Jana Mohrhagen und Janine BrandtDer Augenblick

1.

Tagebucheintrag

Mein Mann wollte seine Arbeit nie mit nach Hause bringen, um mich zu schützen. Was er bis heute nicht weiß, vor genau einem Jahr, kam ein Teil seiner Arbeit zu uns und hat uns alles genommen.

Als Therapeut hat er mit jeder Art von Mensch zu tun und in jedem Menschen steckt ein Monster. Manche wissen es nicht einmal. Doch ich werde es ihm zeigen, ich werde diesem Elektriker zeigen, wozu sein inneres Monster fähig ist.

Immer wenn ich versuche zu schlafen und meine Augen schließe, sehe ich es wieder genau. Jede Nacht sehe ich, wie ich die Tür öffne, er mich anschaut und seine Augen sich verdrehen. Kurz und kaum merkbar, doch ich krige immer noch Gänsehaut davon. Ich sehe wie er mich anschaut mit diesem Blick. Voller Hass. Innerlich wusste ich, dass etwas nicht stimmte, doch ich war wie erstarrt, konnte nichts tun. Zu groß war meine Angst.

So sehr ich auch versuche es zu verdrängen, die Bilder laufen weiter vor meinen Augen. Jeden Schlag von ihm, spüre ich noch heute. Als ob wir wieder in meiner Küche ständen, er mir wieder und wieder in den Bauch tritt, als ob er mich schon sein ganzes Leben lang hassen würde. Als ob ich für all das Leid in seinem Leben verantwortlich wäre. Dann gingen endlich meine Lichter aus.

Als ich wieder zu mir kam war alles voller Blut. Mein Unterleib lag in einer Blutlache. Ich spürte meinen ganzen Körper. Es fühlte sich an, als ob dieses Monster in mir wäre und mich nun auch von Innen heraus zerstören will. Warum? Warum bin ich allein, warum hat es niemand gehört und nach mir gesehen, warum musste mein Mann genau jetzt auf Geschäftsreise sein, WARUM ICH!?

Ab diesem Tag wusste ich, wie der Teufel aussieht. Doch er wusste nicht, dass er sich die falsche Frau ausgesucht hatte!

2.

Er kann sein Glück immer noch kaum fassen. So schön steht sie da, seine Lisa. Sogar beim Zwiebeln schneiden sieht so toll aus. Sie ist nun in der 15. Schwangerschaftswoche und langsam aber sicher, kann man einen kleinen Bauch erkennen. Unendlich freut er sich darauf, sein Baby im Arm zu halten.

Seit sie in Heide ihr eigenes Haus gebaut haben, versuchen sie ein Baby zu bekommen. Auch wenn es lange gedauert hat, nun ist es endlich soweit. Doch so groß seine Freude auch ist, so groß ist auch die Angst.

Seit seiner Kindheit hat er immer wieder Blackouts.

Oft konnte er sich nicht mehr an die vergangenen Minuten erinnern. Was auch gar nicht so schlimm war,

denn es ist ja nie etwas passiert. Nur dieses eine Erlebnis wird er nie vergessen. Es wird ihn immer verfolgen.

Er hat zwar vor einiger Zeit eine Therapie begonnen,

doch so wirklich helfen tut es ihm nicht. Er muss wohl oder übel damit leben. Wenn da nicht die Angst um sein ungeborenes Baby wäre. Er wünscht sich doch ein unbeschwertes Leben für sein Kind. Was wäre, wenn es genau das selbe durchmachen müsste wie er? Seiner Lisa hat er nie etwas davon erzählt. Sie soll sich keine Sorgen machen.

Hey Tom, warum guckst du denn schon wieder so besorgt?“, reißt sie ihn aus seinen Gedanken.

Alles gut mein Schatz, ich bin nicht besorgt. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schön du aussiehst.“

Lisa lächelt. Nicht nur, weil sie gerade ein Kompliment bekommen hat. Sondern auch, weil sie so glücklich ist, einen Mann an ihrer Seite zu haben, der sie sogar schön findet, wenn ihr Gesicht vom Zwiebeln schneiden nass und geschwollen ist. Sein Handy klingelt es ist mal wieder die Arbeit. Er geht ran.

Schatz, ich muss nochmal los. Ich habe einen Auftrag bekommen und soll nach St. Peter-Ording. Ich verspreche dir, ich beeile mich, damit wir nachher schön zusammen essen können.“ Er wusste, sie wird nicht begeistert sein. Er war soviel Arbeiten in letzter Zeit. Aber schließlich muss er Geld verdienen, sie brauchen so viele Sachen für das Baby.

Das ist nicht dein Ernst? Du hast mir versprochen, dass du heute Frei hast und zuhause bleibst. Du bist ständig weg, ich habe das Gefühl, ich bin nur noch alleine!“

Ich weiß mein Schatz, es tut mir Leid.

Aber wir haben Rechnungen zu bezahlen und ein Kind kostet auch eine Menge Geld. Ich muss uns Versorgen und für schlechte Zeiten sparen. Mir fällt es doch auch nicht leicht.

Ich wünsche mir ja auch mehr Zeit mit dir verbringen zu können“, sagt er, in der Hoffnung, auf ihr Verständnis. Doch das bekommt er nicht.

Dann geh“, sagt sie „aber Zeit mit dir ist mir wichtiger als Geld oder Markenkleidung.“

Schlechten Gewissens und mit einem unguten Gefühl verlässt er das Haus.

3.

Auch auf der Autofahrt nach St. Peter-Ording lassen Tom seine Gedanken nicht los. Zum einen, weil er im Streit mit seiner Frau auseinander gegangen war und zum anderen denkt er über seinen Auftrag nach.

St. Peter-Ording ist ja schon eine weite Strecke und das ist sehr ungewöhnlich. Dort gibt es doch schließlich auch Elektriker. Aber sein Chef sagte, die Kundin wollte unbedingt ihn. Sie habe nur gutes über ihn gehört und würde zur Not auch mehr bezahlen.

Er findet das sehr seltsam und zugleich ist er über seinen anscheinend guten Ruf geschmeichelt.

In St. Peter-Ording führt Tom’s Navi ihn zu einem Haus am Strand. Ziemlich einsam steht es da und in einem guten Zustand ist es auch nicht. „Nun“, denkt er sich,

das hier etwas an der Elektrik gemacht werden muss, ist kein Wunder.“

Der Termin wurde für 15 Uhr vereinbart. Als er vor der Tür steht guckt er auf seine Uhr.

Es ist 14:59. Er ist gerne pünktlich. Trotz klingeln und klopfen öffnet niemand die Tür. Das Haus sieht auch eher verlassen,

als bewohnt aus.

Plötzlich hört er ein Handy klingeln. Seins ist es nicht und weit und breit ist weder ein Mensch, noch ein Haus. Aber das klingeln ist ganz in seiner Nähe.

Ihn überkommt ein ungutes Gefühl und er denkt

Was ist wenn in dem Haus jemand verletzt ist und Hilfe braucht?“ Er beschließt also, die Tür zu öffnen.

Im Haus bemerkt er, dass das klingelnde Handy auf dem Boden liegt. Er hebt es hoch und bekommt so einen Schock, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hören kann.

Das Kontaktbild zeigt ihn, wie er in einer Küche steht. Es zeigt, wie er scheinbar auf eine mit Blut verschmierte Frau einschlägt.

Ihm schießen die Bilder blitzartig durch seinen Kopf. Sie drängen sich so schnell in sein Bewusstsein, dass ihm schlecht und schwindelig wird.

Wie ferngesteuert hebt er ab. Am anderen Ende hört er eine Frauenstimme die sagt,

Na erinnerst du dich an mich? Heute ist dein Zahltag“.

Dann legt sie auf. Er ist wie erstarrt. Angst und Panik lähmen ihn.

Er fängt an zu realisieren. Er war es doch, er war es, der dieser Frau so zugesetzt hatte. Er erinnert sich an nichts genaues, außer daran, dass er plötzlich vor einer bewusstlosen Frau stand, die Blutverschmiert war und er einfach nicht wahrhaben wollte, dass er es gewesen sein musste. Schließlich wusste er nichts mehr.

Langsam beruhigt er sich und entsperrt nochmal das Handy. Irgendwas muss darauf ja zu finden sein, zum Beispiel wem es gehört. Doch da ist nichts, außer Bilder in der Galerie. Bilder von einer Überwachungskamera,

die ihn bei dieser schrecklichen Tat zeigen.

Die zeigen, wie er die Frau bewusstlos liegen ließ, sich die Hände wusch und ging.

Das kann nicht sein“, sagt er sich immer wieder.

Ich bin nicht so ein Mensch. Das kann ich nicht getan haben! Warum kann ich mich nicht daran erinnern?“

Doch die Bilder sind eindeutig.

