Maikey_michDer Anfang ist das Ende

 

Sommer 2020. Heute scheint die Sonne wieder besonders stark in Nürnberg. Trotz der regelmäßigen Kühlung der Theke und herunter gelassenen Jalousien ist es in der Metzgerei Qubig wärmer als sonst.

Hinter der Theke steht Ilse. Ilse Qubig, die den Familienbetrieb vor 10 Jahren von ihrem Onkel übernommen hat. Sie ist eine sehr aufgeschlossene und hilfsbereite Frau mit engelsgleichen lockigen, blondem Haar. Zudem hat sie immer ein Lächeln auf dem Gesicht.

Auf ihrer Stirn hat sich eine Schweißperle gebildet, die langsam herunterläuft. Entlang an der großen Narbe, die von der Stirn über die Nase bis hin zum Kinn verläuft.

Sie geht nach hinten in den Kühlraum und wischt sich das Gesicht ab. Dort bleibt sie eine Weile stehen und genießt die kühle Luft. „Zum Glück schließen wir bald.“ Denkt sich Ilse. Doch dann klingelt die Glocke an der Theke. Ein Kunde der kurz vor Ladenschluss noch was kaufen möchte. Sie geht nach vorne, aber da steht niemand. Sie hat sich das klingen der Glocke wohl nur eingebildet. Höchste Zeit den Laden zu schließen, immerhin stand sie heute 10 Stunden hinter der Theke.

Gerade als Ilse nach hinten gehen will um die letzten Aufgaben zu erledigen, fällt ihr ein schwarzes Smartphone auf der Theke auf. „Komisch das ist mir vorhin gar nicht aufgefallen.“ Denkt sich Ilse.

Verwundert ist sie aber nicht, denn in der heutigen so schnelllebigen Zeit, passieren aller Hand Dinge. Sie nimmt das Handy und legt es ins Büro. Sicher wird morgen schon jemand kommen und es abholen.

 

 

 

Der nächste Tag. Nachdem sich niemand nach dem Handy erkundigt hat, beschließt Ilse das Handy ins Fundbüro zu bringen.

Sie steigt in ihren schwarzen BMW und fährt in Richtung Stadtmitte.

Doch plötzlich klingelt das Handy. Vielleicht ist es der Besitzer, der sich zu melden versucht. Schnell fährt Ilse rechts ran und drückt auf das Handy. Sie ruft mehrere Male Hallo, aber niemand der sich meldet. Als sie auf das Display schaut, sieht sie, dass niemand angerufen hat. Es war nur eine Nachricht, die oben angezeigt wird.

Heutzutage kann man ja alles Mögliche an diesen Dingern einstellen, geht es ihr durch den Kopf.

Als sie das Handy wieder in die Ablage legen will, bemerkt sie, dass das Handy gar keine Tastensperre hat.

Neugierig hält sie das Handy in der Hand und überlegt, ob sie wohl etwas über den Besitzer in Erfahrung bringen kann. Sie ist hin und hergerissen.

Immerhin würde sie es auch nicht wollen, wenn jemand einfach in ihrem Handy herumstöbert. Aber am Ende siegt die Neugier.

Sie öffnet die Nachricht. Dort steht in fetten Lettern geschrieben: „SCHAU IN DIE GALERIE!“

Mit leichtem Herzklopfen wischt ihr Finger über den Bildschirm und landet dann auf der Galerie.

Sie hält einen Moment inne,dann drückt sie mit dem Finger auf das Symbol Galerie und was sie da sieht erschüttert sie bis ins Tiefste. Ihr Gesicht erstarrt, mit weit aufgerissenen Augen schaut sie auf die Bilder. Sie geht mit dem Gesicht ganz nah an das Display um sicher zu gehen, was sie da sieht.

Wie ist das möglich, nein! Sie steigt aus dem Auto aus und atmet tief ein und aus. Ilse beginnt zu zittern, ihr wird ganz schlecht. Ihr wird schwarz vor Augen, sie ringt nach Luft. Sie bekommt Panik und schließlich übergibt sie sich. Sie sinkt zu Boden. Ihre Gedanken schreien: „Nein das kann nicht sein. Das ist alles nicht wahr. Mein Leben ist vorbei!“

 

 

 

Sommer 1986. Lachend sitzen Katja und Ilse hinten im Auto. Sie freuen sich schon sehr auf den anstehenden Urlaub.

Katja ist überglücklich, dass ihre Eltern erlaubt haben, dass sie mit Ilse und ihren Eltern in den Urlaub fahren darf.

Denn in letzter Zeit musste Katja wieder öfter auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen. Obwohl sie selbst gerade erst 12 Jahre alt ist. Aber ihre Mutter sagt immer, als große Schwester muss sie ihr helfen auf die anderen fünf Kinder aufzupassen. Eltern brauchen schließlich auch mal Zeit für sich, ohne Kinder. Katja versteht das Ganze gar nicht. Sie sehen sich doch jeden Tag, da beide nicht arbeiten und oft zusammen im Wohnzimmer rumhocken.

Aber das kann ihr jetzt egal sein. Sie fährt mit ihrer besten Freundin Ilse in den Urlaub.

Sie haben sich vor vier Jahren auf dem Spielplatz kennengelernt und machen seitdem sehr viel zusammen.

Beide haben lockiges, blondes Haar und sind gleich groß. Ilses Mama sagt immer: „Von hinten kann ich euch gar nicht unterscheiden. Ich muss euch zwei Engeln immer ins Gesicht schauen.“

Ilses Eltern haben eine eigene Firma, ein großes Haus mit Pool, sogar drei Autos und fahren jedes Jahr zweimal in den Urlaub. Im Gegensatz zu Katjas Eltern haben sie sehr viel Geld.

Noch eine Stunde Fahrt, dann erreichen sie ihr Urlaubsziel.

Die beiden sind so aufgeregt.

Doch plötzlich gibt es einen lauten Knall. Katja schlägt mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe. Sie hört Ilse schreien, dann wird alles schwarz.

 

 

 

Im Krankenhaus. Katja bekommt ihre Augen nicht auf. Ihr Kopf tut so schrecklich weh. Sie kann sich kaum bewegen. Und dann hört sie die Stimme ihrer Eltern. „Mama! Papa!“ Schreit sie in Gedanken.

Katja kann nur hören, wie sie mit jemanden reden. Er hat sich als Arzt vorgesellt.

Sie hört, wie sich ihre Eltern aufregen und den Arzt anbrüllen, was sie jetzt tun sollen, wie sie an Schmerzensgeld kommen, wenn die Eltern von Ilse Tod sind und sie jetzt ein entstelltes Kind haben.

Katjas Herz springt in die Luft und ihre Gedanken kreisen. Wo ist sie? Ilses Eltern Tod? Der Knall, die Schreie! Was ist passiert?

Tränen laufen ihr übers Gesicht und erst jetzt bemerkt sie den starken Schmerz. Sie fasst sich ans Gesicht, aber sie fühlt nur einen Verband. Sie ist so erschöpft und schließlich schläft sie ein.

Als sie wieder zu sich kommt hört sie weitere Stimmen, diesmal aber viel näher. Sie unterhalten sich darüber, dass ein Mädchen nicht mehr weiß, wer sie ist. Und das andere Mädchen war noch nicht ansprechbar.

Aufgrund der Verletzungen kann man nicht mit Sicherheit sagen, wer von den beiden Mädchen wer ist.

Es stellt sich heraus, dass der andere Mann der Onkel von Ilse ist. Er hatte wegen eines Streits keinen Kontakt zur Familien, deshalb hat er Ilse seit 5 Jahren nicht gesehen. Er ist tief erschüttert, dass sein Bruder und seine Frau bei dem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen sind und möchte nun für Ilse da sein.

Katja kann es nicht glauben, was sie da hört. Ilses Eltern sind Tod, Ilse weiß nicht wer sie ist, ihre Eltern dagegen sorgen sich nur ums Schmerzensgeld und sie ist wahrscheinlich für immer entstellt.

Panik kommt in ihr auf. Sie öffnet die Augen und da sieht sie die zwei Männer vor ihrem Bett stehen.

