Sondryne GeDer bildlose Rahmen

PROLOG

Er konnte sich zunächst kaum sehen. Alle Spiegel des üppig ausgestatteten Badezimmers der modernen Vorstadt-Villa waren noch stark beschlagen vom Dampf der viel zu heißen Dusche, die er sich gerade gegönnt hatte. Er nutzte den hellgrauen Kaschmir-Bademantel seines Vaters, den er sich eben übergezogen hatte, um sich ein Sichtfenster in dem überdimensionierten Spiegel zu schaffen. Seine Eltern waren nicht zuhause. Er öffnete die hochwertige Glasvitrine und das Innenlicht erhellte automatisch das intime Reich seiner Mutter in weißem Licht. All ihre Kosmetik war fein säuberlich sortiert. So wie man es von ihr kannte, sah auch die Bestückung der Vitrine aus wie das ganze Anwesen. Sauber. Aufgeräumt. In offenen Kosmetikorganizern hatte sie alles geordnet und hübsch aufgestellt. Foundations in verschiedenen Nuancen. Diverse Mascaras – einmal, um geschwungene und einmal, um dramatische Wimpern zu schminken. Bronzing Puder und Rouge in allen relevanten Farben, um Wangen und Wangenknochen zu betonen. Und eine Reihe von unterschiedlichsten Lippenstiften. Rosenholz für den Alltag, Pink für die Shoppingtour, Apricot für den Kaffee mit Freundinnen. Und rot. Prägnant, aber nicht aufdringlich. Ein roter Lippenstift, um zu verführen.

Er griff unsicher und doch bestimmt nach genau diesem. Behutsam öffnete er den Deckel und ließ mit einer leichten Drehung die tiefrote Farbe ein kleines Stück aus der Hülse hervortreten. Er starrte auf sein Spiegelbild durch den kleinen klaren Kreis umrandet von verschwommenen Reflexionen des Designerbads. Und er blickte auf den Lippenstift in seiner Hand. Er hatte noch keine Frau auf dieser Welt gesehen, der ein sinnlich-roter Lippenstift nicht gestanden hätte. Und noch bevor er diesen Gedanken fertig gedacht hatte, ertappte er sich dabei, wie seine zittrige Hand vorsichtig den offenen Lippenstift um seine Lippenkonturen führte und schließlich auch den Rest behutsam und sorgfältig ausfüllte. Er ließ sich bei dieser lang ersehnten und doch gefürchteten Prozedur keine Sekunde aus den Augen. Was würde er fühlen, wenn ihm doch nicht gefiel, was er sieht? Was, wenn der Anblick doch nur seinen inneren Schmerz schüren würde?

Er setzte ab. Und der tiefrote Mund, dessen Lippen er vorsichtig aneinander rieb, genau so wie er es bei seiner Mutter immer beobachtet hatte, sprach eine deutliche Sprache. Die Angst war unbegründet. Es gefiel ihm. Es gefiel ihm sehr. So als wäre dieser Mund für einen roten Lippenstift geschaffen. Und vielleicht war es auch einfach so. Vielleicht musste er es genau so tun. Nur eben nicht in diesem Körper. Sein wahres Ich lächelte ihn aus dem Spiegelbild ermutigend an. Es fühlte sich zum ersten Mal einfach nicht falsch an. Leicht euphorisch stellte er den Lippenstift an seinen angestammten Platz zurück und griff fast selbstverständlich zur kleinen schicken Schatulle seiner Mutter.  Sie beherbergte einzelne Schmuckstücke, die sie, soweit er wusste, nie trug, sondern nur aufbewahrte. Kein Wunder. Sein Blick in die Schatzkammer offenbarte ihm teils viel zu große, viel zu üppige oder einfach nur altmodische Klunker. Er zog die Kette mit dem roten Rubinstein heraus, der besonders hervorstach, und begutachtete ihn genauer. Ein perfekter Beweis für seine erste Einschätzung. Extrem teuer, aber zu üppig, um schön zu sein. Zu dick aufgetragen. Und altmodisch. Und trotzdem schien er doch so sehr zu dem roten Lippenstift zu passen, dass er sich das Schmuckstück kurz an den freigelegten Hals legte.

Die Farben harmonierten tatsächlich. Aber stilvoller wurde der Klunker dennoch nicht. In diesem Moment hörte er das Klacken eines Türschlosses, das seine Reise in eine andere, schöne Welt jäh beenden sollte. Der folgende Krach der ins Schloss fallenden Haustüre übertönte das Klirren der Kette, die er fast gleichzeitig erschrocken in das Waschbecken fallen ließ. Die Stimmen seiner Eltern wurden hörbar, aber er nahm sie nur verschwommen wahr. Hastig griff er den Rubin, schmiss ihn in das Kästchen und stellte es zitternd zurück an seinen Platz. Er schlüpfte ungelenk aus dem Bademantel und sprang in seine Shorts, bevor er sich noch schnell im Spiegel kontrollierte. Die Schweißperlen wurden jedoch nicht weniger. Er hatte den Lippenstift fast vergessen, den er sich eben aufgetragen hatte. Tief gebeugt klemmte er sich unter den verchromten Hahn und ließ heißes Wasser über den Mund laufen, während er sich hastig über das Gesicht wischte. Rote Farbe lief über seine Hand in das cremefarbene große Becken und er merkte, dass er sie nicht restlos vom Mund bekommen hatte. Die Stimmen seiner Eltern waren bereits auf wenige Meter nahe gekommen und er war sich nicht sicher, ob er bereits seine Mutter nach ihm rufen hörte, während er sich mit einem Handtuch so heftig das Gesicht rieb, dass es brannte wie Feuer. Aber sein Mund wurde sauber. Und er blickte wieder in sein Spiegelbild, das ihm plötzlich nicht mehr zulächeln wollte.

KAPITEL 1 – HEUTE

IHR PLATZ

Der neue tiefrote Lippenstift stach im metallisch-kühlen Spiegelbild an der Innenwand des Personenfahrstuhls besonders heraus. Die leichten Verzerrungen ihres fast farblosen Ebenbilds konnten jedoch ihre Klasse nicht verbergen. Natürlich passte auch ihre neue Lippenfarbe perfekt zur Classic-Chanel Flap-Bag. Sie strich über das weiche Leder. Sie wusste um das Geheimnis luxuriöser Taschen, denn sie verkörperten das, was eine Frau wie sie ausmachte. Stil. Klasse. Stärke. Ihre Trägerin ist eine emanzipierte Frau. Eine, die weiß, was sie will. Und vor allem eine, die auch weiß, wie sie es bekommt. Männer verloren sich leicht in ihren stets elegant geschmückten Lippen. Man mochte sie lesen, ihnen Geheimnisse entlocken. Aber vor allem begehret man sie.

Ihr Spiegelbild entgegnete ihr mit einem selbstbewusst verspielten Lächeln. „Sind Sie bereit, heute erneut die Welt auf den Kopf zu drehen, Miss Maggie May?“, flüsterte sie sich leise, aber entschlossen zu. Maggie schloss für einen Moment die Augen und nickte kurz. Das war es, was sie wollte – der Welt den Kopf verdrehen. Und genau das tat sie auch gestern Nacht mal wieder mit irgendeinem reichen, alten Schnösel. Vermutlich einer aus der Bankenbranche. So genau fragte sie eigentlich nie nach. Er war nicht besonders attraktiv oder wenigstens tiefsinnig. Aber er begehrte sie. Das war genug. Zwar nur für einen vorgetäuschten Orgasmus, und nicht etwa, um bis zum Frühstück zu bleiben, aber es war genug. Der fremde Mann mit viel Geld aber unglaublich schlechtem Sinn für Interieur, was nicht zuletzt eine übergroße Buddha-Figur mitten im Wohnzimmer bewies, hatte noch tief und zufrieden geschlafen – ohne zu ahnen, dass die Frau, die ihm gestern noch einen versteckten Himmel zeigte, ohne ein Wort verschwinden würde. Ihn still und heimlich zurücklassen würde. Und alles, was bleiben sollte, war sein leeres Portemonnaie. Und er würde ihr nicht einmal böse sein können, so geblendet war er von der unbekannten Frau. Maggie warf einen letzten Blick in ihr Ebenbild und verließ direkt mit dem piependen Signal, das die Ankunft im Erdgeschoss mitteilte und die sich automatisch öffnenden Türen begleitete, den Fahrstuhl. Mit schnellen, aber nicht minder eleganten Schritten auf ihren spitzen schwarzen Schuhen ließ sie die Kurfürstenstraße 11 hinter sich. Und damit auch den armen Spinner in seiner Penthouse-Wohnung.

Mit dem ersten Taxi, das sie hatte bekommen können, war sie zu ihrem Lieblingscafé am Marktplatz im Zentrum der Stadt gefahren. Die junge Bedienung, die immer dann Dienst zu haben schien, wenn Maggie ihre kleine Auszeit brauchte, hatte auch heute ihren frechen Pony mit einer brav bis nach oben zugeknöpften Bluse etwas entschärft. Hinter der Theke grinste sie schon von Weitem und begrüßte ihre Stammkundin. „Guten Morgen, Frau May. Mittlerer Cappuccino mit Sojamilch und einem Schuss Macadamiaflavour?“ Maggie nickte ihr bestimmt und gleichzeitig freundlich auf direktem Wege zu ihrem angestammten Sitzplatz zu. Es war ihr Platz. Der an dem größten Fenster im Raum. Es fühlte sich stets an, als hätte man ihn für sie reserviert, da niemals jemand anders dort saß, als sie. Maggie May.

Sie mochte ihren Namen. Sie genoss es förmlich, damit angesprochen zu werden. Oder sich selbst damit anzusprechen. Auch der komische Kerl von letzter Nacht nannte sie ständig beim Namen und selbst, wenn Typen wie er ihn aussprachen, klang er immer noch nach klassischer, anspruchsvoller Musik. Sie glaubte in diesem Moment nicht, dass sie glücklicher hätte sein können. Vor allem nicht, als der erste Schluck von ihrem Soja-Cappuccino mit Macadamiaflavour dieses Gefühl krönte und Maggie sich zufrieden in eines der üppig auf den Sitzbänken verteilten Kissen zurückfallen ließ.

Als sie sich mit den Händen etwas abstützen wollte, spürte sie etwas, das gar nicht zu den samtigen Kissen auf dem warmen Holz der Bank passen wollte. Es war nicht weich, nicht organisch. Sondern kalt und glatt. Technisch. Neben ihr lag ein schwarzes Smartphone. Scheinbar gab es doch Gäste in diesem Café, die ihren Lieblingsplatz in Anspruch nehmen würden. Dieser Gedanke gefiel ihr nicht besonders. Solange sie es aber nicht wagen würden, genau das zu tun, wenn sie, Maggie May, hier ihre Auszeit nehmen wollte, musste es ihr aber wohl oder übel recht sein. Sie ertappte sich bei einem versteinerten Gesichtsausdruck. Doch war ihr gedanklicher Ausflug zu Menschen, die es wirklich wagen würden, ihre Lieblingsstelle des Lokals zu besetzen, nicht der Grund. Wirkte sich ihre übertriebene Platzeifersucht gerade noch sehr markant auf ihr Gemüt aus, so stand diese jetzt plötzlich weit, weit im Hintergrund und schien noch kleiner als das Sexappeal des Typen von letzter Nacht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt seit wenigen Augenblicken nur noch diesem fremden Mobiltelefon, das sie als wenig neugierige Person doch möglichst ignorieren wollte. Aber das Handy lies dies nicht zu, indem es sich bereits bei der leichten, unbeabsichtigten Berührung aktivierte und ihr die Aufforderung zur Eingabe des Zahlencodes zeigte. Und da war noch etwas, das ihr ab dem ersten flüchtigen Blick drohte, den Atem zu nehmen. Der Sperrbildschirm mit Hintergrundbild.

Maggie zwang sich dazu, ungläubig den Kopf zu schütteln und merkte doch, dass ihr ganzer Körper nichts auf ihren Leugnungsversuch gab und überall von Zehen bis zu den Fingern kalte und heiße Signale sendete. Ja, es gab auf dieser Welt sicherlich sehr viele Fenster, die geschmückt von einer dunkelgrünen Gardine mit goldenen Haltern den Blick auf zwei wunderschön blühende Kirschbäume einrahmten. Ja, es gab auch sicherlich viele dunkle Echtholz-Tische, auf denen ein riesiger, goldener Kerzenleuchter mit unterschiedlich weit abgebrannten Stilkerzen stand. Und ja, es gab auch sicherlich viele Fotorahmen, die auf solchen Tischen standen. Aber warum ausgerechnet ein leerer Fotorahmen? Ein leerer Fotorahmen mit goldenen, dicken, stuck-verzierten Rändern? Genau dieser einzigartig-schöne Bilderrahmen, der seit einem bestimmten Tag nicht mehr seiner Bestimmung, ein Bild zu präsentieren, nachgekommen war? Maggie hatte mehr und mehr Mühe, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Einem Lächeln, das sie in zahlreichen unangenehmen Situationen bereits sehr erfolgreich und für sich gewinnend eingesetzt hatte. Aber Maggie spürte, dass sich statt diesem Effekt gerade eine Schlinge um ihren Hals zusammenzog, die nichts auf ihr elegant-selbstbewusstes Lächeln zu geben schien.

„Das ist nicht möglich“, sagte sie sich dennoch immer wieder, aber sie konnte nicht anders und nahm das Handy in ihre frisch manikürten Hände, die eigentlich die Männer regelmäßig zum vibrieren brachten und nicht, wie jetzt, selbst unaufhörlich zitterten und den Befehlen von leisen, nichts Gutes verheißenden Stimmen in ihrem Kopf folgten. „Du kennst den Code. Tipp’ ihn ein, Maggie.“ Für einen kurzen Moment fühlte sich das fremde Mobiltelefon mit dem Bild im Display, das es Maggie zeigte, unwirklich vertraut an. So vertraut, dass es kurzzeitig gar nicht so verrückt schien, der Aufforderung zu folgen und einen ihr bekannten Zahlencode einzugeben. Maggie mahnte sich zur Vernunft. „Du wirst sehen, dass du übertreibst, Maggie.“ Ihr Grinsen wurde langsam wieder etwas breiter und ungläubiger. Sie konzentrierte sich auf ihre Finger und sah sich dabei zu, vier mal in sinnvoller Reihenfolge auf die Oberfläche des Smartphones zu tippen. 2-3-0-7. Ein vertrauter Signalton machte nach einem Augenblick, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte, jede Bemühung durch Grinsen mit wenigstens einem Fuß im Hier und Jetzt, der normalen Realität von Maggie May, zu bleiben, zunichte. Das iPhone entsperrte sich. Maggie’s Herz blieb einen Moment lang stehen, bis sie sich beim Scrollen zwischen den Homebildschirmen nach Luft schnappend eingestehen musste, dass das keine Einbildung war. Das kühle, technische Gerät in ihrer Hand war da. Und es war entsperrt. Mit dem Code, den nur sie wissen konnte. An dem Platz, der doch nur ihr gehörte. Nur ihr allein.

———

Maggie kauerte neben der Gründerzeitkommode, auf der wie immer frische Orchideen den einen, ganz bestimmten Farbakzent in die stilvoll-reduziert eingerichtete Diele setzten, und schon beim Betreten der Wohnung versprachen, dass man sich hier in einer sehr geschmackvollen Atmosphäre wohlfühlen durfte. Aber heute war es anders. Völlig anders. Weiter wie bis an diese Stelle, gut einen Meter nach der Wohnungstüre, hatte sie es nicht mehr geschafft. Das fremd-vertraute Telefon noch immer in den zitternden Händen haltend kämpfte sie gegen den Brechreiz, der sie seit dem fluchtartigen Verlassen des Cafés gnadenlos begleitete. Sie hatte sich dort nochmal in einen rationalen Moment gezwungen und allen Mut zusammengenommen, um nach Gründen zu suchen, die einen Zufall erklären würden. Es waren keine besonderen Apps installiert. Sie hatte auch zögernd die Nachrichten geprüft. Keine einzige. Auch keine Mails im Postfach. Es gab keinen Kontakt im Telefonbuch. Vielleicht hatte ja auch dieser Typ von letzter Nacht ihr etwas ins Getränk gemischt, was Halluzinationen gut hätte erklären können. Diese gedankliche Flucht wurde jedoch plötzlich und jäh beendet, als sie schließlich die Foto-App geöffnet hatte und der jüngste Schnappschuss eines üppig gefüllten Archivs ihr den letzten Hauch von gezwungener Ruhe ohne Erbarmen aussaugte. Sie hatte den besorgten Blick der jungen Servicekraft nur noch verschwommen wahrgenommen, als sie nach dem Erblicken dieses Fotos wie von fremden Mächten geführt einen Fünf-Euro-Schein aus ihrer Chanel Flap-Bag gezogen und auf dem Tisch hinterlassen hatte, dem unbedingten Drang nachgebend, diesen, ihren Platz so schnell wie möglich zu verlassen. Sie hatte auch nicht mehr ihre Sinne im Griff, um die wenigen Gäste des Cafés zu mustern oder überhaupt zu überlegen, was sie nun tun sollte. Es hatte nur die Flucht gegeben. Das fremde Handy in ihrer Hand. Mit wackligen, großen Schritten, die nichts mehr mit dem überlegenen elegant und gleichzeitig selbstbewussten Auftritt, den man von ihr kannte, gemein hatten. Sie musste hier weg. Sie musste in ihre Wohnung zwei Straßen weiter. So schnell wie sie ihre Füße in den spitzen schwarzen Stiefletten hatten tragen können.