Als er sich langsam wieder fängt, beschließt er nach hause zu fahren, um nach seiner Frau zu sehen.

Bitte bitte, halte meine Frau daraus“, denkt er immer wieder. „Mach mit mir was du willst, aber tu ihr nichts“. Und so setzt er sich ins Auto und fährt los.

4.

Noch nie kam Tom eine Autofahrt so lang vor wie diese.

Er scheint sich nicht nur ein Zeitlupe vorwärts zu bewegen, sondern seine Hände schwitzen auch noch so sehr,

dass er Mühe hat, das Lenkrad fest zu halten.

In seinem Kopf spielen sich alle möglichen Horrorszenarien ab. Eine schlimmer als die andere und keine einzige mit glücklichem Ende. Plötzlich hört er das Handy wieder klingeln.

Sein Puls schießt in die Höhe und die Straße scheint zu verschwimmen.

Ich muss irgendwo anhalten“, denkt er.

Wenn ich jetzt einen Unfall baue, sehe ich meine Frau vielleicht nie wieder.“

Er nutzt also die nächste Möglichkeit um anzuhalten, wischt sich seine nassen Hände an seinem Shirt ab und schaut auf das fremde Handy.

Es kam eine MMS an. Als er das Bild öffnet, stockt ihm der Atmen. Darauf zu sehen ist sein Wohnzimmertisch.

Es stehen zwei Tassen Tee darauf und im Hintergrund kann er eindeutig seine Frau sitzen sehen. Das ist genau die Hose, die sie heute morgen anhatte. Eine graue Jeans, mit Lederstreifen an der Außenseite.

Dem Bild wurde auch ein Text hinzugefügt:

Schwangere Frauen brauchen viel Ruhe, ich habe Lisa soeben schlafen gelegt.“

Verdammt“, schießen ihm die Gedanken durch den Kopf. „Sie ist in meinem Haus. Bei meiner Frau!

Hätte ich doch nur diesen Auftrag nicht angenommen,

ich muss sie doch beschützen, ich bin ihr Mann!“

Wütend schlägt er auf das Lenkrad. Die Luft wird ihm knapp und er muss kurz aussteigen und durchatmen,

denn er hat das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Verzweifelt lehnt er sich gegen sein Auto und atmet tief ein und wieder aus.

Ich muss ruhig bleiben“, beginnt er mit sich selbst zu reden. „Ich steige jetzt ganz ruhig in das Auto und mache die Fenster weit auf um einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie wird Lisa schon nichts getan haben. So verrückt kann niemand sein. Sie will mich nur wahnsinnig machen, mehr nicht. Es ist alles gut Tom. Fahr einfach nach hause.“ Nachdem Toms Versuch sich selbst zu beruhigen einigermaßen funktioniert hat, steigt er in sein Auto und fährt los. Schnell zu seiner Frau.

5.

Zuhause angekommen ist seine Nervosität kaum noch in Grenzen zu halten. Er schließt nicht einmal das Auto ab und läuft so schnell Richtung Eingangstür, dass er mehrmals stolpert und kaum das Gleichgewicht halten kann. Er reißt die Haustür auf und stürmt ins Wohnzimmer. Lisa liegt auf der Couch.

Lisa!“, ruft er und versucht sie aufzuwecken.

Bitte Lisa, wach auf, bitte!“, doch sie reagiert nicht. Um zu schauen ob sie noch lebt, misst er ihren Puls am Handgelenk. Gott sei Dank, ihr Puls schlägt völlig normal. Für einen kurzen Moment spürt er so etwas wie Erleichterung, die jedoch sofort wieder von seinen Gedanken unterbrochen wird.

Die Irre könnte noch im Haus sein und sich verstecken!“ Er springt auf und kontrolliert panisch jeden Raum, schließt alle Fenster und Türen nach außen.

In seiner Panik bildet er sich ein, überall Schatten zu sehen und Schritte zu hören. Doch wahrscheinlich ist das was er zu hören glaubt, nur das polternde Herz in seiner Brust.

Als er alles Kontrolliert hat, kommt das Gefühl der Erleichterung wieder. Es ist niemand im Haus.

Gott sei dank“, denkt er. „Es ist niemand mehr hier,

der uns was antun kann. Lisa ist einfach eingeschlafen, die Schwangerschaft ist schließlich sehr anstrengend für sie. Solange sie schläft, muss ich herausfinden, wer diese Frau ist und wie ich sie stoppen kann.