Als die beiden bemerken, dass Katja wach ist gehen sie auf sie zu und sagen ihr, dass alles gut wird. Und dann kommt die Frage: „Weißt du wie du heißt?“

Katja öffnet den Mund und versucht zu sprechen. Dabei ertönt der Name nur leise und gehaucht. „Ilse! Ich bin Ilse!“

 

 

 

Am nächsten Morgen, Nürnberg 2020. Schreiend und schweißgebadet wacht Ilse auf. Schnell vergewissert sie sich, dass ihr Mann nicht wach wurde. Er schläft noch. Ihr rinnen die Tränen übers Gesicht. Sie weiß, dass sie ihre alte Freundin finden und mit ihr reden muss. Sie steht auf und schleicht leise ins Badezimmer um sich fertig zu machen. Ilse möchte schnell aus dem Haus bevor ihr Mann wach wird und zuletzt noch bemerkt, dass etwas nicht stimmt.

Seitdem sie die Bilder auf dem Handy gesehen hat, ist sie unruhiger und unaufmerksamer, weil sie permanent dieses eine Bild vor Augen hat. Dieses Bild auf dem zwei, blonde Mädchen mit lockigem Haar darauf zu sehen sind. Auf dem sie und Ilse zu sehen sind.

Sie muss ständig daran denken, was früher passiert ist. Sie hat es doch nur gut gemeint. Ilse konnte sich nach dem Unfall nicht mehr erinnern, wer sie war.

Katja wollte Ilse doch nur schützen. Sie wusste doch, wie sehr Ilse ihre Eltern geliebt hat. Und wie schlimm muss es sein zu wissen, deine Eltern sind Tod und du kannst dich an nichts erinnern oder aber die Erinnerungen kommen zurück und es trifft dich aus dem Nichts.

Katja dachte, es wäre einfacher für Ilse mit Eltern und sogar Geschwistern aufzuwachsen, immerhin hat sie sich Geschwister immer gewünscht. Katja dagegen hat es gehasst, weil sie so viel zu Hause mit helfen musste.

Außerdem wollte sie nicht zu ihren Eltern zurück. Sie haben nur an Schmerzensgeld gedacht. Wenn sie jetzt entstellt ist, werden sie mich noch weniger lieben. „Wenn sie mich überhaupt schon je geliebt haben.“ Dachte sich Katja damals.

Sie kannte es nicht umarmt zu werden oder dass man sich um sie sorgt.

Der Onkel von Ilse hörte sich sehr nett an und er hatte gesagt, dass er sich gut um Ilse kümmern wird.

Als Katja es ausgesprochen hatte, konnte und wollte sie den Namen Ilse nicht mehr zurück nehmen. Es war ausgesprochen.

Katja ist nun Ilse und Ilse ist nun Katja.

Es vergingen noch Wochen, ehe sie das Krankenhaus verlassen durfte. Sie verstand sich gut mit Bert, sozusagen ihrem neuen Onkel.

Das, was sie allerdings nicht wusste, war dass Bert eine eigene Metzgerei in Wien bevorzugte und sie mit ihm dorthin ziehen musste.

Sie wollte doch so gerne für Ilse da sein, wenigstens für den Anfang.

Ilses Gesicht ist zur Hälfte mit Verbrennungen 2. Und 3. Grades überdeckt.

Während Katja mit einer großen Verletzung versehend ist, die von der Stirn, über die Nase und schließlich zum Kinn hin geht und endet, versehen ist. Noch ist die Verletzung nicht abgeheilt und verschiebt ihre Gesichtszüge. Die Ärzte sind aber optimistisch, dass es gut abheilen wird und mit einer Operation verschönert werden kann.

Ilse hingegen muss damit leben, dass sie ihr Leben lang Narben im Gesicht haben wird, die sie entstellen.

Aber deswegen spendete Bert ihr ja auch 100 000 Euro, die sie dann mit 18 Jahren ausbezahlt bekommt.

Denn Katja weiß genau, wie ihre Eltern sind. Sie würden Ilse das Geld nur nehmen und für andere Dinge ausgeben.

Jetzt nachdem sie weiß, dass Ilse und nicht sie entstellt ist, kann sie es trotzdem nicht mehr zurück nehmen. Aber sie weiß Ilse wird glücklich mit Eltern und Geschwistern. Sie ist so eine gute Seele.