Kauernd schnappte Maggie nun zum gefühlt hundertsten Male nach Luft, aber die Schlinge löste sich nicht von ihrem Hals, sondern zog sich mit jedem Atemzug weiter zu. Auch jetzt, nachdem sie es in ihre Wohnung geschafft und panisch den Schlüssel von innen mehrfach im Schloss gedreht hatte, konnte sie die bösen Geister, die so harsch und ohne Vorwarnung ihren sonst so klaren Kopf infiltriert hatten, nicht aussperren. Sie hatte das Gefühl, jeden Moment den Verstand zu verlieren. Und schließlich gab sie dem Drang nach, entsperrte erneut das Smartphone und öffnete noch einmal die Foto-App.

Maggie traute ihren Augen nicht. Sie scrollte bis ganz oben, dann wieder nach unten. Dann wieder nach oben. Und unten. Es gab kein einziges Foto, das nicht sie zeigte. Fotos von ihr, in jeder Situation. Wie sie ihre Wohnung verlässt und wie sie sie wieder betritt. Wie sie einem Geschäftsreisenden in einer atmosphärischen Bar schöne Augen macht, wie sie mit ihm ins Hotel geht und wie sie sich am nächsten Morgen verkatert, aber mit rotem Lippenstift und auf spitzen Schuhen aus dem Haus schleicht. Und dann war da noch dieses neueste Foto, das zeigte, wie sie ins Taxi stieg. Keine 30 Minuten, bevor sie das verhängnisvolle Mobiltelefon auf ihrem Stammplatz gefunden hatte. Ihr Brechreiz wurde stärker. Sie wollte sich übergeben. Ihre zierlichen Hände fingen erneut an, heftig zu zittern und ihre Lippen bebten. Sie kniff die Augen zu und hoffte, das Handy in ihrer Hand würde verschwinden, sobald sie sie wieder öffnet. Die Kommode mit den Blumen, die fein-säuberlich aufgereihten Schuhe aller Art, die Chanel Flap-Bag neben ihr auf dem dunklen Holzboden, alles – alles inklusive ihr – drehte sich. Sie spürte, abgesehen von dem immer stärker werdenden Brechreiz, ihren Körper nicht mehr und sie hatte für einen kurzen Moment vergessen, wer sie war. Sie legte ihre Hände in ihr Gesicht und blieb in ihrer Schockstarre, die noch immer anhielt und sich nur wegen dem starken Zittern all ihrer Körperteile von der kindgroßen Marmorfigur direkt gegenüber unterschied, sitzen, bis sie schließlich dem dringenden Bedürfnis, sich zu übergeben, folgen musste. Sie spürte dabei, wie wild ihr Herz in ihrer Brust schlug und sie hatte sich zum ersten Mal in ihrem neuen Leben gewünscht, nicht Maggie May zu sein. Sie hatte sogar zum ersten Mal das Gefühl, es war ein verdammter Fluch, Maggie May zu sein.

KAPITEL 2 – VOR WENIGEN JAHREN

IHR VERMÄCHTNIS

Er lernte sie in einer Bar am anderen Ende der Stadt kennen. Sehr wahrscheinlich war er nicht der Einzige, dem das schöne Mädchen mit den dunkelblonden, langen Haaren auffiel. Und der Hauptgrund musste dafür dieser tiefrote Lippenstift sein, der nicht nur Signalwirkung für eine erhöhte Aufmerksamkeit erzeugte, sondern aufgetragen auf genau diesen einzigartigen Mund in diesem bildhübschen Gesicht nur für sie entwickelt worden sein musste. Entwickelt für eine unglaublich attraktive Frau, die dadurch oder gerade deswegen aber keineswegs oberflächlich wirkte. Das war nichts von der Stange. Das war etwas, das er so noch nie gesehen hatte. Genauso wie ihre Augen. Große, wunderschöne Augen, die in ihrer schier grenzenlosen Tiefe tausend Geschichten zu erzählen schienen. In einer Sprache, so selten und einzigartig wie ihr Lippenstift. Eine Sprache, die er natürlich nicht kennen konnte. Und doch hatte er bereits im ersten Moment beim Blick in diese Augen das Gefühl, diese Geschichten zu verstehen.

Es scheint heute wie ein Rätsel, aber aus irgendeinem Grund verriet sie ihm ihren Namen. Maggie May. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie das wahrscheinlich nur sehr, sehr selten tat. Das machte ihn nur noch neugieriger. Frauen übten auf ihn schon immer eine Faszination aus. Aber diese war nicht vergleichbar mit jener, die all seine Jugendfreunde und Kumpels in deren scheinbar bis weit in die Zwanziger andauernden Pubertät gefühlt haben. Seine Faszination war nicht oberflächlich. Nicht rein visuell. Nicht einmal sexuell. Nein, im besonderen überhaupt nicht sexuell. Das hatte Frederik schon früh bemerkt. Die Vorstellung, mit einer Frau zu schlafen, die andere Jungs in der Klasse verlegen machte oder zu nicht-witzigen halbstarken Sprüchen verleiten konnte, löste bei ihm gar nichts aus. Und dennoch regte die weibliche Anatomie in ihm etwas. Etwas, das auf einer ganz anderen Ebene stattfand. Er stellte sich nicht vor, einen weiblichen Körper zu berühren. Er war gefesselt vom Gedanken, in ihm – selbst – berührt zu werden.

Aber was löste nun diese Maggie May in ihm aus? Die eleganten Bewegungen ihrer Lippen beim Sprechen eröffneten ihm in diesem Moment eine neue Welt. Eine vielleicht endlich normale Welt? Er wollte es in diesem Moment einfach glauben. Eines stand fest: er interessierte sich für Maggie May. Und was ihn fast noch mehr verstörte – dieses Mädchen schien sich auch für ihn zu interessieren. Ja, wenn er die Sprache ihrer Augen richtig deuten würde, dann schien sie auch auf ihn ein Auge geworfen zu haben. Stellte er sich gerade auch zum ersten Mal echten Sex mit einer Frau vor? Diese Phantasie hatte er noch nie in seinem Leben ernsthaft und intensiv bis zu Ende gedacht. Nicht in der Rolle als Mann. Aber in diesem Moment glaubte er, genau dies zu wollen. Vor allem, wenn es der Weg sein würde, ihr nahe – sehr nahe – sein zu können. Ja. Dann würde er genau dies wollen.

In den folgenden Stunden rasten Frauen und Männer verschwommen wie in einem Zeitraffer um Frederik herum. Sie bestellten Drinks, lachten oder schwiegen sich an, waren in Gruppen unterwegs oder alleine, flirteten oder unterhielten sich unaufgeregt. All diese Eindrücke rasten Minute um Minute an ihm vorbei, eine Person jedoch gab diesem wilden abendlichen Bartreiben seine Konstante, nicht verschwommen, sondern scharf. Er wollte sie näher kennen lernen. So blieb sein Fokus auf Maggie May während sich die halbe Nacht das Menschenkarussell weiterdrehte, schließlich aber zwischen zwei und drei Uhr die Gäste zusehends weniger wurden. Und dann machte sie plötzlich Feierabend, räumte die letzten Gläser in den Geschirrspüler und Frederik ertappte sich dabei, all die Stunden nicht genutzt zu haben, um zu überlegen, was er ihr denn eigentlich sagen wolle. Oder was er denn anzubieten habe? „Hey, ich habs nicht so mit Frauen, also ich meine sexuell, aber sie faszinieren mich irgendwie. Also, ich meine, du jetzt im besonderen. Deswegen meinte ich, ähm, wir könnten noch etwas quatschen oder so?“ Das klang wohl eher beängstigend und die Nachlässigkeit, was er ihr denn sagen würde, beschäftigte ihn noch, als sie bereits vor ihm stand. Bewaffnet mit einer Handtasche, die wohl sündhaft teuer sein musste. Und zudem bewaffnet mit einer Flasche Rotwein – Chianti Classico – und zwei Gläsern. „Frederik sagtest du, stimmt`s?“, lächelte sie ihn warm an. „Oder Freddy, wenn dir das lieber ist.“ Er versuchte ihr Lächeln zu erwidern, wusste aber, dass er mindestens zwei Level unter ihrem liegen musste. „Frederik mag ich eigentlich.“, lächelte sie weiter „Ich glaube, du hast auf mich gewartet?“ Frederik starrte sie mit offenem Mund an. Oh ja. Das hatte er. Er konnte noch nicht sprechen, da fuhr sie bereits fort. „Das freut mich. Falls du heute nichts mehr vor hast, würde ich dir gerne etwas zeigen.“ Ihr Lächeln wurde nicht nur breiter, sondern machte deutlich, dass hier jemand kein Nein akzeptieren würde. Heute musste der beste Tag seines Lebens sein. Das fühlte er und so folgte er dem wunderschönen Mädchen namens Maggie May in die Nacht.

———

Seit jener Nacht verging kein Tag, den Maggie und Frederik nicht zusammen verbrachten. Sie redeten viel und machten dabei ganze Nächte in angeregten Diskussionen durch. Und er genoss diese angeregten Stunden, in denen sie solange philosophierten, bis einer von beiden – meistens Maggie –  einschlief. Und dennoch lies ihn nicht los, dass er einen großen Teil ihrer Geschichte nach vielen Wochen noch immer nicht kannte. Es bestand kein Zweifel mehr: Maggie May ist wunderschön, begehrenswert, sehr klug, charmant und vor allem stark. Sie war eine Frau, der die Welt gehören konnte. Nein, der die Welt gehören musste. Aber das tat sie nicht. Ganz im Gegenteil. Maggie erzählte nie von Freunden, nie von ihrer Familie, nie von einem Leben davor. Und der Eindruck, dass es gar keines geben konnte, drängte sich mehr und mehr auf. Sie konnte über alle Themen so tiefgründig philosophieren, so vieles hinterfragen, so vieles einordnen. Aber sie hatte selbst keine Ziele. Sie hatte noch nicht einmal mehr in der Bar gearbeitet, in der sie sich kennengelernt hatten. Sie wolle flexibel sein und dies auch stets bleiben, sagte sie. Erst, wenn das Ersparte wieder aufgebraucht sei, würde sie sich auch wieder einen Job suchen. Irgendwo anders, in einer anderen Stadt. „Weißt du, Frederik. Wenn du an einem Ort zu lange bleibst, dann kennt man dich. Und wenn man dich kennt, dann findet man dich.“ Diese Worte hatte sie ihm immer wieder erwidert auf seine Fragen und lies ihn gar nicht antworten. „Man findet dich, wenn man dich finden will. Und mir persönlich reicht es völlig, dass du mich gefunden hast, Frederik.“, fügte sie stets mit ihrem berühmten Lächeln an, sodass er für den Moment gar nichts mehr hinterfragen konnte. Und auch nicht wollte. Dafür genoss er die Zeit mit dieser ganz besonderen Frau viel zu sehr.

Beide hatten auch immer wieder mal Sex. Und es fühlte sich für ihn auch nicht unbedeutend an, dafür war ihm diese Frau zu wichtig. Und doch war es eben Sex mit einer Frau. Und das hatte er sich schließlich bis zu ihr überhaupt nicht vorstellen können. So gab es hier auch nicht die Funken, wie sie all die Liebesfilme versprachen, die sie immer wieder mal gemeinsam guckten. Dafür aber waren es die Gespräche, die sie führten, und ihr Verhalten in allen denkbaren Situationen, die er stets mit vollstem Interesse verfolgte, die ihm so unglaublich viel gaben. Und doch kam es schließlich unter Einfluss von Alkohol dazu, wozu es eines Tages hatte kommen müssen. Sie gestand ihm, dass sie sich in ihn vielleicht, aber nur vielleicht, ein bisschen verliebt habe. Und diese ehrlichen Worte, die sie in ihrem Stolz einiges an Kraft gekostet haben mussten, berührten ihn sehr. So sehr, dass auch er nun endlich ehrlich zu ihr sein musste. Er durfte nicht leugnen, dass er im Sinne einer klassischen Frau-Mann-Beziehung nichts für sie empfand. Nicht empfinden konnte. Kein Mensch auf der Welt würde ihn mehr inspirieren können als sie. Das war sicher. Genauso sicher war aber auch nach der Zeit mit ihr, dass seine Phantasien, selbst eine Frau sein zu wollen, kein Hirngespinst sein konnten.

Niemand würde aus ihm je mehr herausholen oder ihm je näher kommen und wirklich sein. Aber all diese unbeschreiblichen Gefühle standen unter dem einen Schatten, den er nun schon so unglaublich lange unterdrückt hatte. Wenn ihm das jemand etwas einfacher machte, dann war es sicherlich sie. Aber dieser Schatten ging nie weg und es wurde schon länger kaum noch erträglich, in diesem Schatten zu stehen. Und er musste ehrlich zu ihr sein, so wie sie es war. Es war sicherlich nicht der günstigste Zeitpunkt, aber er war es ihr schuldig. Und er war es vor allem auch sich selbst nach all den Jahren schuldig. Aus diesem Grund formte er zum allerersten Mal in seinem Leben jene Worte, die seine Gedanken und seine Seele schon einhunderttausend mal penetriertet hatten, in seinem Mund, um sie der Person zu eröffnen, die gar nicht wusste, was sie bereits für ihn getan hatte.

„Ich möchte. Nein, ich MUSS eine Frau sein.“

Nachdem er es ausgesprochen hatte, fühlte er sich erleichtert. Und Maggie reagierte auf diese schwere Botschaft so, wie es eben nur eine Maggie vermochte. Sie nahm sanft seine Hand und flüsterte ihm selbstlos und unaufgeregt mit einem tiefen, ehrlichen Blick in seine Augen zu: „Wenn das dein Wunsch ist, Frederik, dann werde ich dir dabei helfen. Dieser Prozess muss nicht allein ein Teil von dir sein. Lass es auch einen Teil von mir sein, wenn du magst. Ich bin für dich da, das verspreche ich dir.“ Sie stellte keine Fragen. Sie stellte keine Bedingungen. Womit hatte er nur diese unglaubliche Maggie May so nah bei sich in seinem Leben verdient?

Beide führten Gespräch um Gespräch. Sie schmiedeten Pläne, vereinbarten Beratungstermine, suchten Informationen. Maggie deckte sich mit Bergen an Büchern ein und verbrachte ihre Nächte bei der Recherche. Gemeinsam gingen sie zu Erstgesprächen bei Chirurgen, die sich auf Geschlechtsumwandlungen spezialisiert hatten. Und immer wieder redete sie mit Frederik. Dazu besuchten sie auch immer wieder ihren besonderen Ort, den Maggie ihm in der einen Kennenlern-Nacht mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern gezeigt hatte. Dort am Rande des Waldes außerhalb der Stadt, wo ein scheinbar vergessener und schon leicht zugewachsener Weg nach ein paar Metern zu einer sehr alten Bank führte, inmitten wilder Sträucher und Gebüsch, wo außer den beiden wohl seit vielen, vielen Jahren niemand mehr gesessen hatte und die Welt um die beiden komplett abgeschalten schien. Dort schwiegen sie und hörten den Vögeln zu. Um dann wieder umso intensiver zu diskutieren. Sie wollte ihn verstehen. Und sie wollte ihm soviel Angst nehmen, wie es ihr nur möglich war. Sie machte ihm Mut und manchmal weinte sie leise mit ihm, nachdem nach ein paar Gläsern Rotwein leise Zweifel plötzlich wieder in ihm zu schreien begannen.

Und so war es auch eines Abends im Sommer, als Frederik ein weiteres Mal von der Angst vor diesem ganzen Prozess und der wahnsinnig großen Lebensentscheidung überwältigt worden und mit einer Flasche Wein in der Hand auf dem Weg zu ihr war. Zu ihr, um mit ihr an den einen besonderen Ort zu flüchten. Es war einer dieser Abende, die er ohne sie nicht überstehen würde. Sie reagierte zwar auf keine seiner Nachrichten, aber das tat sie öfter. Er würde einfach zu ihr fahren, so wie er es schon so oft in seiner Not getan hatte in den letzten Wochen. Dann würden sie wieder reden. Vielleicht würden sie auch einen Film schauen. Vielleicht würden sie auch Sex haben. Das passierte immer noch ab und an. Man wusste es nie genau, mit ihr war alles möglich. Er ertappte sich dabei, sich darauf zu freuen und machte sich zum Ziel, ihrem schönen Gesicht heute ein genauso schönes Lächeln, das er so gern mochte, zu entlocken. Sein Allheilmittel, das wie ein Zauber es stets geschafft hatte, seine zerbrochene Welt für einen Moment wieder ganz erscheinen zu lassen.