Vielleicht sollte ich alles der Polizei melden, aber wenn sie herausfinden, was ich getan habe, komme ich ins Gefängnis. Das kann ich nicht zulassen.

Ich muss das selbst regeln.“

Voller Tatendrang geht er zurück ins Wohnzimmer um nochmal nach seiner Frau zu sehen.

6.

Im Wohnzimmer angekommen sieht er, dass Lisa sich langsam aufrappelt. Sie sitzt auf der Couch, mit dem Rücken zu ihm gerichtet und streckt sich. Dann muss die Jagd nach der Irren kurz warten. Jetzt muss er sich erst mal um seine Frau und ihr ungeborenes Baby kümmern.

Geht es dir gut mein Schatz?“, ruft Tom ihr vorsichtig auf halbem Wege entgegen.

Ja, alles gut mein Schatz. Eine alte Klassenkameradin von dir war hier und wollte eigentlich auf dich warten. Sie war so nett. Wie unangenehm, dass ich anscheinend einfach eingeschlafen bin, aber ich war so müde, dass ich die Augen einfach nicht aufhalten konnte. Bringst du mir bitte ein Glas Wasser mit?“

Tom ist froh, dass es ihr anscheinend gut ging.

Er denkt trotzdem darüber nach mit ihr zum Arzt zu fahren. Nur um sicher zu gehen, dass auch wirklich alles in Ordnung ist.

Nach einem kurzen Abstecher in die Küche, um Lisa ein Glas Wasser zu holen, kehrt er ins Wohnzimmer zurück.

Es tut mir so leid, dass ich diesen Auftrag angenommen habe. Ich werde ab jetzt weniger arbeiten und mehr für dich da sein, das verspreche ich dir und uns!“, sind seine letzten Worte zu ihr, bevor sie aufsteht und sich zu ihm umdreht.

Sie lächelt und sieht ihm direkt in die Augen, doch etwas stimmt nicht. Es ist Lisa, die da steht, doch es sind nicht ihre Augen, die ihn anschauen. Ein braunes und ein blaues, es sind die Augen seiner Mutter! Es sind die Augen, die ihn quälten, als er noch klein und hilflos war. Tom weiß nicht wie ihm geschieht, ihm wird heiß und schwindelig. Sein Kopf fängt an zu schmerzen und es wird schwarz vor seinen Augen.

7.

Er schwitzt und sein Blick ist starr und schockiert.

Lisa bekommt Angst, so hat sie Tom noch nie erlebt.

Schatz was hast du denn?“, fragt sie ihn vorsichtig. „Geht es dir nicht gut?“

Plötzlich verdreht er die Augen. Kurz und kaum merkbar und doch so klar, dass es Lisa kalt den Rücken herunterläuft.

Was passiert hier? Ich schlafe bestimmt noch,

ich muss einfach nur aufwachen“, versucht sie sich einzureden, als sie sieht, dass Tom sich zu verändern scheint. Er sieht größer aus, stärker, muskulöser und böse. All seine lieben, weichen Gesichtszüge werden markant und hart. Sogar seine Stimmte ist tiefer und schärfer geworden.

Nie wieder wirst du dich an mir vergehen“, drohte er Lisa. „Ich bin nicht mehr dein kleiner Junge auf den du einprügelst, an dem du deinen Frust auslässt, wenn kein Alkohol mehr da ist! Ich werde dir zeigen, wie es sich anfühlt, sich nicht wehren zu können!“

In seinen Augen spiegelt sich purer Hass.

Lisa versucht zu fliehen, doch er ist zu schnell.

Sie kann nicht begreifen, was hier passiert.

Tom, ich bin es!“, versucht sie ihn verzweifelt zu beruhigen. „Ich bin es, Lisa, deine Frau! Was ist denn los mit dir, bitte tu mir nichts!“. Verängstigt bricht sie in Tränen aus.

Sieh an“, sagte Tom. „Jahrelang habe ich dich angefleht aufzuhören, Mutter und jetzt bist du diejenige,

die mich anbettelt dir nichts zu tun!“

Mutter? Tom hatte nie viel über seine Kindheit erzählt, außer dass sein Vater tot ist und seine Mutter ihn schlecht behandelt hatte.