Die Eltern von Katja waren sehr wütend darüber, da nicht sie das Geld bekommen haben, sondern für Katja auf ein eigenes Konto eingezahlt wurde. Deshalb haben sie den Kontakt zwischen den Mädchen verboten haben.

Am Anfang hatten sie noch eine heimliche Brieffreundschaft, aber das durchschauten die Eltern von Katja schnell. Den letzten Brief den Ilse bekam war mit Januar 1987 datiert. Zu dieser Zeit befand sich die richtige Ilse noch immer im Krankenhaus.Und so kam es, der Kontakt zwischen Katja und Ilse brach ab.

Und Katja die fortan Ilse war, zog mit Bert 1990 nach Nürnberg, weil er dort seine große Liebe Claudia heiratete und dort gemeinsam mit ihr eine neue Metzgerei aufmachte. Von nun an hatte Ilse also einen Vater und eine Mutter, die sie sehr liebten.

Sie machte im selben Jahr ihren mittleren Bildungsabschluss und begann eine Lehre als Metzgerin. Während der Ausbildung hat sie Konrad kennen und lieben gelernt. Ilse und Konrad heirateten nach der Ausbildung und gründeten eine Familie. Sie hatte alles, was sie sich je erträumt hat.

Und dann hat sie vor zehn Jahren auch noch die Metzgerei und den Schlachtbetrieb übernommen und lebte bis jetzt sehr glücklich.

Erst vor kurzem sind ihre Kinder ausgezogen und sie begann ein neues, aufregendes Liebesleben mit Konrad.

Und nun soll das alles vorbei sein? „Niemals!“ Schießt es ihr durch den Kopf.

Sie kramt das Smartphone aus ihrer Tasche und drückt auf die letzte Nachricht, die sie gelesen hat.

„Der Absender der wollte, dass ich die Galerie anschaue ist niemand anderes als sie. Wenn ich das klären will, dann muss ich ihr schreiben und ein Treffen vereinbaren.“ Murmelt sie überzeugend vor sich hin.

So tippt Ilse die Nachricht: „Wir müssen reden, ich kann dir das alles erklären. Heute um 18 Uhr in der Metzgerei.“

Sie weiß, was sie zu tun hat. Auch wenn ihr das nicht gefällt. Jetzt zahlt es sich doppelt aus, dass sie neben der Metzgerei, einen eigenen Schlachtbetrieb haben.

Sie kann das Leben das sie seit 34 Jahren führt nicht verlieren. Niemals!

 

 

 

Der Tag des Treffens, 18 Uhr.

Ilse läuft auf und ab, sie schaut alle paar Sekunden auf die Uhr und dann zur Tür. Wo bleibt sie? Warum kommt sie nicht? Was will sie denn? Viele Gedanken kreisen in Ilses Kopf herum. Sie wird langsam nervös.

Nach 30 Minuten des Wartens beschließt Ilse die Nummer anzurufen, auf die sie die Nachricht gesendet hat.

Der gewünschte Gesprächspartner ist momentan nicht erreichbar. Versuchen sie es später noch einmal. Ertönt es aus dem Handy. „Mist! Kein Anrufbeantworter.“ Beklagt sie sich genervt.

Sie wartet noch eine weitere Stunde, aber sie taucht nicht auf. Sie kann nicht noch länger warten, sonst wird sich Konrad wundern wo sie bleibt. Deshalb verlässt sie die Metzgerei und läuft zu ihrem Auto. Sie steigt ein und will gerade los fahren, als sie einen Brief auf der Windschutzscheibe bemerkt. Sie nimmt den Brief auf dem in Großbuchstaben „KATJA“ steht. Ein wenig erschrocken und ängstlich schaut sie sich um und entscheidet den Brief in der Metzgerei zu lesen. Falls sie doch noch kommt, will sie lieber in der Metzgerei sein um ihren Plan umsetzen. Dabei dürfen sie nicht zusammen gesehen werden.

Ilse holt aus dem Büro einen Stuhl und stellt diesen hinter die Theke. Sie setzt sich hin und öffnet den Brief.