Mit einer Flasche Chianti Classico stand er vor ihrer Tür. Auch nach dem zweiten Klingeln machte sie ihm nicht auf. Aber sie verließ doch gewöhnlich selten das Haus, schon gar nicht um diese Zeit und ohne ihn. Zumindest nicht ohne ihn darüber informiert zu haben. Er klingelt erneut. Aber wieder ohne Reaktion. Hatte sie alles zurück gelassen, um nun doch endlich die Welt zu erobern? Frederik ertappte sich bei einem flüchtigen Lächeln, das er dieser Traumvorstellung, sie würde endlich das aus ihren Ressourcen rausholen, was sie verdient hatte, verdankte. Er schmunzelte. „Sind Sie heute dazu bereit, der Welt den Kopf zu verdrehen, Miss Maggie May?“, flüsterte er. „Aber dann lass mich nur schnell den Flaschenöffner aus deiner Wohnung holen und ich trinke unseren Wein dieses mal allein. Und du darfst gerne in der Zwischenzeit die Welt erobern.“ Also steckte Frederik den Zweitschlüssel, den er stets für sie bei sich trug, aber eigentlich nie gebraucht hatte, da ja sie immer da war, in das Schloss und öffnete die Wohnungstüre.

Es war sehr ruhig in der Wohnung. Und im Flur roch es wie immer nach Maggie. Er liebte ihren blumig-frischen Duft, der ihn an die Blumenbeete seiner Oma erinnerte. Dorthin hatte er oft seine Mutter begleitet und hatte den beiden Frau zugesehen, wie sie die Orchideen pflegten und in ihrer Gartenarbeit aufgingen. Dieser geliebte Geruch, den er bis heute damit verbindet, war bei Maggie noch viel intensiver. Er öffnete unsichtbare Türen zu neuen Welten, er zog ihn in den Bann. Genauso wie der gesamte Rest dieser Frau. So wie es kein Parfum dieser Welt vermögen würde.

Der Flaschenöffner hätte noch auf dem dunklen Echtholz-Esstisch liegen müssen, neben dem Kerzenständer mit den unterschiedlich abgebrannten Stilkerzen. Er würde ganz schnell den Wein damit öffnen und sich damit in die laue Sommernacht verziehen. Vielleicht würde er aber auch auf sie warten. Er musste sich ein schlechtes Gewissen eingestehen, als er schließlich auch die Tür zur Wohnküche öffnete. Aber das war nicht der Grund für das seltsame Gefühl, das sich plötzlich in seinem Magen breit machte und ihn in erhöhte Alarmbereitschaft versetzte. Es war der eigenartig-fremde Geruch, der sich nun in die Blumenwiese von Maggie, die ihm so vertraut war, mischte. Frederik hatte die Türklinke noch in der Hand, während er beunruhigt auf der Suche nach dem Grund für diese bedrohliche Sinneswahrnehmung war… und direkt in ihre weit aufgerissenen Augen blickte, die reglos an die Decke starrten. Ohne den besonderen Glanz, der diese Augen sonst in jeder Situation, ob morgens oder nachts, schmückte. Ohne Leben. Völlig leer.

Maggie lag reglos auf dem Teppich im Wohnbereich. Dem Teppich, der eigentlich cremefarben sein sollte, aber jetzt durchtränkt von Blut vollkommen in ein dunkles Rot eingefärbt war. Maggies Blut. Frederik hatte die Türklinge noch immer fest im Griff, als er zum ersten mal verzweifelt und verstört ihren Namen schrie. „Maggie!“ Und das wiederholte er immer wieder, während er sich selbst dabei beobachtete, die Türklinge loszulassen, zu ihr zu gehen, sich über sie zu beugen, ihr Gesicht zu halten. „Maggie?“ In seine verzweifelten Schreie mischte sich ein von Minute zu Minute zunehmendes und zitterndes Schluchzen bis er weinend und kraftlos irgendwann seinen Kopf auf ihre Brust fallen lies. Maggie antwortete ihm nicht mehr.

Frederik spürte sich selbst kaum noch und gab seinen Emotionen erschöpft nach. Nichts um ihn herum fühlte sich noch real an. Aber unter ihm lag sie. Maggie May. Seine Miss Maggie May. Tot. Die Frau, die trotz all ihrer unergründlichen Einsamkeit und Verschlossenheit das Leben in doch so nie gesehen purer Form ausstrahlte, lag leblos unter ihm auf dem blutroten Teppich auf ihrem Wohnzimmerboden. Eine Entscheidung, die sie offensichtlich in ihrer unverwechselbaren Eigensinnigkeit selbst getroffen hatte, was ihm die aufgeschnittenen Pulsadern an ihrem linken Handgelenk signalisierten. Frederik war nicht mehr in der Lage, irgendetwas zu begreifen. Aber wie um Himmels Willen hatte er das übersehen können? Wie konnte ihm entgangen sein, dass nicht er all die Zeit nach Hilfe schrie, sondern sie? Wie konnte er nicht bemerken, dass nicht er es war, der gerettet werden musste, sondern sie?

———

Frederik öffnete mühsam und schmerzerfüllt seine Augen. Es musste mindestens zwölf Stunden her sein, seitdem er den leblosen Körper von Maggie gefunden hatte, da das gellende Licht der Julimittagssonne wie eine weiße Wand vor den Fenstern stand und auch die Wohnung fast schon unerträglich aufgeheizt hatte. Zwölf heiße und gleichzeitig erbarmungslos kalte Stunden, die er nicht einen Zentimeter von ihr gewichen war. Stunden voll panischer Versuche sie zu wecken und dann doch selbst entkräftet einzuschlafen. Nur um Minuten später wieder erschrocken aufzuwachen und in ihre toten Augen blicken zu müssen. Davor stets ein kurzer Moment der Hoffnung, sie atmend und duftend wie eine Blumenwiese umarmen zu können. Momente die stets grausam und jäh von der Realität beendet worden waren.

Er musste sich endlich aufrappeln. Und wieder setzte er sich neben sie und blickte sie an. Und er stellte fest, dass auch jetzt in diesem so unwirklichen Zustand nichts daran einen Zweifel bei ihm hätte aufkommen lassen, dass sie die schönste Frau sein musste, der er je begegnet war. Und jemals wieder begegnen würde. Daran konnte auch die schon fahl werdende Haut und das vermeintlich ausdruckslose Gesicht ohne das so zauberhafte Lächeln nichts ändern. Frederik wischte sich die Tränen aus seinem Gesicht. „Du hättest die Welt erobern sollen, nicht verlassen.“ Er griff mit beiden Händen ihr Gesicht und hob es etwas an. „Du hättest mit mir sprechen müssen, Maggie. Glaubtest du wirklich nicht daran, dass ich versucht hätte, dir das zurückzugeben, was du mir gibst?“ Er stockte und versuchte ruhig zu atmen, doch er konnte einen Weinanfall nicht vermeiden. „Gegeben hast.“ Der Schock hatte sich mit der Zeit etwas gelegt, weshalb aus seinen stundenlangen Tränen nun doch ein laut schluchzendes und bitterliches Weinen wurde.

Erst Minuten später konnte er sich wieder etwas beruhigen und hielt inne, als würde er immer noch auf eine Antwort von ihr warten. Doch die noch immer von diesem wundervollen Lippenstift geschmückten Lippen brachten kein Wort mehr hervor, keinen Hauch, kein Leben. Auch wenn deren rote Farbe noch immer versprachen, dass diese Frau die Welt erobern könnte, würde sie nur wollen. Doch sie wollte nicht. Er konnte all das nicht begreifen. Nicht akzeptieren. Aber er wusste in diesem Augenblick, dass er ihr Rätsel lösen werde. Sie hätte doch noch der Welt zeigen müssen, welch starke und inspirierende Frau sie doch war. Sie hätte doch all das bekommen sollen, was sie wollte. Man hätte doch jeden einzelnen und noch so verrückten Wunsch von diesen einzigartigen Lippen ablesen sollen. Sie hätte lernen sollen, welchen tatsächlichen Zauber sie auf die Menschen ausübte. Das schöne Mädchen sollte doch jeden Tag glücklich durch die Straßen laufen und ihren Träumen nachgehen, während sich alle Passanten ihres Lebens voller Bewunderung nach ihr umdrehten. Wie hatte es nur sein können, dass diese so stark spürbare Energie nie von ihr ausgespielt wurde? Und jetzt unwiderruflich verloren ist? Und warum in Gottes Namen soll der Welt nun diese Persönlichkeit mit all ihren Ideen und ihrem Können vorenthalten bleiben? Es ergab für Frederik einfach alles keinen Sinn. Diese Frau voll von Magie und Potential lag vor ihm auf dem Boden. Nicht mehr in der Lage, ihren Auftrag auszuführen. Nicht mehr im Stande, zerbrochene Welten allein mit ihren Blicken zu reparieren. Nichts mehr da, das jemand, der sie verdient hatte, begehren konnte.

Und niemand, der sie vermissen würde. „Außer ich.“ Durchzuckte es Frederik. Warum auch immer gab es niemanden in ihrem Leben außer ihm. Soweit er es nun nach all den Monaten wusste und nicht verstanden hatte, würden keine Familie, keine Freunde, keine Kollegen nach ihr fragen. Und auch nicht um sie trauern. Um Maggie May, die sich das Leben nahm. Das Leben, das so viel Versprechen in sich trug. Und wieder durchzuckte es Frederik bei all diesen traurigen Gedanken. Und er blickte in ihre Augen und begann ihr ein letztes Mal ein Versprechen zu machen, das wie selbstverständlich aus seinem Mund kam, weil sich in diesem Moment der Irrationalität nichts hätte logischer anfühlen können als diese Idee, die innerhalb eines Moments komplett von ihm Besitz ergriffen hatte. „Wenn du dein Werk nicht vollendest, Maggie, dann werde ich es tun.“ Er zitterte vor verzweifelter Entschlossenheit: „Dann werde ich für dich der Welt den Kopf verdrehen. Das verspreche ich dir, mein Engel.“

———

Die nächsten Stunden verliefen wie in Trance. Er hatte einen Entschluss gefasst und offen ausgesprochen, den er im Leben nicht mehr ändern würde. Das wusste Frederik. Und doch machte es ihm Angst. Er spürte, dass sie sein Leben spätestens in diesem Moment komplett verändert hatte. Er spürte eine noch nie dagewesene Motivation. Eine Motivation, den Prozess seiner Geschlechtsumwandlung mit der letzten und unzerstörbaren Gewissheit durchzuziehen. Für sich. Für Maggie.

Und diese Entschlossenheit wurde mit jedem Handgriff stärker, mit dem er anfing seine Maggie liebevoll zu waschen, sie von all dem Blut zu befreien. Danach schminkte er sie, föhnte und glättete ihre Haare. So wie sie es doch immer getan hatte. Ihn machte jede kleine Bewegung ein Stück weit hoffnungsvoller und er ertappte sich bei einem ersten kleinen Lächeln seit der düsteren Entdeckung vor nun mehr über zwanzig Stunden, als er ihr ihr Lieblingskleid angezogen hatte. Das hellgraue, weit geschnittene Kleid mit den schwarzen Punkten und den langen, lockeren Ärmeln. Für ihn hatte sie es zwar nie angezogen und doch wusste er, wie sehr sie es liebte und wie gern sie es doch trug an Tagen, an denen auch ihre Welt fast normal und glücklich gewirkt hatte. Und da durfte auch nicht der beige Strickpullover fehlen, den er ihr schließlich behutsam überzog. Genauso wie die beigen Stiefeletten, die sich fast wie von selbst um ihre kleinen Füße schmiegten. „Du siehst darin wundervoll aus, Maggie“, bestätigte sich Frederik auch ein bisschen selbst, presste in diesem Moment leiser Euphorie sein Gesicht an ihres und flüsterte ihr zu: „Ich werde niemals vergessen, was du für mich getan hast.“

Und danach tat Frederik in seiner Entschlossenheit, die mittlerweile von keiner Armee dieser Welt mehr hätte gebrochen werden können, das, was ihm im Sinne seines Vorhabens logisch erschien. Und würdig. Er brachte im Schutze der Dunkelheit den leblosen Körper an den Ort, an den sie ihn einst nach der Bar in ihrer ersten Nacht entführt hatte. An den besonderen Ort, so wie sie es sagte. Dort wo sie zum ersten mal und dann doch immer wieder für eine kurze Flucht aus dem Leben ihre Flasche Chianti Classico getrunken hatten. Dort in dem Waldstück außerhalb der Stadt, wo dessen nächtliches Treiben nur noch als verzerrtes und ganz weit entferntes Rauschen wahrzunehmen war. Dort wo sie oft stundenlang schweigend die Ruhe in sich aufgesogen hatte und sie sich auch immer wieder tiefgehende Geschichten erzählten. Vor allem Maggie, die ihn mit ihren Erzählungen in den Bann ziehen konnte. Aber nie hatte sie erzählt, woher sie kam. Und was verdammt nochmal dieses Mädchen gebrochen hatte.

———

Er hatte es lange nicht fertig gebracht, seine Maggie an ihrem gemeinsamen Ort alleine zurückzulassen. Alleine und circa 150 Zentimeter unter der Erde. Er ertrug den Gedanken nicht, sie ein für allemal zurückzulassen. Das hier und heute durfte kein Abschied von Maggie May sein. Das Mädchen, das doch noch gar nicht die Chance ergriffen hatte, der Welt zu zeigen wie wundervoll sie doch war. Er hätte sofort mit ihr getauscht und ihr diese Chance zurück gegeben. Denn wer war schon er im Vergleich zu dieser Frau? Wen würde ein gewöhnlicher Frederik Zeus denn auf dieser Welt beeindrucken? Niemand. Niemand im Vergleich zu einer Maggie May und all den Türen, die sie zu öffnen in der Lage gewesen wäre. Es war so einfach. Er konnte in gewisser Art mit ihr tauschen, wenn auch nicht mit der Art, seinen Atemzug für ihren zu geben. Aber eins konnte er ja doch und diese Entschlossenheit wich keinen Millimeter aus seinem tiefsten Innern. Er konnte sein Leben für ihres geben. Er würde von der Bildfläche verschwinden. Und dafür würde sie bleiben. Und sie würde endlich der Welt den Kopf verdrehen. Er müsse ihr Erbe fortführen und erst dann zufrieden sein, wenn Maggie May all das erreicht hat, was sie verdient hätte.

Neben all den so schweren Entscheidungen, die er in letzter Zeit hätte treffen müssen, in all seiner Zerrissenheit und Unsicherheit, die ihn doch so quälte, fühlte sich dieser Entschluss so goldrichtig und so federleicht an: Er musste Maggie May werden und sein, um der Welt zu zeigen, wer Maggie May war. Und ist.

KAPITEL 3 – HEUTE

IHR BILDERRAHMEN

Maggie fand sich in ihrem Auto wieder. Ihre noch zitternden Hände bohrten sich regelrecht in das Lederlenkrad ihres A-Klasse Mercedes’. Auf dem Beifahrersitz das fremd-vertraute schwarze Smartphone. Sie hatte schließlich doch einem rationalen Gedanken nachgeben können, nachdem sie sich mehrfach übergeben und sich der Brechreiz zumindest zu einem großen Teil zurückgezogen hatte. Sie musste etwas tun. Und zwar schnell. Es war keine Zeit, verzweifelt auf dem Holzboden ihres Flurs zu kauern und dabei ihr Gesicht tiefer und tiefer in ihre Hände zu vergraben. Der Besitzer dieses Smartphones musste ihr Geheimnis kennen. Er musste wissen, dass Maggie May, so wie sie gerade zitternd hinter dem Lenkrad saß und sich zwang, genug Konzentration aufzubringen, um nicht im Seitengraben zu landen, nicht als solche geboren worden war. Er oder sie musste wissen, dass es der 23. Juli 2017 war, an dem Frederik sein altes Leben aufgegeben hatte, um Maggie May zu sein.

Das war klar. Aber es gab einen Hoffnungsschimmer, an dem sie sich in ihrem Flur hochgezogen hatte, um überhastet ihre Handtasche sowie den Autoschlüssel zu packen und auf wackligen Beinen zu ihrem Auto in einer Seitenstraße zu taumeln. Und zwar, dass es vielleicht vom Besitzer des Telefons nicht geplant war, dass sie es in die Finger bekommt. Dass er oder sie es aus Versehen hat liegen lassen und gar nicht die Absicht hatte, Maggie ein Zeichen zu geben. Falls es so wäre, dann hätte sie jetzt vielleicht einen kleinen Vorsprung. Dann bestand vielleicht sogar der leise Hauch einer Chance, dass es möglich war, rechtzeitig herausfinden zu können,  welche Person es war, die Maggies Geheimnis kannte und – das war viel wichtiger – was sie mit ihr vor hatte. An die andere Möglichkeit wollte sie gar nicht denken. Und doch wurden die Gedanken immer quälender, dass sie direkt in eine gewollte Falle laufen würde, als sie mit weichen Beinen am Ziel angekommen aus ihrem Auto stieg. Das schwarze Telefon in ihrer Hand.