Ich bin deine Frau und nicht deine Mutter! Bitte, was auch immer grade mit dir passiert, komm zu dir! Ich habe dir nie weh getan!“

Doch was sie sagt, erreicht Tom nicht. Statt Tom war da irgendein Monster. Dieses Monster sieht nicht aus wie Tom, es redet nicht wie er und niemals würde Tom jemandem weh tun.

Lisa zittert am ganzen Körper und so kommt es, dass sie stolpert und hinfällt. Tom packt sie am Bein und zieht sie zu sich heran. Er sieht ihr tief in die Augen und sagt zu ihr, mit einer fast schon ruhigen Stimmte

Womit fang ich an?“ Daraufhin stößt er ihren Kopf gegen die Tischplatte, so stark, dass Blut aus Lisas Stirn austritt. Sie fleht und bettelt, doch von da an schien er in einen Rausch zu verfallen. Immer wieder schlägt er sie. Er packt ihre Haare, zieht sie durchs Wohnzimmer und stößt sie in die Vitrine. Mit letzter Kraft versucht Lisa zu ihm durchzudringen.

Bitte denk doch an unser Baby“, sagt sie mit zitternder, kaum noch hörbarer Stimmte.

Oh Mutter,“ antwortet er. „Du bist schwanger? Reicht es dir nicht, was du mir angetan hast? Du willst noch einem kleinen und unschuldigen Kind das Leben zur Hölle machen? Das lasse ich nicht zu!“

Er schlägt ihr in den Bauch, immer und immer wieder.

Lisa hält den Schmerz nicht mehr aus. Den körperlichen, wie auch den inneren Schmerz. Sie betet zu Gott, das er ein Ende setzen soll. Und endlich, nach viel zu langer Zeit, gehen endlich ihre Lichter aus.

8.

Tom ist immer noch schwindelig und in seinem Kopf pocht es wie verrückt. Langsam wird das Bild vor seinen Augen klarer und er sieht Lisa vor sich auf dem Boden liegen. Sie blutet überall, doch das meiste Blut kommt aus ihrem Unterleib.

Lisa!“, brüllt er sie an, während er an ihrem scheinbar leblosen Körper rüttelt.

Lisa, bitte wach auf. Was ist passiert mein Schatz, bitte wach auf Lisa, bitte!“

Wieder überprüft er am Handgelenk ihren Puls.

Zweimal an einem Tag muss er nachschauen, ob sie noch lebt, aber er kann ihren Puls spüren. Doch, das heißt nicht, dass alles gut ist.

Tom kann sich an an nichts erinnern, wie so oft.

Doch in der Regel hatte er nach seinen Blackouts nicht seine blutverschmierte, bewusstlose Frau vor sich liegen.

Das letzte, was er noch wusste, war, wie Lisa vor ihm stand und ihn anschaute. Er erinnert sich an die Augen, welche nicht ihre waren, sondern die seiner Mutter.

Vor Schreck springt er hoch.

Nein, das ist unmöglich.“, flüstert er, während er versucht Halt zu finden.

Das kann nicht sein, deine Augen sind blau. Nein, das waren nicht deine Augen, das ist unmöglich!“

Seine Beine lassen nach, in seinem Körper ist einfach keine Kraft mehr. Zitternd kniet er vor Lisa und streichelt ihr durch das rot verklebte Haar.

Als er ihr über die Wange streicht, sieht er neben ihrem Kopf etwas liegen, was er nicht zuordnen kann. Er nimmt es in die Hand und sieht es sich genau an.

Ihm stockt der Atem. Es ist eine braune Kontaktlinse. Wie kann das sein, Lisa hat blaue Augen und Kontaktlinsen braucht sie doch auch nicht!

Da sind sie wieder, die Bilder der Erinnerung, die ihm wie ein Film vor den Augen spielt.

Lisas Augen vor seinem Blackout sahen nicht nur so aus, wie die seiner Mutter, sondern auch wie die der Frau seines Therapeuten. Die ebenso plötzlich misshandelt vor ihm lag wie Lisa. Tom beginnt zu verstehen. Einfach alles ergibt plötzlich einen Sinn, jedes Puzzlestück passt nun zusammen. In ihm scheint noch jemand anderes zu stecken. Ein Monster, das seine Mutter erschaffen hatte.

Und das alles hier, der Auftrag, die Kontaktlinsen,

das war alles von langer Hand geplant!

Ein perfekter Racheplan. Schon eine ganze Zeit muss diese Frau ihm gefolgt sein und beobachtet haben.

