Sandra GrauerDer Duft der Vergangenheit

 

Auf dem Esstisch aus Eichenholz liegt ein Zettel, der gerade eben noch nicht dort gelegen hat. Ich runzle die Stirn. Wo kommt der denn plötzlich her? Abgesehen von Jo bin ich allein im Haus, und Jo ist noch oben im Bad. Ich kann den Haartrockner hören. Ob er kurz unten war und ihn auf den Tisch gelegt hat, während ich draußen war? Wobei das nicht seine Art ist. Jo gehört nicht zu den Männern, die ihren Partnerinnen kleine Liebes- oder Erinnerungszettel schreiben.
Ich stelle die leere Kaffeetasse neben die Kaffeemaschine, um mir gleich einen neuen Kaffee zuzubereiten, vorher möchte ich allerdings wissen, was das für ein Zettel ist. Ich bin neugierig, denn ich war nur kurz auf der Terrasse, so wie jeden Morgen. Heute hat die Sonne trotz der frühen Stunde schon richtig Kraft, doch das mache ich zu jeder Jahreszeit, bei Wind und Wetter. Ob ich das schon immer getan habe oder ob ich es mir vor einem halben Jahr angewöhnt habe? Ich weiß es nicht. Selbst so profane Dinge wie meine Lieblingsfarbe, mein Lieblingsessen oder meinen Lieblingsschriftsteller kann ich nicht auf Anhieb nennen. Ich musste mich quasi neu erfinden, als ich vor sechs Monaten mein Gedächtnis verlor. