Lena WDer Brief

Vor zwei Jahren hatte sie den Auftrag bekommen. Am 20. März 2017 hatte Alice Romano in ihrem Briefkasten einen Brief vorgefunden, in dem stand, dass sie, von einem ihr unbekannten Konto, 30.000 Euro an ein anderes, ihr ebenfalls nicht bekanntes Konto im Ausland, überweisen solle. In dem Briefumschlag befanden sich neben diesen Anweisungen noch die Karte des Kontos und die PIN sowie die Nummer und der Schlüssel eines Schließfaches. Nach dem Erledigen ihres Auftrages, sollte sie dorthin gehen und darin eine Belohnung vorfinden. Natürlich war sie misstrauisch. Dass wer-auch-immer die 30.000 nicht selbst überwies, würde wohl seine Gründe haben… Doch am Ende überwogen dann doch zum einen ihre Neugier und zum anderen ihr Studienkredit, der mit ihrem Nebenjob in Matteos Restaurant kaum zu tilgen war.
Die 30.000 Euro sollte sie nicht an einem Tag überweisen, sondern an den nächsten acht Tagen jeweils 3.750€. Nachdem sie den letzten Teilbetrag überwiesen hatte, ging sie zu dem angegebenen Schließfach und fand darin drei Schecks über jeweils 5.000 Euro und einen Schlüssel. Zu dem Schlüssel gab es keine Erklärung. Sie ließ ihn liegen. Hätte sie ihn damals mitgenommen, hätte sie das Handy heute wohl nicht in dem Paket vor ihrer Tür vorgefunden. Darauf war sie zu sehen, wie sie den Brief öffnete, die einzelnen Überweisungen tätigte, sogar wie sie das Schließfach öffnete und die Schecks entwendete – trotz angeblich fehlender Sicherheitskameras in diesem Raum. Eigentlich war so ziemlich jeder Schritt, den sie in diesen Tagen gemacht hatte, auf dem Handy verzeichnet. Was sollte das? Was wollte die Person, wer auch immer das war, damit erreichen, dass sie dieses Handy bekam? Alice setzte sich an den Küchentisch – sie musste nachdenken. „Diese Person will, dass ich weiß, dass sie diese Fotos von mir hat“, dachte sie, „Doch was bringt ihr das?“
Bereits wenige Tage nach der letzten Überweisung, klopften drei Beamte bei ihr und hielten ihr einen Haftbefehl vor das Gesicht: „Alice Munro, kommen Sie mit.“ Auf Nachfragen bekam sie keine Antwort. Sie wurde auf das Polizeirevier gebracht und wartete dort fast zwei Stunden in einem Vernehmungszimmer. Dann wurden ihr erst Bilder von Männern gezeigt, die sie nicht kannte und dann von Frauen und Kindern, die sie ebenfalls nicht kannte, die aber viel heruntergekommener aussahen als die Männer davor. Die Polizisten schienen verunsichert, da sie so glaubhaft wirkte. Menschenhandel in siebzehn Fällen – das war es, was man ihr vorwarf. Vor zwei Tagen wurden am Hafen von Palermo in zwei Containern zehn Frauen und sieben Kindern gefunden – viele waren schon tot und einige erlagen ihren Verletzungen im Kranken-haus. Es war eine schreckliche Nachricht gewesen, alle waren erschüttert. Alice selbst hatte es gestern in der Zeitung gelesen. Doch sie verstand nicht, was das mit ihr zu tun hatte. „Wir haben diesen Schlüssel gestern in einem Schließfach in der sizilianischen Zentralbank gefunden“, sagte der Beamte und hielt ihr den Schlüssel hin, den sie erst vor Kurzem in eben diesem Schließfach hatte liegen lassen, „Dieses Schließfach wird unseren Informationen zufolge seit längerer Zeit schon von der Costa Nostra zur Übergabe verwendet. Dieser Schlüssel führte uns zu einem weiteren Fach, in dem ihr Ausweis lag. Können Sie uns das erklären?“ Nein, das konnte sie nicht. Zumindest nicht so richtig. Die Männer auf den Fotos waren vermutlich Mitglieder Mafia und die Polizei hatte gehofft, dass sie ihnen Informationen über diese Männer geben könnte, sie kennen oder vielleicht sogar ein Teil von ihnen sein würde. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass das Geld, was sie überwiesen hatte, von diesem unbekannten Konto, wirklich für das verwendet wurde, von dem diese Beamten ihr gerade vorwarfen, ein Teil zu sein. Sie fuhren zu ihr nach Hause, sie zeigte ihnen den Brief und versuchte, alles so gut wie möglich zu erklären. Sie glaubten ihr zwar, dass sie nicht wuss-te, was sie mit dem überwiesenen Geld wohl offenbar finanziert hatte, doch trotzdem schützte sie das nicht gänzlich vor einer Strafe. Wegen ihrer uneingeschränkten Kooperation, die unter anderem zur Verhaftung von drei hochrangigen Mitgliedern der Costa Nostra führte, und guter Führung, bezahlte sie die Geldstrafe und saß die anderthalb Jahre Gefängnis ab. Letztes Jahr im Herbst wurde sie wieder auf freien Fuß gesetzt und hatte ihr Studium wieder aufgenommen.