Der Anblick der beiden prächtigen Kirschbäume, die das Haus der echten Maggie May so markant in Szene setzten, war heute so unerträglich wie noch nie. Auf dem Handyfoto, das Maggie wenige Stunden zuvor einen so tiefen Schreck versetzt hatte, blühten sie noch, was bedeuten musste, dass das Bild vor circa zwei bis drei Monaten aufgenommen worden war. Was hatte das alles zu bedeuten? Maggie wusste nicht, wonach sie hier eigentlich suchen sollte? Aber wenn sie diese einzige vielleicht realistische Chance wahren wollte, dem ominösen Mitwisser zuvorzukommen, so musste sie genau hier anfangen. Genau hier, wo es am meisten weh tat. In der Wohnung der echten Maggie May. Dem Mädchen, das ihr so viel bedeutet hatte und immer noch bedeutet. Und immer bedeuten wird.

Die neue Maggie May hatte die Wohnung bis heute nicht gekündigt. Und sie hatte es bis heute nicht geschafft, sie zu betreten. Es war stets schlimm genug, alle drei bis spätestens vier Wochen im Schutze der Dunkelheit hier aufzutauchen und am Hauseingang Maggies Briefkasten zu entleeren und vor allem Rechnungen abzufangen, um diese bezahlen zu können. Wie auch immer hatte sie es so bis heute geschafft, dass ihr Tod bis heute nicht entdeckt wurde. Begünstigt wurde dies auch von ihrer Zurückgezogenheit, sodass auch ihre Nachbarn nie groß Kenntnis von ihr genommen hatten. Allgemein war sich scheinbar in dieser Ecke der Stadt sowie jeder selbst der nächste. Und so war auch der Identitätsklau bis heute nicht aufgeflogen. Aber war es denn wirklich ein Identitätsklau? Es war doch vielmehr die Erfüllung eines Auftrags. Die Weiterführung einer so wundervollen Persönlichkeit. Die längst überfällige Demonstration eines Lebens mit soviel Potential. In die Traurigkeit dieser Gedanken mischte sich plötzlich wieder die Angst und Unsicherheit. Was es auch immer war. Jemand wusste davon. Und die falsche Maggie musste jetzt reagieren.

Sie hatte keine andere Wahl. Und wenn sie dem Besitzer des Handys in die Arme laufen würde. Sie musste erstmal seit fast drei Jahren weiter als bis zu den Briefkästen in das Haus vorstoßen. Zwar war es nur ein Stockwerk bis in die erste Etage, aber jede einzelne Stufe verlangte der neuen Maggie alles ab. Es fühlte sich nicht richtig an, nach oben zu gehen. Und doch hatte sie keine andere Wahl. Sie blieb vor der Wohnungstüre stehen und atmete schwer. Um nicht Gefahr zu laufen, von einem Hausbewohner gesehen zu werden, hätte sie schnell den Schlüssel in den Zylinder stecken und zweimal drehen sollen, so hatte sie die Türe damals abgesperrt. Aber sie blieb kurz gedankenversunken stehen und starrte auf das Schild. „MAGGIE MAY“. Hätte es den verdammten 23.07.2017 nicht gegeben. Dann würde sie, die heute Maggie May war, als Frederik Zeus oder als die Frau mit eigener Identität, zu der sie sich verwandelt hatte, stehen und darauf warten, dass ihr das schöne Mädchen mit den dunkelblonden, langen Haaren und dem tiefroten Lippenstift die Türe öffnen würde. Die echte Maggie May mit ihrem unverwechselbaren Lächeln. Wäre dieser 23.07.2017 nicht gewesen, so würde sich vor dieser Türe jetzt nicht eine falsche Maggie May wiederfinden, die jetzt gleich nach Hinweisen in der Wohnung dahinter suchen würde, die vielleicht erklären könnten, wer gerade drauf und dran war, ihr die Illusion dieses Lebens zu nehmen, das sie so unbedingt weiterführen wollte. Das sie so unbedingt weiterführen musste. Für die echte Maggie May.

Nach einmaligem Klacken im Zylinder des Schlosses öffnete sich die Tür und das Zittern, das in den Gedanken im Treppenhaus ein wenig nachgelassen hatte, überrollte mit neugewonnener Kraft wieder den Körper der falschen Maggie und holte sie grob in die Realität zurück. Es muss jemand nach ihr in der Wohnung gewesen sein. Sie hatte das zweimalige Klicken beim letzten Verlassen so tief in ihrem Gedächtnis abgespeichert, dass sie sich sicher sein konnte. Hier war nochmal jemand da. Und es gab auch keinen vertrauten Geruch mehr, der sie hätte ein bisschen beruhigen können. Beim vorsichtigen Betreten der Wohnung stellte sie fest, dass nichts mehr übrig war von dem Duft, ihrem Duft, der sich stets sanft wie ein Schleier und zugleich doch so unglaublich intensiv in jeden Zentimeter dieser Wohnung zu schmiegen wusste. Der Duft, der auf sie eine so hypnotisierende Wirkung ausgeübt hatte. Der Duft, den sie seit jenem Tag so schmerzlich vermisste.

Stattdessen lag ein beissender Geruch in der Luft, der sie sofort in den 23. Juli 2017 versetzte und nun drohte, die neue Maggie komplett aus der Bahn zu werfen. Sie stütze sich an der dunkelbraunen Echtholzkommode ab und schnappte nach Luft. Sie musste erneut einen sich anbahnenden Brechreiz unterdrücken. Jetzt durfte sie nicht schwach werden. Und auch ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlug, versuchte sie zu ignorieren, als sie ein weiteres Zeichen erkannte. Die Wohnzimmertüre stand einen Spalt weit offen. Maggie wusste genau, dass sie diese Tür beim letzten Verlassen hinter sich geschlossen hatte. Sie schob sie ein Stück weiter auf und blickte vorsichtig hinein. Diesmal waren es keine leeren, starrenden Augen eines Mädchens, das offenbar den Kampf gegen sich selbst nicht hatte gewinnen können. Und sie, die neue Maggie, konnte auch dieses mal nichts tun, um sie zu retten. Sie blickte einfach nur in ein Zimmer. Ein stilvoll-reduziert eingerichtetes Wohnzimmer, das dennoch so leer wirkte. Aber es fehlte nichts. Nichts außer der blutgetränkte cremefarbene Teppich, den sie entsorgt hatte. Und natürlich Maggie. Aber die fehlte immer. Und überall. Sie blickte sich vorsichtig und auf wackligen Beinen um. Bis auf die angelehnte Tür hatte sich nichts verändert. Vor allem eines nicht. Auf dem Tisch vor dem Fenster, das den Blick umrandet von den grünen Gardinen mit den goldenen Schlaufen auf die beiden Kirschbäume freigab, stand der Bilderrahmen. Der leere Bilderrahmen, der bis zum 23.07.2017 die Aufgabe hatte, ein ganz besonderes Bild zu präsentieren. Die einzige Fotografie, die sie beide zeigte. Und gleichzeitig die einzige Fotografie, die sie von ihr kannte. Und die sie so liebte. Das Bild, das sie seit dem Todestag nicht mehr gesehen hatte und sehen konnte. Deshalb hatte sie es damals aus dem Rahmen genommen, nachdem sie die tote Maggie gewaschen und gestylt hatte, und in der Kommode, dem einzigen Möbelstück, das die echte Maggie von einer schwedischen Möbelhauskette besessen hatte, verstaut. Oft hatte sie in den knapp drei Jahren beim Ausleeren des Briefkastens überlegt, einfach mal nach oben zu gehen und das Bild mitzunehmen. Oder doch wenigstens mal einen Blick drauf zu werfen. Aber sie wollte immer auf den richtigen Zeitpunkt warten, als ob es diesen wirklich geben würde. Aber heute gab es keine Zeit, diesen vermeintlichen Augenblick abzuwarten. Vielleicht war es auch jetzt genau dieser Moment.

Sie ging quer durch das Wohnzimmer, am Tisch mit dem leeren Rahmen vorbei, zur Kommode und öffnete ohne Zögern die Schublade. Die Schublade, in der die echte Maggie May stets nur ihre schicke, schwarze und unverschämt teure Flap-Bag von keiner geringeren Brand als Chanel aufbewahrt hatte. Die Tasche, die sie so selten ausgetragen hatte und die Frederik nur ein einziges mal an ihr gesehen hatte. Am Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Die Tasche, die am 23.07.2017 ihren Platz für das Bild freigab, da Frederik das Accessoire als Andenken an sich genommen und das Bild, um des nicht länger ansehen zu müssen, dafür in der Schublade abgelegt hatte.

Wieder in den aufwühlenden Gedanken an jene Nacht verloren griff die neue Maggie in die geöffnete Schublade und nahm das Stück Papier im Eifer ihres Tatendrangs heraus. Doch diese mobilisierten Kräfte verflogen innerhalb eines Augenblicks, in dem sie erkannte, dass dieses Stück Papier nicht die gewohnte Stärke eines gedruckten Fotos aufwies. Und auch nicht die Größe. Und die Hoffnung, Maggie könnte dem oder der Unbekannten zuvor kommen, erlosch jäh in jenem Bruchteil einer Sekunde, als sie die Botschaft auf dem Zettel, der offensichtlich gegen das Bild eingetauscht worden war, mit zitternden Lippen, Händen und Beinen las: Lass’ uns dort, wo alles begann, einen Wein trinken.

 

 

KAPITEL 4 – VOR VIELEN JAHREN

IHR SCHICKSAL

Schon als er die Tür nur einen winzigen Spalt geöffnet hatte, stieg ihm die eher widersprüchliche aber doch vertraute Mischung aus kaltem, abgestandenem Rauch und dem süßen Duft nach weißen Jasminblütenblättern und Zedernholz in die Nase. Frederik wusste genau, welches Bild ihn erwarten würde. Es war ein Samstagabend und seine Mutter Helene Zeus saß, wie so oft an einem solchen, auf dem dunkelgrünen Chesterfieldsofa aus Samt im Klavierzimmer. Die Zeiten, die sie einst direkt vor dem sündhaft teuren Flügel verbracht hatte, wurden mittlerweile mehr und mehr abgelöst von den scheinbar endlosen Stunden, die sie schweigend auf dem Sofa saß. Mit einer Flasche Rotwein und einer Schachtel Marlboro Gold. Der Aschenbecher hatte auch heute bereits wieder eine beachtliche Anzahl an Stumpen aufgenommen. Anders als früher, als Frederik noch klein war und sie ihm noch oft etwas auf dem Klavier vorgespielt hatte, anstelle gedankenverloren vor sich hin zu starren. Frederik hatte nicht dieselbe Begabung für dieses Instrument wie sie, das hatten beide schnell eingesehen und akzeptiert. Er konnte es spielen, ja. Aber er konnte damit niemanden in den Bann ziehen. Anders, deutlich anders, als seine Mutter. Er liebte es so sehr, ihr zuzuhören. Sein Vater Jakob Zeus hatte natürlich nie verstanden, was an so einem überteuerten Staubfänger, wie er den Flügel stets nannte, so faszinierend sein sollte. Wenn er sich mal von Frederik hatte überreden lassen, ein Stück seiner Mutter anzuhören, so verbrachte er die meiste Zeit währenddessen damit, wild und genervt auf seinem Laptop herum zu tippen oder einfach nur gestresst umher zu sehen, bis es dann endlich wieder vorbei war und er mit einem kurzen, emotionslosen Klatschen seine Anerkennung vortäuschen und schnell wieder in das Arbeitszimmer verschwinden konnte. Dass genau so ein Verhalten seine Mutter nicht verdient hatte, wurde Frederik mit jedem weiteren Jahr, das er in der teueren Vorstadtvilla mit seinen Eltern verbrachte, deutlicher. Es entging ihm nicht, wie sie immer weniger Zeit mit ihrer geliebten Musik verbrachte und gleichzeitig der Wein- und Zigarettenkonsum mindestens genauso stetig anstieg. Allerdings nur, wenn der Vater auf Geschäftsreise war. Er mochte es ganz und gar nicht, wenn sie trank oder rauchte, denn das sei nichts, was einer Frau gut zu Gesicht stünde. Generell behielt er sich das Recht vor, zu entscheiden was seine Frau tun oder lassen sollte.

Er war sehr viel auf Geschäftsreisen als erfolgreicher Unternehmer in der Immobilienbranche. Und es stand auch nicht zur Debatte, ob das zu viel sei. Schließlich war er es, der das große Haus in der besten Gegend der Stadt bezahlte. So wie so viele andere Luxusartikel, über deren Schönheit man sich sicherlich hätte streiten können. Das war der Mehrwert, den er einbrachte. Da hatten Gefühle und Liebe für seine Familie nicht mehr viel Platz. Und auch das stand nicht zur Debatte. Was wolle man denn mehr, wenn ein erfolgreicher Geschäftsmann soviel Geld nach Hause brächte. Jemand, der es seit jeher gewohnt war, dass alle auf seine Befehle hören. Jemand, der es gewohnt war, dass der Mann die Ansagen macht und niemand Widerrede leistete. Jemand, für den Frauen schön aussehen mussten und ihre Pflichten in Haushalt oder im Sekretariat zu erfüllen hatten. Und damit doch bestens versorgt seien, vor allem wenn ein Mann wie er soviel Geld und so viel vermeintlich außerordentliche Geschenke mit nach Hause brachte. Diese Einstellung manifestierte sich auch in seinem Äußeren und seinem selbstbewussten Auftreten. Ruhig und beherrschend, doch laut, wenn es nicht gleich so lief, wie er es sich vorstellte. Er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Das wagte in seiner Firma von den rund 80 Mitarbeitern niemand. Und auch zuhause hielten sich Frederik und seine Mutter daran. Oder sie hatten sich einfach daran gewöhnt, dem eins neunzig groß gewachsenen, schlanken Mann mit den maßgeschneiderten Anzügen, dem grau-melierten Haar mit stets perfekt gestutztem Bart und scharfsinnigen, fast stechenden blauen Augen nicht zu kontern. Er war eine respektvolle Erscheinung, das wusste er. Und seine Eitelkeit ließ auch keine andere Meinung zu.

Und so saß seine Mutter immer dann, wenn der Vater geschäftlich wieder irgendwo hin gereist war, nicht an sondern gegenüber ihrem geliebten Klavier, rauchte und versuchte, ihren Wein zu genießen. Wohin seine unzähligen, so wichtigen Reisen gingen, wusste sie so gut wie nie. Sie hatte es aufgegeben, danach zu fragen. Sich an seiner Welt zu beteiligen. Dazu hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Vielleicht noch am Anfang, als sie sein schmückendes Beiwerk auf Firmenfeiern oder großen Eröffnungen war. Hübsch, leise. Austauschbar. Frederik wusste mittlerweile mit achtzehn Jahren, was diese Frau aufgegeben hatte. Und es tat ihm zunehmend leid. Und er wusste, wäre er eine Frau, dann würde auch er das ein oder andere mal zu einem Glas Wein oder sogar einer Zigarette greifen wollen. Und es würde keinen Mann in seinem Leben geben dürfen, der ihm dies verbieten könnte. Es würde niemanden geben dürfen wie seinen Vater, der über sein Schicksal entscheiden wollte. Es blieb so auch ein Geheimnis zwischen ihm und seiner Mutter, wie sie sich in der Abwesenheit des Patriarchen die Zeit einsam und verloren vertrieb.