Ihre Finger zittern leicht, sie ist doch aufgeregter, als sie dachte. Was mag in dem Brief wohl stehen?

Sie hält kurz inne und beschließt innerlich. Egal was darin steht, sie lässt sich nicht von ihrem Plan abringen. Sie kann das Leben das sie seit so vielen Jahren lebt nicht aufs Spiel setzen. Ihr Mann und die Kinder dürfen es niemals erfahren.

Sie atmet tief ein und aus, dann öffnet sie den Brief und fängt an zu lesen.

 

 

 

Der Brief.

Hallo, Katja!

Na, der Name ist sicherlich ganz ungewohnt für dich. Du nennst dich ja selber seit 34 Jahren Ilse.

Sicherlich hättest du nie damit gerechnet, dass ich mich je wieder erinnern kann.

Und so war es auch fast. Ich bin mit dem Glauben nach Hause zu meinen Eltern gekommen, dass ich mit meiner Freundin Ilse und ihren Eltern bei einem Autounfall schwer verunglückt bin. Dabei sind die Eltern von Ilse gestorben und wir wurden schwer verwundet. Während man dich rechtzeitig aus dem Auto befreien konnte, das zu brennen begonnen hatte, konnte man mich erst später befreien und da war es schon geschehen. Ich habe mir Verbrennungen 2. und 3. Grades und eine Rauchvergiftung zu gezogen. Außerdem hatte ich ein schweres Schädelhirntrauma, gebrochene Beine und Rippen und eine Platzwunde am Kopf. Durch die starke Erschütterung an meinem Kopf habe ich mein Gedächtnis verloren.

Ich wusste einfach nicht mehr wer ich bin und schon gar nicht was passiert ist. Ich hatte so große Angst, weil lauter Menschen um mich herum waren, die so viel von mir wissen wollten. Aber ich hatte keine Antworten.

Und eines Tages sagte man mir dann ich wäre Katja. Ich hätte Mutter und Vater, sowie fünf kleine Geschwister und wäre 12 Jahre alt.

Ich wusste gar nicht was ich glauben soll und habe nur noch geweint. Und als ich dich dann zum ersten Mal gesehen habe, war ich irgendwie froh, auch wenn ich nicht wusste wer du warst.

Meine Mutter hat so viel geweint und mein Vater hat nur geflucht. Er wollte Verantwortliche und Geld. Er sagte immer wieder, dass sie sein kleines Mädchen entstellt hätten.

Ich wusste erst nicht was er damit meint.

Erst kurz bevor ich entlassen wurde, war es mir klar.

Ich sah mich, einen Teil meines Gesichtes.

Es war so schrecklich. Ich habe fürchterlich geweint.

Alle haben sich vor mir geekelt. Meine kleinen Geschwister hatten sogar Angst vor mir und niemand wollte mit mir spielen.

Ich war so allein. Man hat mich ausgelacht und mich geärgert. Ich wollte nicht mehr in die Schule gehen.

Ich wollte einfach niemanden mehr sehen.

Ich wollte sterben!

Wegen alldem war ich oft krank. Ich blieb oft zu Hause.

Ich musste meiner Mutter viel helfen. Umso älter ich wurde umso mehr Aufgaben hatte ich.

So kam es das ich kaum noch Zeit für Hausaufgaben hatte. Meine Noten wurden immer schlechter und ich hatte so viele Fehltage, dass ich das Klassenziel nicht erreicht habe.

Die Klasse wiederholen wollte ich nicht. Zum Glück hatte ich meine 9 Jahre Schule bereits zusammen und konnte von der Schule abgehen.

Durch verschiedene Maßnahmen vom Arbeitsamt bin ich zu einer Ausbildung zur Köchin gekommen. Auch da war es nicht unbedingt leicht, aber ich habe sie abgeschlossen und konnte eine Anstellung bekommen. So bin ich dann mit 20 Jahren von zu Hause ausgezogen und habe mein eigenes Leben gelebt.