Nun saß sie an ihrem Küchentisch und dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, im Gefängnis zu bleiben – sicher vor möglichen Vergeltungs-schlägen der sizilianischen Mafia. Sie war sich sicher, dass die Fotos auf dem Handy als Warnung zu verstehen waren. Sie hatte schon oft gehört, was die Costa Nostra mit Verrätern machte – Verrat war eines der schlimmsten Vergehen. Sie überlegte, was zu tun war, um nicht mit einem Betonklotz am Bein im nahegelegenen Fluss zu lan-den, um dann vermutlich viel zu spät und bereits aufgequollen von irgendwelchen Joggern oder picknickenden Familien gefunden zu werden. Das würde sie gerne denen und sich selbst ersparen. Und wenn es gar keine Warnung war, sondern ein Erpressungsversuch? Aber wo war dann die Forderung? Je länger sie nachdachte, desto undurchsichtiger schien das Motiv des Täters für sie zu werden. Sie wollte nicht zur Polizei gehen. Vielleicht würde sie durch diese Fotos mit Taten in Verbindung gebracht werden, von denen sie bisher selbst nicht wusste, dass sie sie begangen hatte. Sie beschloss, in die Universitätsbibliothek zu gehen, um dort für ihren nächsten Aufsatz über Calvinos Erzähltechniken zu recherchieren.
Ihr selbst fiel auf, wie schreckhaft sie auf dem Weg dorthin war, wie paranoid sie sich verhielt. Jede Katze, die auf eine Mülltonne sprang, war ein potenzieller Angreifer und jeder Fehlstart eines Autos ein Pistolen-schuss. Endlich in der Bibliothek angekommen, war sie erleichtert. Hier waren viele Menschen, niemand könnte sie hier beispielsweise entführen, ohne dass es jemand mitbekommen würde. Nach drei Stunden Arbeit musste sie etwas essen. In der Cafeteria traf sie ihre Freundin Mirjam und vergaß die Fotos und das Handy kurz. Doch als sie zurück zu ihrem Platz kam, erschrak sie. Auf ihrem Laptop waren zwei Fotos geöffnet. Sie kannte diese Bil-der aus der Zeitung: Sie zeigten zwei der Kinder, die in diesem Container ums Leben gekommen waren. War es vielleicht doch nicht die Mafia, die ihr das Handy zuge-spielt hatte? War es einer der Angehörigen dieser Kinder oder generell jemand, der davon betroffen war? Sie konnte in diesem Moment kaum sagen, was schlimmer gewesen wäre. Sie fragte einen Kommilitonen, Mario, der ihr gegenübersaß, ob er etwas gesehen hätte. Er meinte, er habe einen Mann an ihrem Computer gesehen. Er sei kurz weg gewesen, um auf die Toilette zu gehen und als er wiederkam, stand gerade jemand von ihrem Platz auf. Wie er ausgesehen habe, wollte Alice wissen. Mario meinte, er sei normal groß gewesen, habe blonde, längere Haare gehabt und sei ansonsten nicht sonderlich auffällig gewesen. Wieso sie das wissen wolle und ob alles in Ordnung sei, wollte Mario wissen. Sie winkte ab und meinte zu ihm, dass alles in Ordnung sei und dass das nur ihr Freund Angelo gewesen sei. Sie wusste selbst nicht, wa-rum sie das erzählte, denn natürlich kannte sie den Kerl nicht. Er musste es gewesen sein, der die Fotos auf ihrem Laptop geöffnet hatte. Warum?