Frederik lehnte sich in den Türrahmen. „Na, Mama?“, begrüßte er sie mit einem warmen Lächeln. Und sie lächelte sanft zurück. Neben dem großzügig mit Rotwein gefüllten Glas stand noch ein leeres. Sie deutete darauf. „Ich hatte gehofft, dass du noch einen Moment Zeit für mich hast heute.“ Und das hoffte sie eigentlich an jedem ihrer vielen einsamen Abende. Frederik war mit seinen achtzehn Jahren gerade einmal vorsichtig in den Genuss des Nachtlebens gekommen und dennoch stets bemüht, vor Mitternacht zuhause zu sein, wenn er wusste, dass der Vater unterwegs war. Um genauso von seiner Mutter begrüßt zu werden. Also setzte er sich auch heute neben sie, während sie ihm einen ordentlichen Schluck einschenkte und ihm das Glas reichte, damit sie anstoßen konnten. Auf was auch immer. „Mama, willst du mir denn heute nicht endlich mal wieder etwas vorspielen?“, sprach Frederik direkt über seinen innigsten Wunsch, auch wenn er wusste, dass es wohl wieder vergebens war. Und wie zu erwarten nahm sie einen weiteren Schluck und schüttelte traurig den Kopf. „Nicht heute, Freddy. Mir ist nicht danach. Tut mir leid, mein Schatz.“ Er hatte sich an diese Antwort gewöhnt. Aber sie gefiel ihm immer weniger. Auch wenn seine Mutter nicht nur am Flügel eine gute Figur abgab. Auch mit dem Glas Wein in der Hand und einem melancholischen Gesichtsausdruck war sie immer noch eine schöne Frau.  Eine unglaublich wunderschöne Frau. So schön, dass er sich wieder fragte, was sie in einem anderen Leben wohl heute sein würde. Wie sie die Welt um sich beherrschen würde mit all ihren Talenten und ihrem Geist. Und er fragte sich, ob er auch so schön wäre, würde er eine Frau sein. Wäre nicht heute vielleicht ein guter Tag, um es ihr zu sagen? Diese Frage quälte ihn schon so oft. Immer mit dem gleichen Rückzieher aus Angst: heute nicht. Egal wie laut die Stimmen in seinem Kopf mittlerweile geworden waren. Frederik hatte schon früh begriffen, dass er auf eine ganz eigene Art fasziniert war von Frauen. Ganz anders wie seine Kumpels. Schon als Kind hatte er immer ein Auge für selbstbewusste, elegante Frauen, die neben ihrer Schönheit noch soviel mehr in sich trugen. Er musterte stets alle Details ihrer Outfits und verband damit ihre potentiellen Statements an die Außenwelt. Manchmal blieb er ewig mit seinen Blicken gedankenversunken auf wildfremden Frauen und untersuchte jedes Detail ihres Make-Ups. Und viel wichtiger: er versuchte zu ergründen, was sich hinter deren dezenten Make-Ups verbergen mochte. Ein vielleicht unschuldiges Lächeln, das neben all der Schönheit auch soviel Stärke zum Ausdruck brachte. Und Frederik wollte das auch. Genau das. Immer spätestens dann, wenn er diesen penetranten Geistern Einlass in sein Gedankenkarussell gewährte, musste er sich genau das eingestehen: er wollte das auch. Und er wollte nicht der Frederik sein, der er war. Er wollte kein Mann sein wie sein Vater. Wie so viele Männer da draußen, die sich über Frauen stellen und sie unterdrücken, um eigene Schwächen zu kompensieren oder ihre Eitelkeit damit zu fütterten. Obwohl seine Mutter eine solch starke Frau in einem früheren Leben gewesen sein musste, hatte sie aber all das zugelassen. Sie hatte es seinem Vater scheinbar bedingungslos erlaubt, ihr jeden Tropfen Inspiration auszusaugen. Und all das nur, um ihm ein gutes Gefühl zu geben? Ohne eine so starke Frau wäre er niemand. Das wusste Frederik, aber wusste das auch sein Vater?  Für diese nicht vorhandene Empathie wollte er ihn hassen. Und er wollte schon rein aus diesem Grund nicht in seine unerreichbaren Fußstapfen treten, was dem Vater nicht gefiel. Er wollte aus diesem Grund viel lieber eine Frau sein. Nicht irgendeine Frau. Sondern eine Frau, die Männern wie ihm die Stirn bieten kann. Die inspiriert und motiviert. Und die eines Tages, wenn sie endlich stark genug war, ihrer Mutter zeigte, welches Potential doch auch eigentlich in ihr steckte.

Frederik beugte sich vor zu den Orchideen auf dem Beistelltisch. Nein. Heute war noch nicht der richtige Tag, um seiner Mutter zu erzählen, was er fühlte und wer er wirklich sein wollte. Aber der Tag würde kommen. Und dann würde er alles dafür tun, um sie zu retten.

KAPITEL 5 – HEUTE

IHR GRAB

Den süß-modrigen Duft nach Erde und Tannennadeln im Wald hatte sie niemals wirklich wahrgenommen, so hypnotisiert war sie stets von dem einzigartigen Duft Maggies. Der Maggie, zu der sie nun selbst geworden war. Die Bank an dem Ort, wo sie so viele Stunden gemeinsam verbracht hatten und wo er damals noch als Frederik sie vor knapp drei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, bevor sie Schaufel um Schaufel mit Walderde mehr und mehr aus seinem Blickfeld verschwunden war. Für immer.

Es sah alles noch aus wie vor knapp drei Jahren. Es hörte und fühlte sich auch noch genauso an. Nur hatte der Wald um ihn herum nicht mehr Maggies Duft, den dieser immer angenommen hatte, wenn sie in der Nähe war. Hätte also nicht sie, die nun heute Maggie war, diesen Duft mit an diesen Ort bringen müssen? Und ihn, wie ihr Vorbild, sanft und unaufdringlich, aber genauso prägnant, wie ein seidenes Tuch um ihren Platz schmiegen sollen? Um ihr Grab? So, wie es eben die echte Maggie May getan hätte? Neben all dem Unwohlsein, dass sie heute, seit sie das geheimnisvolle Smartphone in ihrem Lieblingscafé gefunden hatte, in allen Körperteilen spürte, hatte sie jetzt erstmals einen flüchtigen Gedanken, der sich wie ein zusätzlicher Stein auf ihre zierlichen Schultern setzte. Würde sie denn überhaupt jemals nur annähernd gut genug sein, um tatsächlich den Platz der Maggie May gebührend einnehmen zu können? Könne sie dieser Aufgabe nur ansatzweise gerecht werden? Sie schüttelte sich, in der Hoffnung, so auch diesen furchtbaren Gedanken wieder loszuwerden. Dafür war jetzt auch keine Zeit. Jemand war gerade in diesem Moment sehr wahrscheinlich auf ihren Fersen. Und dieser Jemand kannte obendrein auch noch ihr Geheimnis. Und er oder sie kannte es nicht nur, sondern war auch im Begriff, diese Scheinwelt zu zerstören. Das Werk zu vernichten, das für die neue Maggie doch so wichtig war und das es galt, zu Ende zu bringen. Sie konnte nicht zulassen, dass dieses so bedeutsame Leben ein zweites Mal viel zu schnell beendet werden würde.

Sie konnte nicht erkennen, warum diese unbekannte Person sie an diesen Ort geführt hat. Vielleicht hatte sie mit ihrem Gedanken recht, durch den vielleicht nicht geplanten Fund des Handys einen Schritt voraus zu sein und es war noch nichts vom Verfolger vorbereitet worden. Hier am Waldrand, an dem Platz, den eigentlich nur die alte und die neue Maggie kannten. Am Ende wusste sie nicht, ob das Telefon nun absichtlich oder unabsichtlich genau an ihrem angestammten Sitzplatz liegen gelassen wurde. Und sie hoffte immer noch, dass zweites der Fall war. Dann, und nur dann, hätte sie vielleicht eine Chance. Sie sah sich erneut um. Sie hatte keine Ahnung, wonach sie hier suchen sollte. Es war alles wie immer. Und es war kein böser Traum. Dafür war der sanfte Wind, der sich durch die Bäume am Waldrand bis in ihr Gesicht verirrte, viel zu real. Keine Menschenseele in der Nähe. Nur die Bank, die Bäume und der Wind. Und Maggie, knapp zwei Meter unter dem Waldboden.

Sie untersuchte die alte Bank. Vielleicht hatte der oder die Unbekannte hier einen Hinweis hinterlassen. Aber keine Spur. Es waren gemischte Gefühle zwischen trügerischer Erleichterung und Resignation, mit denen sie sich auf die Bank fallen ließ. Auf die Bank, auf der sie nie alleine gesessen war, sondern mit ihr. Sie ließ einen Moment lang die Stille auf sich wirken. „Was soll ich nur tun, Maggie?“, flüsterte sie leise und bekam natürlich keine Antwort. Aber sollte eine Maggie May, oder eine gebührende Stellvertreterin, nicht immer wissen, was zu tun ist? Noch mehr Zeit verlieren durfte sie nicht, um den vermeintlichen Vorsprung nicht herzuschenken. Sie musste schnell weiter. Irgendwohin, wo sie weiter nach möglichen Hinweisen suchen könnte. Wenn sie dieses Leben oder vielmehr die Illusion davon weiter wahren wollte, musste etwas passieren. Jetzt.

Maggie stand mit dieser neu gewonnenen Entschlossenheit auf und ging ein paar wenige Schritte weg von der Bank in Richtung Waldrand zu ihrem Auto. Dann blieb sie nochmal kurz stehen und drehte ihren Kopf zurück zu den Gräsern und Sträuchern hinter der Bank, unter denen die Frau lag, die eigentlich dazu bestimmt gewesen war, die Welt aufblühen zu lassen anstelle von ein paar Sträuchern in einem verlassenen Waldstück. Und selbst hier hatte sie ihren Zauber nicht gänzlich verloren. Sie beflügelte dort, wo sie war, alles mit ihrer blühenden Lebendigkeit. Egal ob Mitmenschen oder Sträucher. Egal ob lebendig. Oder tot. Sie hatte etwas, das man wohl nicht kopieren konnte – egal wie sehr man sich auch anstrengen würde oder egal wie sehr man sich annähern würde.

Maggie starrte in ihre Gedanken versunken auf die Sträucher. Schließlich zwang sie sich, sich doch endlich abzuwenden und keine weitere Zeit zu verlieren. Doch im letzten Moment ihrer Kopfbewegung zurück nahm sie in ihrem Augenwinkel etwas wahr, das doch überhaupt nicht in dieses bekannte Bild passen wollte. Wie hatte sie das die letzten Minuten übersehen können? Wie hatte sie das all die Jahre übersehen können? Oder seit wann wuchsen so prächtige Orchideen mitten im Wildwuchs eines Waldes? Sie erstarrte. Diese Blumen gehören nicht hier hin. Mit bebenden Lippen zwang sich Maggie, sich aus ihrer Starre zu lösen und vorsichtig dem grün-braunen Geflecht aus Waldsträuchern und Gräsern zu nähern, das tatsächlich vereinzelt rote Farbhighlights von Blumen verliehen bekam. Sie griff nach einigen von ihnen und ihr Herz stockte. Es war kein Zweifel. Hier waren Orchideen. Aber sie hatte keine Wildblume in der Hand, sondern einen Strauß von Schnittblumen. Frisch geschnittenen Schnittblumen. Solche, die so oft frisch und duftend Maggies Wohnung dekorierten. Und solche, wie sie sie selbst immer in einer klassischen Porzellanvase in ihrer Wohnung bis heute hat. Weil sie es so von ihrer Mutter kannte, die selbst stets frische und farbintensive Orchideen auf dem Küchentisch aufgestellt hatte. Denn die Mutter liebte diese Blumen, die sie im Garten der Oma zusammen mit Frederik oft pflegte und immer wieder mit nach Hause brachte. Sie waren außer Frederik oft das einzige, das ihr noch ein echtes Lächeln ins Gesicht zaubern konnten.

Der Versuch sich einzureden, dass das ein Zufall sei, misslang ihr. War das der nächste Hinweis des oder der Unbekannten? Diese Orchideen waren bewusst platziert. Das stand außer Frage. Doch worin bestand der Zusammenhang? Maggies Wohnung und dieser Platz im Wald waren die einzigen, die mit der echten Maggie in Verbindung gebracht werden konnten. Aber warum um Himmels Willen sollte jetzt seine eigene Familie ins Spiel gebracht werden? Die neue Maggie hatte doch nie von ihrer Familie gesprochen? Sie hatte sie auch so gut wie nie an ihrem neuen Leben teilhaben lassen. Weder die Mutter und schon gar nicht die Oma? Welches grausame Spiel spielte man mit ihr?

 

 

KAPITEL 6 – VOR WENIGEN JAHREN

IHR BILD

Nachdem Frederik mit zwanzig Jahren beschlossen hatte, zum Studieren in eine andere Stadt zu ziehen, hatte er auch irgendwie den Draht zu seiner Familie verloren. Nicht, dass jemals ein besonderer Draht zu seinem Vater bestanden hätte. Der seidene Faden, an dem deren Beziehung gehangen hatte, war bereits über die Jahre mehr und mehr abgerissen, je klarer Frederik wurde, wer er sein wollte. Und vor allem, dass er auf keinen Fall sein wollte wie er. Sein Vater. Leider hatte er durch diese Abnabelung auch immer seltener bei seiner Mutter angerufen. Es hatte nie wirklich aufgehört, weh zu tun, sich kaum bis gar nicht zu melden, aber er hatte in seinem neuen Leben erstmal eine wichtige Sache mit sich selbst auszumachen. Das dachte er zumindest solange, bis er in dieser einen besonderen Nacht dieses ganz besondere Mädchen hinter der Bar kennenlernte. Maggie May. Seine Sparringspartnerin. Es schien mit der Zeit fast so, als hätte er vergessen, dass es ein Leben vor ihr gegeben hatte. Nicht zuletzt, weil ihm dieses alte Leben nicht so viel wert war wie dieses, mit dieser wundervollen Frau, die er, und das wurde ihm immer schmerzlicher bewusst, nicht so lieben konnte, wie sie es verdient gehabt hätte. Und es doch so aufrichtig und ehrlich tat, wie es ihm nur möglich war. Am liebten hätte er der ganzen Welt von ihr erzählt. Davon, wie sie plötzlich und ohne jede Vorwarnung in sein Leben geschlichen war und alles, wirklich alles so viel bunter, duftender und schöner wirken ließ. Wie sie so bedingungslos an seiner Seite war. Wie sie alles in ihm aktivierte. Ohne Eigennutz, sondern um ihm zu helfen, endlich zu werden, wonach er sich doch schon so lange so sehr sehnte.

Doch er konnte nicht. Zumindest nicht der ganzen Welt. Das wäre vermutlich nichts gewesen, das sie gewollt hätte. Ganz im Gegenteil. Ihre Verbindung war so tief und so anders. Nichts, das man überhaupt hätte in Worte fassen können, selbst wenn man es wollte. Also versuchte er es gar nicht erst und behielt es stets allein für sich. Bis zu dem Tag, an dem das täglich wachsende Bedürfnis, seine Mutter wieder in den Arm zu nehmen, so groß geworden war, dass er sie anrief. Und schon bei der Ankündigung seines Besuchs konnte seine Mutter die Freudentränen nicht zurückhalten. Genau wie sie, spürte auch Frederik in seinem ganzen Körper diese Vorfreude, endlich seine Mutter wieder in die Arme schließen zu können. Dieses Gefühl warf in ihm die Frage auf, wie er es überhaupt hatte solange aushalten können, sie nicht zu sehen? Leise Vorwürfe machten sich wieder etwas breiter, als er schließlich das Elternhaus aufgesucht hatte. Sein Vater war, wie von der Mutter angekündigt, nicht da und so unterhielten sie sich stundenlang. Kurzzeitig dachte Frederik auch darüber nach, ob es denn der richtige Zeitpunkt wäre, ihr zu sagen, dass er nicht mehr der Frederik sein wolle und auch werde. Doch er war noch nicht mutig genug. Nicht jetzt, wo er die traurigen Augen seiner Mutter wieder ein bisschen mit Leben füllen konnte. Aber er wollte ihr wenigsten von ihr, diesem Wahnsinns-Mädchen erzählen. Von Maggie May. Dafür hatte er sogar ein Foto mitgebracht. Das einzige Bild, das es von ihr und ihm gab. Und zudem das einzige Foto, das er überhaupt von ihr kannte. Stolz zeigte er es seiner Mutter, wich aber der unvermeidbaren Frage, ob sie ein Paar seien, gekonnt aus. Er hätte nicht erklären können, wer und was Maggie für ihn war, und so ließ er sie mit einem verlegenen Lächeln ihre eigenen Schlüsse ziehen. Er würde es ihr schon mal eines Tages erklären. Zusammen mit allem anderen in seinem Kopf. Und dann würde auch alles einen Sinn für sie ergeben.

„Sie ist ein bildhübsches Mädchen.“ Seine Mutter hielt das Foto in der Hand. Oh ja, das war sie. Und sie war noch so vieles mehr. Würde er doch nur die passenden Worte für ihr Wesen und die Verbindung, die er zu seiner Mutter erkannte, finden. „Das Bild entstand bei einer Karnevalsfeier vor vier Monaten. Ich habe mich als Frau verkleidet.. Sie war eine Femme Fatale mit ihrer Barock-Maske und dem schwarzen Kleid“, beschrieb er den Hintergrund des Fotos. Seine Mutter lächelte ehrlich und wollte zu ihrer Antwort ansetzen, als beide jäh aus ihrer Gedankenwelt gerissen wurden. Jakob Zeus, der Vater, stand in der Tür.

Er hob die Augenbrauen ungläubig an und ließ niemanden seine Überraschung anmerken. „Frederik“, sagte er spöttisch. „Der feine Herr lässt sich also auch mal wieder hier blicken? Brauchst wohl Geld?“ „Jakob, bitte.“, versuchte seine Mutter der Spannung im Raum entgegen zu wirken. Er ließ sich nicht beirren und ging ein paar Schritte auf die beiden zu. Dabei warf er der Mutter einen missbilligenden Blick zu, bevor er schließlich auf das Bild, das die beiden noch immer vor sich hatten, blickte. „Sieh mal an, auch mal eine Freundin gefunden?“, spöttete er erneut und drehte den beiden mit einem zynischen Grinsen den Rücken zu. Die Mutter verdrehte die Augen. Aber sie sagte nichts. So wie sie nie etwas gesagt hatte und doch so oft guten Grund dazu gehabt hätte. Aber das machte heute nichts, denn Frederiks Entschluss stand bereits fest. Er würde sie eines Tag retten. Irgendwann. Und dann hätte sie nie mehr Grund, die Augen zu verdrehen. Schon gar nicht heimlich.

