast die Beine weg. Der große Wohnzimmertisch glich einem Altar. Bunte Blumen waren zu Sträußen gebunden, Geschenke waren auf dem Tisch verteilt und ein großes Schwarz-weiß Foto mit einer schwarzen Schärpe stand in der Mitte des Tisches auf einer kleinen Erhöhung. Von dem Foto lächelte ihn Svenja an und davor stand eine Geburtstagstorte „Svenja 40“. Sollte das heute etwa der vierzigste Geburtstag seiner toten Freundin sein? Bevor Christian realisieren konnte, was er da sah, hörte er eine vertraute Stimme „Heute wäre sie 40 Jahre alt geworden. Jetzt zahlst du deine Schulden“. Den darauffolgenden kurzen Stich in seine Hals merkte er wie nebenbei. Auch das im warm wurde, er zunächst die Arme und dann die Beine nicht mehr spürte, erlebte er wie in Trance. Danach wurde die Welt schwarz und so bekam er den harten Aufprall auf den Wohnzimmerboden nicht mehr mit.

5

Was war das doch für ein toller Tag. Endlich durfte Anne das erste Mal allein zu Hause bleiben. Ein echtes Highlight für eine Achtjährige. Dies hatte vermutlich auch damit zu tun, dass die Eltern ja nicht weit weg waren und sich lediglich auf dem Weihnachtsmarkt ein paar schöne Stunden machen wollten. Auch Ihre sieben Jahre ältere Schwester Svenja war mit ihrem besten Freund Christian mitgegangen. Diesen kannte Anne nur vom Sehen, weil Svenja selten Freunde mit nach Hause brachte. Anne hatte sich eine neue Kassette mit einem Hörspiel für den Walkman von Svenja ausgeliehen und genoss die Zeit auf ihrem Bett im ersten Stock des großen Hauses. Gerade als sie in die Küche gehen wollte um den Keksvorrat wieder aufzufüllen hörte sie laute Stimmen und ein Lachen im Garten. Sie trat ans Fenster um nachzusehen wer dort draußen einen solchen Spaß hatte. Die nächsten Minuten sollten Ihr Leben verändern und anschließend war nichts mehr wie früher.

Warum tat er denn Nichts? Warum stand Christian einfach nur so da und rührte sich nicht, während ihre über alles geliebte Schwester ihre letzten verzweifelten Atemzüge tat. Auch 25 Jahre später hatte Anne hierauf keine Antwort. Sie wusste auch nicht warum sie selbst nichts getan hatte. Wie versteinert hatte das achtjährige Mädchen hinter dem Vorhang ausgehart, bis Christian weg war. In der Anfangsphase nach Svenjas Tod fand sie nicht den richtigen Zeitpunkt sich ihren Eltern anzuvertrauen, auch aus dem Gefühl heraus selbst nichts unternommen zu haben und später war der Punkt dazu irgendwie überschritten gewesen. Die folgenden Jahre hatte sie erlebt, als würde sie in einer zähen Flüssigkeit festhängen. Sie nahm alles um sich herum nur gedämpft wahr. Was sie heute allerdings mit Sicherheit wusste war, dass Christian schuld am Tod ihrer großen Schwester war. Die Art und Weise, wie er nichts unternommen hatte und wie er dann einfach so weggegangen war, hatte sie als Achtjährige zwar nicht ganz realisieren können, aber es war ihr schon damals nicht richtig vorgekommen. Heute mit etwas Abstand war seine Schuld für sie offensichtlich und alternativlos. Als dann vor zwei Jahren, innerhalb von kurzer Zeit zuerst ihr Vater und dann ihre Mutter, verstorben waren und Sie das Haus geerbt hatte, stand für sie fest: Für die Schuld die Christian auf sich geladen hatte, würde er bezahlen.

6

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er sie an. Die schwere mit Wasser vollgesogen Jacke hing wie ein Bleigürtel an seinem Körper und zog ihn langsam aber sicher auf den Grund des ca. 2 Meter tiefen Pools. Er war an Händen und Füssen gefesselt und konnte sich kaum rühren. Als er keine Luft mehr bekam und kurz davor war panisch einzuatmen, packte ihn eine Hand an den Haaren und zog seinen Kopf über Wasser. Er hustet, und verschluckte sich, bekam aber endlich wieder Luft. „Du weist es immer noch nicht oder?“ Seine Gedanken überschlugen sich. „Du hast mir meine große Schwester, meine Kindheit und meinen Eltern ihre Tochter genommen. Seit 25 Jahren vergeht kein Tag an dem ich nicht an sie denke, trauere, verzweifle und mir wünsche, ich hätte, in diesem Moment, nicht aus dem Fenster gesehen“ sagte Anne. In diesem Moment lichtete sich der Nebel vor Christians Augen und mit einem Mal war alles klar. Er sah Anne und ihre ältere Schwester Svenja und das Haus mit dem Garten und dem Pool vor 25 Jahren. Ihm wurde bewusst, das Anne das Handy platziert, das Bild ans Auto gehängt und die anonyme SMS geschrieben hatte. Auch eine Verabredung mit Klara hatte es nicht gegeben. Und er selbst hatte keine SMS geschrieben. Schlagartig wurde im klar, dass auch ihr Kennenlernen vor einem Jahr kein Zufall gewesen war. Anne hatte wirklich nichts dem Zufall überlassen. Warum waren ihm ihre Herkunft und ihre wirkliche Identität nicht bereits im letzten Jahr aufgefallen? Auch seine Familie hatte Anne nicht erkannt, die sich seit ihrem achten Lebensjahr natürlich verändert hatte. Ohne, dass sie ein weiteres Wort sagte, stieg Anne aus dem Pool und stellte sich an die Stelle, an der vor fast 25 Jahren Christian gestanden hatte. Ohne jede Gefühlsregung blickte sie auf ihn herab. Durch die gefesselten Arme und Beine tauchte Christian immer wieder kurz ab und wieder auf, konnte sich aber nicht dauerhaft über Wasser halten. Der Todeskampf dauerte nicht länger als bei Svenja vor 25 Jahren. Nach seinem letzten Atemzug wurde Christian ganz ruhig und es durchströmte ihn eine Art Erleichterung, dass nun alles vorbei war. Dann war alles ruhig.

Zwei Stunden später lief Anne durch ihren kleinen Heimatort, der Zeuge einer weiteren Tragödie geworden war. Die Schatten ihrer Vergangenheit hatten sich gelichtet und es fühlte sich richtig und befreiend an. Anne lief die Bahnhofstraße bis zu Christians Elternhaus. In ihrem Korb hatte sie die Geburtstagstorte verstaut. Sie klingelte und roch schon vor der Tür den duftenden Kaffee. Die Tür wurde geöffnet. Anne lächelte den Mann an, der die Tür für sie aufhielt. Erik lächelte zurück und bat sie nach drinnen.

 

6 thoughts on “Der 40ste Geburtstag

  1. deine geschichte gefällt mir! witzig finde ich, dass wir eine ähnliche idee hatten und somit einige parallelen haben! der anfang ist bei uns sehr ähnlich. auch bei mir ist es die schwester, die ihre geliebte schwester verloren hat… 🙂

    1. Ich finde die Idee gut 😊 mir ist nur nicht so richtig klar, warum der junge Mann dabei zusieht, wie seine Freundin ertrinkt? Hat er vielleicht eine psychische Erkrankung? Das müsste man vielleicht noch beleuchten. Ansonsten gut gemacht 👍

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