Als sie wenig später wieder zu Hause ankam, lag ein Päckchen vor ihrer Tür. Sie wollte es nicht öffnen, wer weiß, was da drin sein würde – vielleicht eine Bombe oder ein abgetrennter Fuß. Sie stellte es in den Abstellraum, nur um es wenig später wieder hervorzuholen und es auf den Couchtisch im Wohnzimmer zu stellen. Sie setzte sich auf das Sofa, starrte das Paket ungefähr zehn Minu-ten lang an und ging dann in die Küche, um sich etwas zum Abendessen zu machen. Nach dem Essen ging sie wieder ins Wohnzimmer und starrte abermals das mysteriöse Päckchen an – diesmal vom Sessel aus. Sie musste es öffnen, vielleicht gab es darin einen Hinweis auf diesen unbekannten Möchtegern-Paketboten. Sie öffnete es mit allergrößter Vorsicht, um eine mögliche Aktivierung einer möglichen Bombe zu unterbinden. In dem Paket lag ein Foto. Darauf zu sehen waren viele Menschen, die in schwarz gekleidet um einen Sarg herumstanden. Man konnte darauf keine Gesichter erkennen, es war aus einiger Entfernung geschossen worden. Sie nahm es aus dem Paket und drehte es um, um darauf vielleicht einen Datumsstempel ausma-chen zu können. Es gab aber keinen, auf der Rückseite stand: „Das ist deine Schuld.“ Nichts weiter. Das musste doch etwas mit den Menschen aus dem Container zu tun haben. Erst die Fotos von den zwei verstorbenen Kindern auf ihrem Laptop und nun dieses Paket mit dem Bild der Beerdigung. War das die Beerdigung eines der Kinder? Ihre Augen fingen an zu brennen und füllten sich mit Tränen. Das war nie ihre Absicht gewesen. Sie fühlte sich schuldig und war gleichzeitig wütend. Wütend auf sich selbst, weil sie damals das alles nicht richtig hinterfragt und nur an sich selbst gedacht hatte. Aber auch wütend auf den Ersteller dieser Nachrichten. Sie hatte ihre Strafe abgesessen, sie hatte bereits bereut und sie hatte alles getan, dass die Köpfe dieser Aktion ihrer gerechten Strafe zugeführt worden waren. Worum ging es dem Überbringer? Wollte er, dass sie sich schlecht fühlt, dass sie nie vergessen solle, woran sie mit Schuld trägt? Sie könnte es wohl sogar verstehen. Doch das war es nicht. Alice wusste das zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, aber weder die Mafia noch ein An-gehöriger der Verstorbenen sendete ihr diese Botschaf-ten.
Marco Carpenteri war ein neunundfünfzig Jahre alter, verheirateter Immobilienmakler, als auch er eines Tages einen Brief mit Anweisungen in seinem Briefkasten fand. Sollte er diese Anweisungen nicht befolgen, würden seine Frau und seine Tochter sterben. Marco holte sofort seine Tochter von der Schule ab und rief seine Frau an, dass sie unverzüglich nach Hause kommen müsse. Nachdem er alle in Sicherheit wusste, folgte er den Anweisungen und verfasste einen Brief an eine ihm unbekannte Person, in dem stand, dass diese Person 30.000€ gestückelt an ein unbekanntes Konto im Ausland überweisen solle. Natürlich fragte er sich, wofür das gut sein sollte, doch diese Aktion schien ihm in jedem Fall ein kleiner Preis für das Leben seiner Familie zu sein. Er brachte den Brief zum Haus des Empfängers und ging zurück nach Hause und wartete mit seiner Familie dort – nichts weiter geschah. Nach ein paar Tagen ließ er seine Tochter wieder zur Schule gehen und das mulmige Gefühl legte sich, wenn seine Frau morgens das Haus verließ, um zur Arbeit zu fahren.