Es war sehr einsam. Die Leute konnten es nicht ertragen mich zu lange anzuschauen. Aber die Narben haben sich mit der Zeit verändert und durch das Geld das ich von euch bekommen habe, konnte ich mehrere Operationen durchführen. Das Ergebnis ist, dass ich mich etwas wohler fühle. Aber die Narben werden nie ganz weg gehen und es wird mein Gesicht auf eine andere Art und Weise immer noch entstellen.

Und dann kam es auf einmal. Es war im Mai 2016.

Ich war im Supermarkt und hörte hinter mir eine Frau die mehrmals den Namen: Ilse rief. Ich drehte mich um fragte was denn sei. Sie meinte sie ruft nur nach ihrem Kind, dass Ilse heißt. Wir lächelten uns an und ich sagte zu ihr, dass mein Name auch Ilse ist.

Als ich weiter einkaufen wollte, lief es mir eiskalt über den Rücken. Mir wurde ganz schwindelig. Ich fiel zu Boden. Und als ich aufwachte lag ich im Krankenhaus. Und dann waren sie alle wieder da. All diese Erinnerung, von damals. Ich wurde panisch und schrie: ich bin Ilse, ich bin Ilse. Es traf mich wie einen Schlag. Ich habe meine Eltern verloren. Meine Eltern waren Tod.

Die Schwestern mussten mich beruhigen. Es ging so weit das ich in einer psychiatrischen Abteilung landete. Von da an machte ich eine Therapie.

Manchmal ist es medizinisch nicht erklärbar, warum sollte jemand der sein Gedächtnis verloren hat, es zufällig wegen einer Situation nach 20 Jahren ohne jegliche Anzeichen wieder erlangen. Aber das spielte für mich keine Rolle. Ich wusste es:

Du hast meine Identität und mein Leben gestohlen!

Mir war klar egal wie, ich muss dich finden.

Und Gott sei Dank haben sich die Zeiten geändert und es gibt so etwas Schönes wie das Internet. Ich musste nur meinen Namen eingeben und etwas recherchieren. So kam ich auf ein Archiv mit alten Zeitungsberichten: Unternehmer Ehepaar 1986 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen – nur Tochter und Freundin überleben schwer verletzt.

Metzgereieröffnung Qubig mit eigenem Schlachtbetrieb in Nürnberg.

Und dann noch ein Bild auf dem eine blonde, junge Frau mit lockigem Haar zu sehen war.Ich habe alles mit meinem Fotoapparat abfotografiert und bin mehrere Male von München nach Nürnberg gefahren und habe dich beobachtet und fotografiert. Dich und dein Leben. Oder soll ich sagen, mein Leben.

Ja für den Unfall kannst du nichts und auch nicht für meine Narben im Gesicht, aber für meine Narben auf meiner Seele.

Dafür das ich von meinen oder soll ich eher sagen, deinen Eltern nie geliebt wurde. Das meine Geschwister Angst vor mir hatten und mich alle ausgegrenzt haben. Mit diesem Leben hatte ich nie eine Perspektive.

Liebe, Akzeptanz, Unterstützung, Wertschätzung, Hilfe und und und. All das gab es für mich nicht.

Während du alles bekommen hast was du wolltest. Und als ich eines Winters in die Metzgerei bin, verdeckt mit einem Schal und einer Mütze, da standest du mir freudestrahlend entgegen und hast mich angelächelt!

Ab da wusste ich, dass Lachen wird dir noch vergehen! 

Und deshalb habe ich das Handy in der Metzgerei platziert. Ich habe dir mit allen Fotos die ich in den letzten vier Jahren aufgenommen habe, eine schöne Galerie erstellt. Damit du weißt das ich immer bei dir war!

Lange wusste ich nicht was ich tun soll. Dein Leben vier Jahre zu beobachten wie du immer glücklicher wurdest, während ich immer verbitterter wurde.

Wir waren Freunde! Du hast nie versucht mich wieder zu finden, auch nicht als wir Volljährig waren. Du wusstest, dass ich irgendwann ausziehen werde und nicht mehr unter dem Einfluss DEINER Eltern stehen werde, aber du hast mich trotzdem nicht gesucht. Und deshalb habe ich dich gesucht und gefunden.

Was bringt es all das nach so vielen Jahren aufzuklären?! Nichts. Also war mir klar, ich muss es dir heimzahlen.