Sein Vater hatte es aber auch dieses mal wie immer geschafft, den Raum, den er betreten hatte, ein paar Grad kälter werden zu lassen. Keine schöne Eigenschaft, aber eine, die ihm soviel Respekt verschaffte und die er mit Bravour auszuüben wusste. Und noch bevor Frederik selbst etwas darauf sagen konnte, was er dieses mal doch wirklich wollte, war der Vater auch schon ohne jegliche Verabschiedung verschwunden. „Mach dir keine Gedanken, Frederik.“, lächelte sie gezwungen, um ihren Sohn zu beruhigen. Doch das war gar nicht nötig. „Schon okay, Mama.“, antwortete er ihr so entschlossen wie möglich. Schon okay. Und eines Tages wird es auch für dich okay sein, Mama. Die Kühle, die der Vater im Raum hinterlassen hatte, blieb stehen. Beide konnten die angenehm-warme Atmosphäre, die sie sich in den letzten paar Stunden aufgebaut hatten, nicht wieder herstellen. Und so ergriff die Mutter die Initiative. Eine, die sie schon oft ergriffen hatte in seiner Kindheit und Jugend, wenn beide nicht weiter wussten. „Hey, hast du Lust, Oma mit mir zu besuchen? Ich habe ihr versprochen, heute noch bei ihr und ihrem Garten vorbeizuschauen. Wir haben erst vor kurzem das Blumenbeet umgegraben. Vielleicht möchtest du ja ein paar Orchideen mit nach Hause nehmen?“, regte sie an und zwinkerte dazu. „Für deine Freundin?“ Ihr Strahlen, das einsetzte, als Frederik kurzentschlossen nickte, ging bis in sein Innerstes. Wann hast du das letzte mal so gestrahlt, Mama? Er fühlte sich schlecht, nicht für sie da und so sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein.

 

 

 

KAPITEL 7 – HEUTE

IHR GARTEN

Sie hatte sich lange nicht mehr bei ihrer Oma blicken lassen. Und nun stand sie vor ihrem Gartenzaun, von wo aus sie das Blumenbeet sehen konnte, weil ein Unbekannter ihr den Hinweis gegeben hatte, den sie während ihrer Fahrt vom Wald hierher nicht aus den Händen nahm. Ein Strauß Orchideen. So wie sie sie hier immer mit ihrer Mutter frisch geschnitten hatte, um sie zuhause oder bei der Oma in Vasen zu geben. Auch wenn sie nicht verstand, was das alles miteinander zu tun haben sollte, so bestand auch kein Zweifel mehr, das nichts in den letzten Stunden Zufall sein konnte.

Die neue Maggie hatte Angst. Wie würde sie ihrer Oma gegenübertreten, nachdem sie doch so lange nichts von sich hat hören lassen. Sie hatte mittlerweile auch erste Anzeichen von Demenz und kein großes Verständnis für die Entscheidung ihres Enkels Frederik. Bei ihrem letzten Kurzbesuch vor einigen Monaten nannte die Oma sie auch Frederik, obwohl sie nicht mehr aussah wie jemand, der so heißen könnte. Sie sah doch mittlerweile aus wie die echte Maggie. Die, die die Welt erobern musste. Sie wusste nicht, wie sie sich erklären sollte und hätte doch auch noch etwas Zeit gebraucht. Jetzt wo sie gerade erst so richtig im Leben der neuen Maggie May angekommen war. Auch wenn sie sie dann wieder öfters hätte besuchen und Zeit in dem geliebten Garten mit Mutter und Oma verbringen können. Sie spürte, wie die sowieso schon hohe Anspannung in ihr noch weiter anstieg. Auch heute würde es ihr nicht leicht fallen, mit ihrer Oma ins Gespräch zu gehen. Aber darüber jetzt nachzudenken war falsch. Sie musste handeln.

Sie fand sich im Garten wieder. Die Schnittblumen in ihrer zitternden linken Hand. Normalerweise hatte sie den Anblick des gepflegten Grüns immer sehr genossen. Aber das war heute nicht möglich. Aus Sorge, was hier gerade um sie herum passierte. Es ging ihr mittlerweile nicht mehr nur um sie selbst und den Gedanken, die Illusion von Maggie May aufgeben zu müssen. Es ging jetzt auch um ihre Familie. Was hatte sie getan, dass diese mit in die Sache hineingezogen wurde? Vor wenigen Stunden, als sie das Penthouse ihres One-Night-Stands verlassen hatte, war sie so entschlossen wie nie darüber, wer sie sein wollte. Und jetzt stellte sie alles in Frage. Und sie redete sich krampfhaft ein, dass sie gleich in die Wohnung ihrer Großmutter gehen würde, um sie dort so gesund wie sie eben sein konnte vorzufinden und festzustellen, dass sie sich in den Hinweisen im Wald getäuscht hatte. Ihre erzwungenen positiven Gedanken fanden jedoch ein jähes Ende, als sie sich kurzentschlossen dem Haus zuwandte und erschrocken die Luft anhielt. Sie wich einen Schritt zurück. Die Kellertür, die zum Garten führte, stand sperrangelweit offen. Die Tür, die immer abgeschlossen sein musste und wofür auch jeder stets penibel Sorge trug, der Zugang zum Haus der Oma hatte. Denn ihr konnte man dies schon länger nicht mehr zutrauen, da sie schon seit längerer Zeit einfach zu viel vergaß und diesen Ausgang auch nicht mehr alleine benutzen konnte. Sie hatte für diese Türe nicht mal mehr einen Schlüssel, sofern sich Maggie richtig erinnerte.

Ihr schossen tausend Bilder in den Kopf und die Übelkeit, mit der sie nun schon einige Stunden zu kämpfen hatte, ergriff ihren Körper mit neu gewonnener Kraft. Was würde sie vorfinden, wenn sie nun das Haus betreten und die Treppen in die Wohnung hochlaufen würde? Zu was war dieser Unbekannte fähig? Gab es überhaupt noch einen Funken Hoffnung, dass alles wieder gut werden könnte? War eine Katastrophe nicht bereits unausweichlich? War die Katastrophe längst schon da? Maggie kämpfte gegen einen Fluchtinstinkt. Einfach ins Auto steigen und wegfahren. So weit wie möglich bis dahin, wo sie keiner mehr kennt. So wie es die echte Maggie einst zu ihr sagte. „Wenn du zu lange wo bist, dann kennen sie dich. Und sie finden dich.“ Was hatte sie damals damit gemeint? Hatte das alles mit ihrer Geschichte zu tun? Aber Flucht war keine Option. Sie hatte schon einmal eine Person, die wichtigste Person in ihrem Leben, im Stich gelassen. Auch wenn sie das nicht gewollt hatte. Das durfte kein zweites mal passieren. Sich selbst nicht retten zu können, war das eine. Aber vielleicht konnte sie ihre Familie schützen, also schlich sie zitternd aber dennoch fast lautlos die Treppen zur Wohnung ihrer Großmutter hoch.

„Oma?“, flüsterte sie so leise in die Stille des Hauses, dass sie es selbst kaum wahrnahm. Oben angekommen wagte sie sich in den Flur. Keine Geräusche, kein Ticken einer Uhr. Nichts. Sie machte ein paar weitere kleine, fast lautlose Schritte in Richtung Wohnzimmer. „Oma?“, versuchte sie es nochmals. Keine Reaktion. Sie fasste vorsichtig an die Türklinke der Wohnzimmertüre. Ihr Kopf hatte in wenigen Sekunden bereits alle Szenarien lebhaft durchgespielt, was sie nun auf der anderen Seite erwarten würde. Aber hatte sie noch eine Wahl? Sie hielt die Luft an und schob die Tür vorsichtig auf. Und sie atmete erst erleichtert ein, als sie ihre Oma auf einem der Stühle am Esstisch sitzen sah. Lebend. Aber ihre Oma registrierte ihr Enkelkind nicht. Denn sie starrte auf etwas, das sie vor sich in den Händen hielt. Ihre Haltung war wie versteinert, ihr Blick schien sich in etwas hineingebrannt zu haben. Maggie ging langsam auf sie zu. „Oma? Was hast du denn da?“ Keine Reaktion. „Ich bin’s, Frederik.“ Sie reagierte noch immer nicht und Maggie blieb auf der Suche nach dem Grund plötzlich stehen. Es war ein Bilderrahmen, der ihre Oma in den Bann gezogen hatte. Aber nicht irgendein Bilderrahmen, sondern genau jener, der doch vor wenigen Stunden noch auf dem Küchentisch der echten Maggie May gestanden hatte. Es gab keinen Zweifel. Die Großmutter hielt den Rahmen, den sie heute morgen noch auf dem Hintergrundbild des mysteriösen Smartphones und wenige Stunden später auf dem Küchentisch einer völlig anderen Wohnung gesehen hatte. Ohne Bild. Aber auf was starrte die Großmutter dann?

„Frederik.“, hörte Maggie endlich ihre Oma mit zittriger Stimme. Sie hatte nicht bemerkt, dass diese mittlerweile ihren Kopf gehoben hatte. Maggie wollte antworten, da wanderte der Blick ihrer Großmutter bereits wieder auf das, was auch immer vor ihr war. Maggie war nur knapp zwei Meter von ihr entfernt, aber konnte sich unter dem Eindruck dieser absurden Situation kaum bewegen. Ihre Oma starrte mit offenem Mund auf das vermeintliche Bild, hob wieder den Kopf und starrte genauso auf ihr Enkelkind. Maggie fühlte, wie ihr Herz begann, noch wilder zu pochen, und sich ihre Kehle vollends zuschnürte. Ihr Oma wiederholte dieses Schauspiel. Sie sagte nichts, sondern starrte. Auf das Bild. Dann wieder auf Maggie. Und wieder auf das Bild. Maggie mobilisierte ihre letzten Kräfte. Was hatte die alte Frau so in den Bann gezogen? Sie mühte sich unter Schweißausbrüchen Schritt um Schritt auf ihre Oma zu. Dorthin, wo es eine Antwort auf all die Fragen geben musste. Eine Antwort, die sie vielleicht gar nicht wissen wollte?

Entkräftet angekommen legte sie den Arm auf die Schulter der Großmutter und hielt ihre brennenden Augen geschlossen. Sie konzentrierte sich und öffnete sie schließlich mit all dem Mut, den sie noch hervorbringen konnte. Und sie blickte in keinen leeren Bilderrahmen. Sie blickte auf ein Foto, das drohte, ihr den letzten Funken Verstand und Kraft zu rauben. Es war das Foto. Das Foto, das sie vor wenigen Stunden noch verzweifelt gesucht hatte. Das einzige Foto, auf dem sie zu sehen war. Die echte Maggie May. Und jetzt blickte die neue Maggie, die eigentlich nichts weiter war als der verzweifelte Versuch einer billigen Kopie, in das wunderschöne Gesicht dieser einzigartigen Frau mit dem unverwechselbaren Lächeln. An dem Tag, an dem ein einziges mal wirklich alles gut zu sein schien.

„Oma“, Maggies Stimme bebte. „Wie… warum… woher hast du dieses Foto?“ Sie riss es ihr förmlich aus der Hand. „Oma? Woher?“, schluchzte sie. In ihre Panik mischte sich Trauer. Und Tränen mischten sich in das von Angst gezeichnete und entkräftete Gesicht. Doch ihre Oma brachte nichts als ein paar unverständliche Wortfetzen hervor und starrte weiter, in die Richtung, wo sie noch eben das Bild gehalten hatte, ins Leere. Noch nie hatte sich Maggie beziehungsweise Frederik so unwohl in der Gegenwart seiner mittlerweile an Demenz erkrankten Großmutter gefühlt, der das Sprechen zunehmend schwerer zu fallen schien. Das war ok, aber heute machte es ihr nur noch mehr Angst. Maggie brauchte Antworten. Antworten, die diesen Schrecken beenden konnten. Oder zumindest erklären. Ihre Oma stammelte ein paar weitere unverständliche Wörter, sofern es überhaupt welche waren und würdigte dabei ihr Enkelkind mit keinem Blick. Maggie ließ sich verzweifelt auf den Stuhl neben ihr fallen und wagte es keine Sekunde, den Blick vom Bild abzuwenden. Was hatte dieses Foto hier zu suchen? Was passiert hier? Und was soll mir dieses Bild sagen? Dieses Bild, das soviel Emotion in mir auslöst. Das Bild, das ich drei Jahre nicht mehr habe anschauen können? Das Foto, das diesen traurigen Trottel Frederik zeigt, der die Hilferufe der echten Maggie May nicht gehört hatte. Daneben sie. Maggie May höchstpersönlich. Das Bild war bei einer Karnevalsveranstaltung entstanden. Die einzige Veranstaltung, die sie beide gemeinsam je besucht hatten in ihrer zweisamen, geheimnisvollen Isolierung von der Außenwelt. Sonst hatten sie nachts nur ihre Wohnung verlassen, um an ihren geheimen Platz im Wald zu fahren. Und eben dieser eine Abend im Fasching, wo sie so losgelöst und glücklich waren. So normal und ohne Sorgen. So, wie sonst nie. Frederik war als Frau verkleidet, was irgendwie einleuchtend schien und doch kurios aus heutiger Sicht. Und Maggie trug ihre dunkelblonden Haare offen, dazu einen dunkelroten Lippenstift und Smokey Eyes, die sie fast die ganze Zeit hinter einer klassischen und sehr stilvollen Barockmaske versteckt hatte. Nicht aber auf diesem Foto. Dazu trug sie ein schwarzes kurzes Kleid und beige Pumps mit rotem Absatz, so rot wie ihre Lippen. Und natürlich stellte sie mit diesem Outfit Frederik, der es ihr hatte nachahmen wollen, deutlichst in den Schatten. Und doch strahlte er auf diesem Bild so, wie er sich selbst noch nie hatte strahlen sehen. In Frauenkleidern. Neben ihr. Und er wollte in seiner Euphorie ein Foto, auch wenn er wusste, dass es für Maggie nie eine Option war, sich ablichten zu lassen. Doch an diesem Tag ließ sie es zu. Und er wusste genau, dass sie das allein für ihn tat. Wie so vieles, das sie nur für ihn getan hatte.

Maggie hatte sich in den Gedanken an den Abend beim Betrachten des Bildes etwas beruhigen können. Sie strich vorsichtig mit ihrem Zeigefinger die Konturen von Maggie entlang und weitere, leise Tränen floßen über ihre Wange. Sie hatte das Bild nie vergessen. Und sie hatte sie nie vergessen. Doch beim Anblick dieser Frau wurde ihr nach nun fast drei Jahren doch wieder sehr deutlich, welche unglaubliche Ausstrahlung sie doch gehabt hatte. Und wie vermessen und unerreichbar es doch sei, sie kopieren zu wollen. Ihr Leben weiterführen zu wollen. Es war praktisch schier unmöglich, so sehr man es auch versuchte. Maggie konnte ihren Blick immer noch nicht abwenden und sie nahm die gestammelten Wortfetzen ihrer Oma nicht mehr wahr. Sondern sie sog jedes Detail, das das Foto visuell von der echten Maggie preisgab, in sich auf. Und so stieß sie auf eine Kleinigkeit, die sie weder damals noch bis eben je wahrgenommen hatte. „Zu einer klassischen Barockdame würde doch diese fürchterlich kitschige Kette passen, meinst du nicht Frederik?“, hörte die neue Maggie die echte Maggie wieder deutlich als wäre es heute. Mit diesen Worten hatte sie damals in ihrer Schmuckschatulle nach passenden Accessoires für ihr Kostüm gesucht und dieses Teil hervorgekramt, das sie sonst nie zur Schau getragen hatte.

Diese fürchterlich kitschige Kette mit dem wohl sündhaft teuren roten Rubin in einer üppig dimensionierten und verschnörkelten Einfassung, die an ihr aber doch plötzlich so schön aussah und strahlte. Es gab auf diesem Planeten wohl niemanden außer der echten Maggie, die diesen übertriebenen Klunker hätte so dezent strahlen lassen können. Niemanden. Nur sie. „Und… und meine Mutter.“, fuhr es der neuen Maggie durch Mark und Bein. Genau so eine Kette? Wie hatte sie das damals und bis heute nicht bemerken können? Genau diese Kette war es, die die Mutter einst als weiteres liebloses überteuertes Geschenk ihres treulosen und viel reisenden Mannes bekommen hatte und auf Nicht-Mehr-Wiedersehen in ihrem Schmuckkästchen neben all den anderen Symbolen einer unerfüllten Ehe verschwinden hat lassen. Ein weiteres Geschenk von einem Mann, der sie nur ruhig stellen wollte im Schatten seines Ruhms. Einem Mann, der nur sich selbst kannte und nicht fähig war, jemand anders wirklich glücklich zu machen. Jemand, der nur fähig zu sein schien, sich selbst glücklich zu machen. Auf Kosten anderer. Und für den Moment. Mit wem auch immer. Das wollte Maggie gar nicht wissen. Doch es war die Kette, die jetzt auf diesem Bild an Maggies Dekolleté strahlte. Konnte das möglich sein? Oder war das ein Zufall? Oder war sie gerade dabei, endgültig wahnsinnig zu werden? Doch irgendwie machten all diese Gedanken Sinn. Ein weiterer Hinweis. Einer, der all die Angst und Verzweiflung plötzlich in ungeheure Wut verwandelte. Wut auf einen Charakter, der schon soviel in ihrem Leben und dem ihrer geliebten Mutter angerichtet hatte. Sie merkte, wie sich ihre künstlichen frisch manikürten Fingernägel in den Bilderrahmen bohrten. Und sie spürte, wie diese plötzliche und kräftige Wut, die aus so viel Jahren Traurigkeit und Enttäuschung genährt wurde, alles in ihr aktivierte.