Es ist alles zu viel, Tom hält es nicht mehr aus.

Diese Schuldgefühle, dieser Schmerz, diese Hilflosigkeit übermannen ihn. In seinem Kopf beginnt alles sich zu drehen, sein Herz schlägt so schnell, dass es ihm aus der Brust zu fallen scheint.

Selbst wenn Lisa überlebt, wird sie ihn nie wieder lieben können. Wenn das Kind überlebt, wird er es niemals sehen dürfen. Doch dem Blut nach zufolge, welches aus Lisas Unterleib strömt, ist es vermutlich tot.

Und die Polizei wird ihm niemals glauben, dass er das nie wollte. Das er reingelegt wurde von dieser Irren,

dass ein Monster in ihm ist, welches er nicht kontrollieren kann. In die Psychiatrie werden sie ihn stecken, für immer, abgestempelt als komplett durchgeknallt und eine Gefahr für die Allgemeinheit. Nein, das will er nicht, so soll es nicht Enden.

So soll Lisa ihn nicht in Erinnerung behalten.

Er will nicht ohne sie leben. Niemals soll sie ihn verlassen, sondern für immer an seiner Seite sein.

Tom sieht nur einen Ausweg. Der einzige, der Sinn zu machen scheint und von dem er so sehr Überzeugt ist,

wie er noch nie zuvor von etwas überzeugt war. Im Himmel werden sie für immer zusammen sein, dort wird ihnen nie wieder etwas passieren. Er holt seine 9mm aus seinem Waffenschrank und gibt seiner Lisa noch einen Kuss.

Wir sehen uns gleich wieder, mein Schatz“, flüstert er ihr ins Ohr.

Mach dir keine Sorgen, uns wird es gut gehen.

Dir wird nie wieder etwas passieren.“ Endlich fallen alle Ängste von ihm ab. Zuerst schießt er Lisa in den Kopf und dann sich selbst. Endlich ist er frei.

Tagebucheintrag

Mein Mann, der liebevollste Mensch den ich kenne, vertraut mir wohl etwas zu sehr.

Es war überhaupt kein Problem für mich, in seinen Patientenakten alles über Tom zu erfahren.

Den liebevollen und treuen Ehemann und werdenden Papa, der in seiner Kindheit von seiner Mutter misshandelt wurde und Blackouts hat. Diese Infos hatten mir nicht gereicht, ich musste weiter und tiefer graben.

Ich musste alles über seine Mutter erfahren, sie muss seine Schwachstelle sein. Und die vielen Recherchen haben sich gelohnt. Beim Bild seiner Mutter wurde mir alles klar. Ein blaues und ein braunes Auge.

Sie hat das Odd-Eyes Syndrom, mit den gleichen Augenfarben wie ich. Die restlichen Schlüsse zu ziehen war so einfach. Mein Mann ist Therapeut und ist da nicht drauf gekommen? Eine dissoziative Persönlichkeitsstörung! Das lag doch auf der Hand! Ich wusste genau was ich tun musste, als ob mir mein Weg einfach geleitet wurde.

An braune Kontaktlinsen kommt man leicht ran.

Nun nur noch Tom aus der Stadt locken, Lisa Schlafmittel verabreichen und ihr die Kontaktlinse einsetzen.

Der Anblick ihrer Augen wird ihn triggern und das Monster in ihm zum Vorschein bringen. Und genau so ist es geschehen. Die Zeitungen sind voll von ihm und seiner toten Frau. Alle berichten über das Monster, dass erst sein ungeborenes Baby, dann seine Frau gequält und getötet hatte und sich schließlich selbst in den Kopf schoss. Endlich sieht die Welt ihn so, wie ich ihn sah. Endlich kann ich wieder die Augen schließen,

ohne Albträume zu bekommen. Jemandem die Tür öffnen,

ohne Angst, dass er dort stehen könnte.

Endlich sind die Dämonen aus meinem Leben verschwunden.

Das einzige, was mir für immer genommen bleibt,

ist die Möglichkeit ein Baby zu bekommen.

Jana Mohrhagen/Janine Brandt Der Augenblick Seite13

Er war so brutal, dass das nie wieder möglich ist. Doch dafür wird er auf ewig in der Hölle schmoren, ein klein wenig Genugtuung für all den Schmerz.

Ich finde meinen Frieden in seinem Tot.

Jana Mohrhagen/Janine Brandt Der Augenblick Seite14

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