Und jetzt weiß ich auch wie! Nun bekommst du was du verdienst!

 

Ilse hebt den Kopf, sie ist bedrückt über das was sie gerade gelesen hat. Sie hatte Recht! Nie hat sie versucht wieder Kontakt aufzunehmen. Zu sehr hatte sie ihr Leben gelebt. Sie wusste wie ihre Eltern waren. Allerdings hatte sie die Hoffnung das sie was aus ihrem Leben machen kann. Immerhin war sie damals sehr gut in der Schule.

Vielleicht kann es Ilse nach all den Jahren doch wieder gut machen. Ihr vielleicht doch noch ein schönes Leben bereiten. Immerhin hat sie viel Geld in den letzten Jahren verdient und gespart. Aber was, wenn es ihre Familie dann erfährt. Sie kann nicht alles aufgeben. Die Gedanken quälen sich durch ihr Gehirn. Freunde gehen, Familie bleibt!

Die Erkenntnis ist bitter, aber wahr. Schließt sie die Gedanken ab.

Ilse schaut nach draußen, noch immer ist niemand in Sicht. Also beschließt Ilse nach Hause zu fahren. Der letzte Gedanke: “Ich muss mir etwas überlegen wie ich sie in die Metzgerei und somit in den Schlachtbetrieb locken kann.”

Sie greift sich den Autoschlüssel geht nach draußen, schließt den Laden ab und steigt ins Auto ein. Sie schaltet in den Rückwärtsgang, um aus der Parklücke raus fahren zu können und übersieht eine scheinbar ältere Dame mit Gehstock. Zu spät. Da ist es schon passiert, rums. Der Motor würgt ab, hastig zieht Ilse die Handbremse an und steigt aus dem Auto.

Sie schlägt die Hände über den Kopf zusammen. Hinter dem Auto auf dem Boden liegt eine Frau, die ein blaues Tuch über dem Kopf trägt und in einer Hand einen Gehstock hält. „Auch das noch.“ Denkt sie sich. Ilse erkundigt sich nach ihrem Befinden und entschuldigt sich.

Die ältere Dame ist ganz ruhig, aber klagt über Schmerzen im Fuß. Bevor wir jetzt ewig auf einen Krankwagen warten und zuletzt noch die Polizei kommt, beschließt Ilse die Frau ins Krankenhaus zu fahren. Am besten fährt sie über die Autobahn. Das geht am schnellsten. Sie hilft der Dame ins Auto und fährt los. Ilse versucht durch ein Gespräch die Dame zu besänftigen und sichert ihr zu für die Behandlungskosten und ihr Wohlbefinden selbstverständlich aufzukommen. So braucht man die Polizei nicht einzuschalten und kann alles untereinander klären.

Die ältere Dame ist einverstanden. Ilse versucht ein Gespräch aufzubauen, aber die Dame ist sehr wortkarg. Deshalb lässt sie es und schaltete das Radio an, damit es nicht zu still ist.

Die Autobahnauffahrt befindet sich nur wenige hundert Meter von der Metzgerei entfernt. Sie müssen nur geradeaus fahren und dann rechts auf die Autobahn auffahren. Kontinuierlich fährt Ilse 50 km/h ehe sie nach oben beschleunigt.

Auf der Autobahn gibt es keine Geschwindigkeitsbeschränkung und mit dem BMW merkt man die 160 km/h gar nicht.

Da kommt schon die Ausfahrt. „Gleich sind wir da.“ Murmelt sie vor sich hin. „Oh ja.“ Ertönt es von der Seite. Ilse dreht den Kopf zu der Dame und will sie anlächeln. Die ältere Dame zieht in diesem Moment ihr Tuch aus und dann sieht Ilse es. Das halbe Gesicht überdeckt mit Narben. Sie ist geschockt, schaut nach vorne und will bremsen. Immerhin müssen sie jetzt von der Autobahn abfahren. Sie drückt auf die Bremse, doch diese lässt sich bis zum Boden durch drücken. „Es endet wie es begonnen hat.“ Ertönt es triumphierend von der Beifahrerseite.

 

 

 

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