Wer der Unbekannte auch sein mochte und welche Absichten er auch immer verfolgte. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie interessierte sich nur noch für eine Frage. Was hat er ihr angetan? Was hat Jakob Zeus, ihr eigener Vater, der echten Maggie May angetan?

KAPTIEL 8 – VOR VIELEN JAHREN

IHRE KETTE

Es war mal wieder eines dieser Wochenenden, an denen Frederik bei seinen Eltern bleiben musste. Es stand eine der gefürchteten Zeus-Firmenfeiern an und natürlich war es Frederiks Pflicht, seinen Teil der unausgesprochenen Familie-Zeus-Verfassung, die allein vom Alleinherrscher verfasst worden war, zu erfüllen und mit seiner Anwesenheit den Schein der perfekten Familie zu wahren. Frederik Zeus. Der unscheinbare, aber soweit man wusste anständige Sohn von Jakob Zeus, dem Großunternehmer. Natürlich spielte er Klavier. Natürlich war er intelligent. Was aber niemand wusste. Er wäre viel lieber eine Frau gewesen. Die Tochter seiner Mutter. Helene Zeus. Ehefrau. Attraktiv. Fürsorglich. Der große Anker für den schwerschuftenden Mann. Immer leise. Viel zu leise. Was aber niemand wusste oder vielmehr sie niemals hätte zugeben können. Sie war todunglücklich. Schon seit sehr langer Zeit. Eingeengt in all ihrer Schaffenskraft neben ihm. Jakob Zeus. Sehr erfolgreicher Unternehmer. Stets charmant, so sollte man meinen. Gönner und Möglichmacher eines scheinbar perfekten und unbeschwerten Lebens für seine Familie. Was fast niemand und vor allem er selbst in seiner herangezogenen Eitelkeit nicht sah. Er war ein narzisstischer Chauvinist. Ein Patriarch. Ein Leader, der keine zweite Meinung gelten lassen konnte. Außer sie glich der seinen. Weder in der Firma und schon gar nicht zuhause.

Aber bei Firmenfeiern war es nicht angesagt, Wissenslücken der Beteiligten aufzuklären. Es ging nur um den Schein. Was hinter den Kulissen geschehen mochte, war nicht interessant und hätte die Stimmung nur versaut. Also Schauspiel. Wie schon immer und so oft. Und es war nur die Liebe zu seiner Mutter, warum Frederik mitspielte und zusammen mit ihr die Minuten zählte, bis sie solche Veranstaltungen wieder verlassen durften.

Frederik lag bereits fertig hergerichtet auf seinem Bett und starrte an die Decke. Hemd und Hose hätte er zu gern eingetauscht in ein solches Kleid, das seine Mutter sich für diesen Abend gekauft hatte. Er stellte sie sich kurz vor, wie sie heute aussehen würde, als er dumpf ihre Stimme wahrnahm. Sie musste schreien, wie sonst hätte er sie bis hier oben hören können. Er konzentrierte sich auf diese ungewohnte Situation. Auf eine Situation, in der Frederik einen Gefühlsausbruch seiner Mutter miterleben dufte. „Ich habe sie niemals aus meinem Schmuckkästchen genommen, Jakob“, schnaubte sie vor Wut. Der Adressat war sein Vater. „Du reagierst doch völlig über, Helene. Was soll ich bitte dafür können, wenn du deine dämliche Kette verlegst? Von welcher Kette sprechen wir denn überhaupt, ich hab dir doch schon so viele geschenkt?“ Jakob Zeus war bestimmt, aber trocken und emotionslos. „Die mit dem roten Rubin! Ich habe sie niemals aus der Schatulle genommen! Ich kann sie also nicht verlegt haben!“ Seine Mutter fauchte förmlich und Frederik konnte sich ein leises Grinsen nicht verkneifen, froh darüber, dass sie ihrem Mann endlich einmal die Stirn bieten würde. Doch diese Freude war trügerisch und erlosch im nächsten Moment. Ihre Stimme wurde plötzlich wieder sehr leise und er musste sich aufrichten, um noch verstehen zu können, was sie sagte. „Jakob, mach mir nichts vor. Ich kann mir gut vorstellen, wohin sich diese Kette verirrt hat.“ Sie wurde noch ruhiger und bedachter, doch Frederik war so angespannt, dass er sie auch über drei Stockwerke hätte verstehen können. „Aber es ist ok, Jakob. Ich würde dich nur bitten, deinen Liebschaften in Zukunft eigene Souvenirs zu kaufen und nicht die deiner eigenen Frau zu stehlen.“ Es herrschte einen Moment lang völlige Stille und Jakob hörte nur noch sein eigenes Herz laut und schnell schlagen. „Gut, dann hätten wir das“, fügte sie schließlich mit einem fast erleichtertem, fröhlichem Ton hinzu. „Wollen wir los?“

An diesem Abend hatte Frederik kein Wort mehr von beiden gehört. Weder auf der Fahrt, noch vor Ort oder auf dem Weg nach Hause. Nur die Ansprache seines Vaters an die Mitarbeiter und Gäste der Feier, aber die ging an ihm und seiner Mutter völlig vorbei. Sie waren in ihrer eigenen Welt und kurz trafen sich ihre Blicke quer über den runden, festlich  und nobel geschmückten Tisch. Sie lächelte ihren Sohn leise und traurig an. The show must go on, verstand Frederik und zwang sich ebenfalls zu einem kurzen Lächeln für seine Mutter. Nur für sie allein.

 

 

 

KAPITEL 9 – JETZT

IHRE RACHE

Maggie hatte ihre verwirrte Großmutter wortlos zurückgelassen. Der Bilderrahmen flog auf den Beifahrersitz ihres Mercedes’, direkt auf das fremde Smartphone und versetzte dem verdammten Device einen Riss im Display. Ihre Füße kämpften sich durch die wild im Fußraum verstreuten Orchideen zu den Pedalen. Sie zitterten bei jeder Betätigung von Gas- und Bremspedal noch stärker und ihre unkontrollierten Hände provozierten hastige Lenkmanöver. All das hielt sie aber nicht davon ab, viel zu schnell zu fahren. Die Überdosis an Adrenalin in ihrem Körper half ihr zwar nicht, sich auf die Straße konzentrieren zu können, aber verhinderte immerhin, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Das brauchte sie. Mehr denn je. Sie musste ihn zur Rede stellen. Ihren Vater. Plötzlich hatte sie sie erkannt. Der Rubin in der üppigen Goldfassung mit dessen übertriebenen Schnörkeln ließ keinen Zweifel. Sie hatte die Kette schon einmal in der Hand, vor vielen, vielen Jahren. Noch bevor sie ihre Mutter vermisste und ihren Mann dafür zur Rechenschaft zog. Wie konnte sie die Kette damals bei der Faschingsfeier übersehen? Und viel wichtiger, was um Himmels Willen hatte der Vater mit Maggie zu tun? Er machte keine Geschenke mit emotionalem Wert. Bei ihm galt die Devise, dass man mit Geld alles haben und alles sagen könne. Und „Mann“ sich nicht weiter bemühen müsste. Aber diese stach mit ihrem Preis aus allen anderen „Beschwer-dich-nicht-was-willst-du-mehr“-Geschenken an die Mutter heraus. Aber auch dieses Souvenir eines der zahlreichen Geschäftsreisen hatte Helene Zeus nicht dazu bewogen, es überhaupt oder geschweige denn gern zu tragen. So wie all die anderen emotionslosen Beweise für eine kalte und erdrückende Ehe. Und doch hatte sie später bemerkt, dass sie weg war. Gestohlen vom Schenkenden selbst. Für eine der wohl zahllosen Affären. Maggies Körper bebte noch mehr, als ihr bewusst wurde, welche Person der Grund für diese Aktion ihres Vaters gewesen sein musste. Es klang so logisch und doch so unwirklich und falsch. Die neue Maggie hatte keinen weiteren Anhaltspunkt. Und doch war sie sich sicher wie noch nie. Egal wie viele Frauen, die es allesamt sicher nicht verdient hatten, es schon sein mochten, die zwischen die Zähne dieses narzisstischen Monsters mit zu viel Macht gelangt waren. Dass Maggie eine von ihnen gewesen sein soll, wollte sie dennoch nicht glauben. Nicht Maggie. Nicht sie. Das war zu viel. Der Unbekannte, der ein Spiel mit ihr spielen wollte, war ihr völlig egal geworden. Sie hatte nur ein Ziel. Das Haus ihrer Eltern.

Maggie griff hastig nach dem Bilderrahmen, dem lädierten Smartphone und ein paar Orchideen, die sie in ihrer zitternden Rage fassen konnte, und nutzte die riskante Mischung aus Verzweiflung und purer Wut zum Antrieb, direkt zum Haus zu gehen. Dieser brisante Gefühlscocktail brodelte noch stärker beim Blick auf das Klingelschild. „Jakob Zeus“. Ehrlicher gewesen wäre wohl die Aufschrift „Jakob Zeus. Ach, übrigens, hier wohnt auch meine Frau seit vielen Jahren, die mir den Rücken freihält, aber sonst die Klappe hält. Helene ist ihr Name. Muss aber nicht mit auf dieses Schild, wird sonst zu lang.“ Das Adrenalin puschte sie direkt weiter und sie drehte seit Monaten das erste mal wieder den Haustürschlüssel, den sie nach wie vor wie von ihrer Mutter gewünscht an ihrem Bund hatte, im Schloss aufgeregt hin und her bis sich das große weiße Tor mit Milchglas und goldenen Leisten in ihre düstere und verdrängte Vergangenheit öffnete. Sie blieb fokussiert und der Knall der Haustüre gegen die Flurwand begleitete donnernd ihren Eintritt.

Ruhe wäre vielleicht der bessere Helfer in dieser ungewissen Situation gewesen. Aber sie hatte ihr wild pochendes Herz kaum noch unter Kontrolle. Das Adrenalin in ihrem zitternden Körper half, nicht umzukehren, sondern sich Schritt für Schritt einer Antwort, die sie vielleicht nicht verkraften würde, zu nähern. Welches Spiel spielte der Mann, den sie bereits dumpf doch scheinbar ausgelassen albernd aus dem Arbeitszimmer hörte. Offensichtlich ein Gespräch mit Geschäftsfreunden. Gerade jetzt war es ein Schlag ins Gesicht, diesen Mann lachen zu hören. Der Brechreiz, den sie über den ganzen Tag aushalten musste, steigerte sich zu einem Grad wie sie ihn nur vom 23. Juli 2017 kannte. Durchzuatmen half ihr nicht, dazu war sie viel zu aufgeregt. Und so überraschte sie sich fast selbst so wie ihren Vater, als sie die Tür des Arbeitszimmers noch heftiger gegen die Wand donnerte wie kurz zuvor am Hauseingang. Und da stand er. Ein Teil seines Gesichts starrte sie sicherlich ungläubig an. Der deutlichere Teil aber präsentierte ihr das wohlbekannte selbstgefällige Lächeln. Maggie widerstand dem Reiz, ihm dieses Grinsen handgreiflich auszutreiben. Noch.

„Ich melde mich gleich wieder bei Ihnen.“ Jakob Zeus blieb ruhig und ließ sich nichts anmerken. „Frederik, mein Sohn, was für eine Überraschung“, wendete er sich schließlich ebenso ruhig, aber dieses mal deutlich provokant, an Maggie.  Egal wie sehr sie schlau an die Sache herangehen wollte. Sie konnte sich nicht unter Kontrolle halten. „Was hast du IHR angetan?“, schrie sie ihren Vater unvermittelt an. Dieser hob die Augenbrauen. Überheblich, arrogant. „Du weißt genau, von wem ich rede! Was verdammt nochmal hast du IHR angetan?“, wiederholte sie sich in unverminderter Lautstärke. Das Resultat war ein weiterer ratloser Blick. Dieses mal aber mit mehr Verwunderung und weniger Arroganz. Er blickte in das zitternde Gesicht und die tränennassen Augen seines Nachkommens. „WEM habe ich WAS angetan?“ Seine Worte waren so kontrolliert, dass Maggie einen Moment lang das Gefühl hatte, sich sehr in etwas hinein gesteigert zu haben, das gar nicht existierte. Obwohl sie wusste, dass dieser Mann manipulieren konnte. Doch ihre Wut und die Fakten, die sie heute entdeckt hatte, brachten sie wieder in die Spur. „Was hast du MAGGIE angetan?“ Beim Aussprechen ihres Namens verlor die neue Maggie die letzte Beherrschung und brach endgültig in Tränen aus. „Warum SIE?“ Aber nicht nur sie hatte die Contenance verloren. Auch Jakobs überraschte Miene wich einem plötzlich sehr besorgten Ausdruck. „Woher…“, setzte er an, doch Maggie unterbrach ihn. „Antworte mir, Jakob.“ Nie zuvor hatte sie sich getraut, auch nicht als pubertierender Frederik, den Vater beim Namen zu nennen. Und genauso hatte sie ihn noch nie so überrumpelt gesehen. Zumindest nicht so kurz davor, überrumpelt worden zu sein. Doch ehe sie sich nur im Ansatz an dieses neue Bild hätte gewöhnen können, verwandelte sich seine Miene in eine ernste und autoritäre, die sie leider zu gut kannte. „Oh Frederik, denkst du, ich habe all die Jahre nicht bemerkt, dass du dich heimlich mit dem Make-Up deiner Mutter schminkst, du Mädchen?“, begann der Patriarch kühl und zielgerichtet auf die Seele seines eigenen Fleisch und Bluts. „Du Tunte. Mir war schon so lange klar, welche Beleidigung du für den Namen dieser Familie bist. Ein Zeus braucht einen Sohn – einen Mann – und keine Drag-Queen!“, schnaubte Jakob, in dessen gerade noch so besonnene Stimme sich erste Emotionen einzuschleichen schienen. Genauso wie Hass in seinen Augen aufzublitzen begann. „Und sie? Meinst du dieses Miststück, das sich vom Acker gemacht hat, als es ihr zu heiss wurde? Verschwunden, untergetaucht, versteckt?“ Jakobs Halsschlagader wurde immer deutlicher sichtbar und sorgte für Nachschub an Blut, der seinen Kopf zusehends rot einfärbte. „Lässt sich dann noch mit einem Weichei wie dir ein? Einer verweichlichten Tunte?“ Maggie nahm alles wahr, was ihr Vater in seinem ersten Gefühlsausbruch, den sie je erlebte, aus sich herausschrie. Doch sie konnte sich keinen Millimeter bewegen und folgte dem Schauspiel wie versteinert. Dieses mal war der Raum, in dem sie zusammen mit ihm stand, nicht nur eiskalt. In ihr selbst war alles mit-erfroren und doch wechselten Eiseskälte und Höllenhitze im Sekundentakt auf ihrer Haut. „Diese HURE! Wagt es, mich sitzen zu lassen! Von heute auf morgen, verschwunden. Einfach so? Nur, weil man ihr ein paar Regeln klar gemacht hat?“ Der Speichel war mittlerweile sichtbar, den Jakob in voller Rage beim Schreien im Arbeitszimmer verteilte. „Dieses feige Miststück! Untergetaucht! Und dann, dann sehe ich plötzlich dieses lächerliche Bild eines Teenie-Paares. Von euch beiden. Von dir und deiner „Freundin“. Diese billige Nutte!“ Er schnappte nach Luft als setzte er für eine weitere Hasstirade an. Doch er blieb einen Moment ruhig und stützte sich auf seinem übergroßen Eichenholz-Schreibtisch mit beiden Armen tief schnaubend ab. Schweißperlen rannen von seiner Stirn. Und auch Maggie spürte heißkalte Tropfen auf ihren Wangen. Es stimmte also. Die Wahrheit, die sie nicht hören wollte, rang zwei Meter gegenüber ihr nach Luft in einer Rage, die sie nie von ihm gesehen hatte. Ihr eigener Vater hatte eine Affäre mit ihr, der wundervollsten Frau auf dieser Erde. Wenn du an einem Ort zu lange bleibst, dann kennt man dich. Und wenn man dich kennt, dann findet man dich. Maggie rang nach Fassung. Die Worte der echten Maggie klangen in ihrem Ohr, als würde sie leibhaftig neben ihr stehen. Nie konnte sie verstehen, vor wem diese starke und talentierte Frau sich verstecken könnte. Das war doch nicht denkbar. Außer. Außer vor einem hungrigen Löwen. Einem mächtigen, hungrigen Löwen. Einem mächtigen, gekränkten und hungrigen Löwen. Sollte es ausgerechnet ihr Vater sein, vor dem Maggie geflohen war und ihr ganzes Leben verändert hatte? Und war es dann die neue Maggie, seine Tochter, die ihn durch einen dämlichen Zufall zu ihr führte, sodass er sie erneut in die Enge hatte treiben können? War das der Druck, dem sie nicht hatte standhalten können? Diese eigentlich so inspirierend-starke Frau? Die Gedanken waren unerträglich. „Was hast du IHR angetan, du Monster?“ Tränen verschluckten all die Kraft in ihrer Stimme. „Und warum hast du mich hierher gelockt?“ Jakob Zeus hob erstmals wieder seinen hochroten Kopf und blickte seine Tochter mit zusammengekniffenen Augen an. „Was habe ich?“ Maggies Wut übernahm wieder die Oberhand. „Verarsch mich nicht. Warum hast du mich hierher gelockt? Willst du mich quälen?“ Jakob schaute sie weiter erschöpft und fragend an. Maggie griff in ihre Tasche, zog das Smartphone heraus und hielt es ihrem Vater schreiend entgegen. „Sagt dir das nichts, hm? Warum hast du mich verfolgt all die Zeit? Warum hast du mich in ihre Wohnung gelockt? Warum hast du mich an ihr Grab gelotst?“ Ihre Stimme brach und das Handy zitterte zusammen mit ihrer Hand so schnell, dass es zunächst keiner der beiden bemerkte, dass das Display aufleuchtete und das Handy leise vibrierte. „Was soll ich gemacht haben? Wovon zum Teufel sprichst du, Frederik?“ Die Fragen wirkten nicht aufgesetzt und Maggie begann, die Welt nicht mehr zu verstehen.  Sie wurden beide ruhig. Und plötzlich nahm sie das leise Summen und die sanften Vibrationen des Smartphones in ihrer Hand wahr. Es klingelte.