Ungefähr zwei Wochen später standen plötzlich zwei Polizeibeamte vor seiner Tür. Sie nahmen ihn zur Befragung mit auf das Revier, dort erfuhr er dann den Grund für seine Festnahme. Die 30.000€ aus dem Brief wurden offen-bar von einer jungen Frau überwiesen und standen im Zusammenhang mit dem Fund der siebzehn toten Menschen in den Containern, die man vor einigen Tagen im Hafen gefunden hatte. Er hatte davon bereits in der Zeitung gelesen. Sie waren auf ihn gekommen, da die junge Frau der Polizei eben jenen Brief ausgehändigt hatte, den er einige Wochen zuvor geschrieben hatte. Er erzählte ihnen alles – vom Brief und von der Bedrohung seiner Familie. Die Gerichtsverhandlung für seinen Fall sollte in drei Wochen stattfinden. Bis dahin musste er in Sicherheitsgewahrsam, da die Polizei sich sicher war, dass es einen Zusammenhang zur Mafia gab und sie so nicht nur verhindern wollten, dass diese Marco helfen könnte zu fliehen, sondern auch, wenn er die Wahrheit sagen sollte, dass sie nicht einen wichtigen Zeugen umbringen würden. Zwei Polizeibeamte sollten zu Marcos Haus fahren und dort auch seine Frau und Tochter auf das Revier bringen, um dann zu entscheiden, wie man sie am besten schützen könne. Doch dafür war es, als die Beamten am Haus eintrafen, bereits zu spät. Sie fanden die beiden gefesselt an ein Heizungsrohr im Keller, beiden war die Zunge entfernt worden und ihnen in die Hände gelegt worden, die sie dem Betrachter entgegenhielten. Über ihnen an der Wand stand „Verräter“ geschrieben. Durch Alices Fall waren sie durch das Schließfach bereits auf die Costa Nostra gekommen, dieses Vorgehen bestätigte den Verdacht.
Marco konnte nicht glauben, was die Beamten ihm da erzählten. Er hatte alles so gemacht, wie es von ihm verlangt worden war. Trotzdem mussten seine Frau und Tochter sterben. Diese Frau, die seinen Brief erhalten hatte und die die 30.000€ überweisen sollte, musste etwas falsch gemacht haben. Er verspürte Trauer und gleicher-maßen Wut. Ihm war klar, dass sich diese wahrscheinlich gegen die falsche Person richtete, doch das war egal. Gegen die Mafia konnte niemand etwas ausrichten, nicht einmal die Polizei hatte auch nur eine Chance gehabt, ihn und seine Familie zu beschützen. Doch er konnte nichts tun. Er bekam ein Jahr und drei Monate. Er durfte das Gefängnis zweimal verlassen – zur Beerdigung seiner Frau und seiner Tochter und der seiner Mutter. Sie war bereits seit einigen Jahren krank gewesen und als Marco als Verdiener ausfiel, konnte die teure Therapie nicht mehr bezahlt werden. Er hatte alles verloren. Seine Familie, seinen Job, seinen guten Ruf und viele, fast alle seine Freunde. Als er nach etwas mehr als einem Jahr we-gen guter Führung frühzeitig entlassen wurde, war er voller Schmerz und Hass. Das Gefühl nach Rache, was er bereits am ersten Tag verspürt hatte, war durch die Zeit im Gefängnis nur noch mächtiger geworden. Er erfuhr den Namen der jungen Frau und dass sie wohl immer noch im Gefängnis sitzen sollte. Er versuchte einmal, sie zu be-suchen, doch da er nicht auf ihrer Besucherliste stand, ließen sie ihn nicht herein.
Nach einem weiteren Jahr war auch Alice auf freiem Fuß. Auf einer Feier der Fakultät für Literatur- und Kulturwissenschaften traf er sie dann zum ersten Mal. Als er sie sah, spürte er, wie erneut der Groll in ihm aufstieg. Sie sah super aus, sie schien glücklich zu sein. Ihr war offensichtlich nicht klar, was sie angerichtet hatte. Aber das sollte es bald…

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