Verdammt. Ein Anruf. Auf dem fremden Smartphone. Und es konnte nicht ihr Vater sein. Die fiesen Spiele des Tages übermannten Maggie im Bruchteil einer Sekunde. Der Unbekannte. Er ruft an. Der offensichtlich verblüffte Vater war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen und verfolgte die Situation, die er in keiner Weise mehr unter Kontrolle hatte. Es war ruhig. Maggie spürte nur ihren hastigen Atem, das schnell pochende Herz und die Vibration des Telefons. Sie blickte auf das Display. Anonymer Anruf. Klar. Welcher Unbekannte würde sich auch selbst in das Köder-Smartphone mit Klarnamen und Adresse speichern? Die Informationen der letzten Minuten und der Blick auf ihren Vater, den sie erstmals schier hilflos wahrnahm, förderten noch ein letztes Mal die letzten Funken ihres Mutes. Sie nahm den Anruf entgegen und stellte wortlos auf Lautsprecher. „Hallo mein Schatz, schön dass du rangehst.“, hörte sie eine sehr vertraute Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.

Maggie zitterte so, dass sie Mühe hatte, das Smartphone in der offenen Hand zu balancieren. Es dauerte einige Sekunden, bis sie in der Lage war, mit leiser, gebrochener Stimme zu antworten. „Mama?“ Maggies verstörter Blick traf sich mit dem ihres Vaters, der nicht minder irritiert war und mit tiefen Atemzügen seinen cholerischen Ausbruch verarbeitete. „Ja, Frederik. Oder soll ich Maggie zu dir sagen?“ Maggie rang verzweifelt und verwirrt um die richtigen Worte. „Hast du mich verfolgt? Spielst DU dieses Spiel mit mir?“ Eine Pause von wenigen Sekunden reichte, um die neue Maggie einen schier endlosen Albtraum durchleben zu lassen. „Ja.“, kam es knapp vom anderen Ende und eine weitere Pause von realen Sekunden doch unwirklichen Ewigkeiten für die Tochter folgte. „Das habe ich, Maggie. Aber ich will dir erklären, wieso ich das gemacht habe.“ Helene Zeus war ruhig in ihren Aussagen, aber die Emotionen, die sie einnahmen waren dennoch deutlich spürbar. „Ich hatte die Kette auf dem Bild erkannt, als du mir deine neue Freundin vorgestellt hattest. Und ich wusste in diesem Moment, dass nicht nur ich einen harten Kampf seit vielen Jahren mit mir selbst austrage, sondern auch du. Wir beide, mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, waren Gefangene in einer Welt, die nicht zu uns passt.“ Jakob Zeus hatte seine Atmung beruhigt und lauschte genauso aufmerksam den Worten seiner Frau wie es Maggie tat. Das wahrscheinlich erste mal in seinem Eheleben. „Ich wollte wissen, wer diese Frau ist, die nicht nur eine lieblose Affäre für deinen Vater zu sein schien, sondern mehr. Ich wollte wissen, ob sie die Aufmerksamkeit bekommen hatte von ihm, die er mir nie geben wollte.“ Helene atmete tief durch. „Und ich wollte wissen, wer diese Frau ist, die nicht nur meinen Mann beeindruckt zu haben schien, sondern auch meinen Sohn. Der, der ganz anders als sein Vater ist.“ Es folgten weitere endlose Sekunden der Stille bis Maggie erstmals wieder zu Worten fand. „Was hast du getan? Warum spielst du dieses Spiel mit mir?“ Sie blickte zu ihrem Vater und ergänzte. „Mit uns?“ Ein leises, unechtes Lachen war in der Leitung zu hören. „Ach Maggie. Du bist nicht Maggie! Du bist Frederik, der sich entschieden hat, seiner Natur zu folgen und eine Frau zu werden. ABER KEINE Kopie von irgendwem! Ich wollte und will, dass du nicht den gleichen Fehler machst wie ich und dich einem Schicksal beugst, das für dich bestimmt zu sein scheint. Ich will, dass du einfach nur du bist. Meine Tochter!“ Tränen rannen über Maggies Wangen und sie bemerkte ihren Vater, der ebenso für seine Verhältnisse ungewöhnlich intensiv mit den Gefühlen kämpfte. „Und zu dir Jakob, geliebter Ehemann.“ Spott lag in ihrer Stimme. „Ich weiß, dass du im Raum bist. Ich wollte, dass dich deine Tochter aus eigenen Stücken zur Rede stellt. Dass du ihr ehrlich ins Gesicht sagst, was du von ihr hältst. Damit sie abschließen kann. Dass sie ehrlich dir sagt, was du für sie nie warst. Ein Vater!“ Sie wurde noch ernster. „Hast du ihr denn die ganze Wahrheit erzählt, Jakob?“ Ihre Worte trafen den selbstverliebten Unternehmer wie Messerstiche. Die Röte in seinem Kopf kämpfte sich ihren Zustand von vor wenigen Minuten zurück und Maggie sah aus zwei Metern Entfernung, wie die Schweißtropfen aus seiner Stirn quollen. „Waa… waas meinst du, Helene?“, stotterte er hervor. Sie lachte auf. „Ha, meinst du, ich hatte nicht bemerkt, dass du die Person bei deinem flüchtigen Blick damals auf das Foto, als du uns überrascht hattest, erkannt hast? Meinst du ich war blöd genug, nicht zu kapieren, dass dich das aufwühlt? Dass du herausfinden wolltest, wo Frederik wohnt? Dass du vorhattest, die Frau aufzusuchen? Die Frau, die du unter Druck gesetzt hattest mit deinen Allmachtsfantasien und die sich in eine fremde Stadt anonym und mit neuem Namen geflüchtet hatte? Wegen dir? Aus Angst vor dir? Und die dort zufällig deinen Sohn, der ebenso aus deinem Leben und deiner Tyrannei fliehen wollte, getroffen hatte? Meinst du ich bin dir nicht hinterher, als du sie zwei Tage später aufgesucht hattest?“ Ihre Worte halten durch das kühle Arbeitszimmer. Jakob brachte keine verständlichen Sätze hervor und zitterte, so wie es Maggie heute schon mehrfach durchlebt hatte. „Du hast alles kaputt gemacht, Jakob. Unsere Ehe. Mich. Dein Kind. Und…“ Sie stockte und Maggie schrie in das Telefon. „Und was, Mama?“ Sie antwortete nicht auf die Frage. „Maggie, ich habe dich beobachtet und gesehen, dass du einer Illusion hinterherläufst. Dass du nicht du werden kannst. Jemand, der du wirklich sein willst. So wie ich. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen. Ich musste dir den Spiegel vorhalten in der Hoffnung, dass du aus freien Stücken deinen eigenen Weg gehen wirst. Dass du nicht den Fehler wie ich machst und dich deinem Schicksal kampflos beugst. Ich will, dass du zu dir findest.“ Terminal-Lautsprecheransagen übertönten kurzeitig die Stimme der Mutter. „Wo bist du, Mama? Was hast du vor?“ Helene wartete die blechernen Ansagen ab und fuhr fort. „Mach dir um mich keine Sorgen. Ich kümmere mich um mein Schicksal. Und du um deins.“ Sie wartete wieder. „Und wenn du die Kraft hast, kümmere dich um das Schicksal deines Vaters.“ Jakob ließ sich in den Lederbürostuhl fallen. Kraftlos und nicht mehr Herr seiner Sinne. „Was meinst du, Mama?“ Maggie bekam Angst. „Das kannst du herausfinden, mein Schatz, wenn du das Sideboard im Arbeitszimmer öffnest.“ Stille. Die Blicke von Tochter und Vater trafen sich erneut. Jakob wollte etwas sagen, doch sein ganzer Körper bebte. Wovor hatte er solche Angst?

Maggie bündelte noch einige Sekunden lang ihre allerletzten Kraftressourcen. Dann schwankte sie zum Sideboard des Büros und öffnete in einem Zug die Schiebetür. Sie nahm nicht mehr wahr, dass der Vater verzweifelt vor sich hin murrte und jämmerlich in die Leere flehte, nicht nachzusehen, was die Mutter wohl zuvor vorbereitet hatte. Doch Maggie starrte bereits nur noch auf das Foto, das sofort ersichtlich im Inneren des Schranks aufgerichtet inszeniert war. Es zeigte zwei Kirschbäume. Sehr bekannte Kirschbäume. Die Kirschbäume vor dem Mehrfamilienhaus von Maggie May. Ein fast gewohntes Bild für Maggie. Aber nur fast. Denn es zeigte auch ihren Vater, der mit verzogener Miene und nichtsahnend, dass dieser Moment per Foto festgehalten wurde, sich vom Grundstück entfernte. Seine verschwommenen Konturen zeigten, dass er in Eile war. Und das deutliche Blut an seinen Händen legte nahe, dass etwas schlimmes passiert war. Und das in digitalen orangen Lettern aufgedruckte Datum am unteren rechten Rand offenbarte, dass es nur einen Zusammenhang geben konnte. 23.07.2017. Maggie schrie all ihre Verzweiflung heraus. „Maaaama!!!“ Sie wankte und hielt sich mit beiden Händen am Sideboard fest. „Maaaamaaaaa!!!“ Doch ihre Verzweiflung fand kein Gehör mehr. Sie hatte in ihrer Aufregung nicht bemerkt, dass längst ein Belegtzeichen aus dem Freisprecher des Smartphones kam, das sie vor ihrem Gang zum Sideboard auf den Tisch gelegt hatte. Ihre Mutter hatte aufgelegt.

EPILOG

Die Fahrzeuge der Berufspendler auf der Bundesstraße waren entfernt zu hören, aber verschwammen mit den rauschenden Ästen und Blättern des Waldes im Sommerwind. Heute waren es genau drei Jahre, als die frischgeborene neue Maggie ihr Vorbild, die echte Miss May, hier begraben hatte. Und es waren circa fünf Wochen vergangen, seitdem sie die schauerhafte Wahrheit über ihren Tod erfahren hatte. Und seitdem sie das letzte Mal von ihrer Mutter gehört hatte, die nun wie vom Erdboden verschluckt war. In diesen Tagen sollte auch Jakob Zeus, der seit jenem Tag in sofortiger U-Haft saß, dem Richter vorgeführt werden. Natürlich hatte er versucht, seine Macht und sein Geld einzusetzen, um die Untersuchungshaft umgehen zu können. Hohe Fluchtgefahr war jedoch der Grund, weshalb er wohl gefühlt zum ersten mal in seinem Leben nicht das durchsetzen konnte, was er wollte. Frederike war das egal. So nannte sich die neue Maggie seitdem und war auch bereits in Gedanken dabei, ihren Nachnamen, den sie nicht länger tragen wollte, ändern zu lassen. Hera schien ihr da ein ganz passabler Vorschlag zu sein. Mal sehen, ob sie das genehmigt bekommen würde.

 

In ein paar Monaten würde sie sich der ganzen Angelegenheit nochmal ausliefern müssen. Als Zeugin beim Prozess. Aber sie wusste, dass sie sich von den Taten dieses Mannes, den sie nicht mehr ihren Vater nennen wollte, nicht mehr negativ beeinflussen lassen wollte, seitdem sie ihn kurzentschlossen nach der Erlangung des Beweises für den Mord an Maggie May angezeigt hatte. Es war so eine Genugtuung gewesen. Sowohl für sie selbst, indem sie diesem Patriarchen in einem Streich hatte soviel zurückzahlen können, als auch für ihre arme Mutter, die soviel unter ihm hatte leiden müssen. Aber vor allem für die wundervolle Maggie May, deren Schicksal so in einem ganz neuen Licht gestanden hatte. Sie hatte Frederike also ein zweites mal gerettet. Und sie hatte sie zu sich selbst geführt. Eine weitere Heldentat einer so bemerkenswerten Frau. Aber es war nicht allein ihr Verdienst, dass Frederike endlich zu ihrem ganz eigenen Ich nach so vielen schweren und verzweifelten Jahren finden durfte. Es war auch ihre Mutter, die sich endlich aus ihrem stummen Verlies befreit und auch ihr geliebtes Kind dazu bewogen hatte, alles neu zu denken. Irgendwie eine weitere gute Tag von Maggie May, dachte Frederike. Du lässt einfach nicht locker. Du brauchst mich nicht, um deine Spuren auch weiterhin auf dieser Welt zu hinterlassen. Das kannst du ganz allein. Er lächelte und eine Träne rann über die frisch gepuderte Wange. Ich hoffe, es geht euch gut, sprach er in Gedanken zu Maggie, in welcher anderen Welt auch immer sie sein mochte, und zu seiner Mutter, deren Aufenthaltsort irgendwo auf dieser realen Welt war. Wo auch immer du bist, Mama. In diesem Moment vibrierte das schwarze Mobiltelefon, das all diese Entwicklungen erst angestoßen hatte und das sie seitdem immer bei sich trug und dessen Akku sie stets aufgeladen hatte, in der Hoffnung, eines Tages ein neues Lebenszeichen ihrer Mutter zu erhalten. Und jetzt war es soweit. Weitere Tränen gesellten sich zu der ersten und verteilten sich auf der Wange, während sie zitternd und hoffnungsvoll die erste Nachricht seit vielen Wochen von ihrer Mutter öffnete:

„Liebe Tochter. Heute ist ein schwerer Tag für dich, ich weiß. Und doch hoffe ich so so so sehr, dass es dir gut geht, mein Schatz. Ich habe mitbekommen, dass du deinen Vater angezeigt hast. Ich hätte es niemals geschafft. Ich bin wirklich sehr, sehr stolz auf dich! Und du heißt jetzt Frederike, stimmt das? Das gefällt mir. Und so möchte ich dich eines Tages auch wieder persönlich begrüßen. Aber erstmal bleibe ich hier. Ich bin an einem sicheren Ort, an dem es mir sehr gut geht. Ich spiele wieder Klavier. Und ich wünsche dir, dass du zu dir findest, Frederike. Ich weiß, du schaffst das. Ich habe es auch endlich geschafft.

In Liebe,
Deine Mama Helene“

 

3 thoughts on “Der bildlose Rahmen

  1. Für eine Kurzgeschichte ist dein Werk ganz schön lang geworden, du hättest auch einen Kurzroman daraus machen können 😉 Nichtsdestotrotz hast du da eine wahnsinnig gute Geschichte geschrieben, du hast einen sehr professionellen Schreibstil mit einer bildreichen Sprache, was mir wirklich sehr gefallen hat. Bisher auf jeden Fall die originellste Umsetzung, die ich gelesen habe 🙂

  2. hey, mir hat deine Geschichte gut gefallen, vor allem die Atmosphäre hast du gut herausgearbeitet. war überrascht ne noch längere Geischte als meine zu lesen 😀 ich drücke dir die daumen, für ein paar weitere Likes, meines hast du auf jeden fall 🙂
    vllt magst ja auch mal meine Geschichte lesen und evlt ein herz da lassen:) beste grüße, Patricia ( patte)

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/hinter-den-kulissen

  3. Hallo du Liebe

    Mein Gott.
    Was für ein Werk.

    Das ist ja fast schon ein Roman.
    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.
    Ohne Mist.

    Und sie hat mich künstlerisch mehr als überzeugt, obwohl sie natürlich im eigentlichen Sinne keine Kurzgeschichte ist.
    Das macht mir aber nichts.
    Auch meine Geschichte ist keine wirkliche Kurzgeschichte 🙂

    Damit kann ich leben.

    Du hast ein riesiges Potenzial und ein tolles Talent.
    Deine Geschichte ist hervorragend angelegt und umgesetzt worden.
    Mann, hast du einen guten und professionellen Schreibstil.
    Sehr genial, fein und ausgeprägt individuell.

    Große Klasse.

    Ich lasse dir sehr gerne ein Like da.
    Und ich hoffe, dass noch viele hinzukommen.
    Denn du hast es dir verdient.

    Schau doch mal bei wir_schrieben_zuhause bei Instagramm vorbei.
    Dort könntest du deine Geschichte noch einmal vorstellen.

    Ich bin zumindest sehr begeistert.

    Ganz liebe Grüße.
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Sie heißt:
    “Die silberne Katze”

    Würde mich freuen.
    Swen

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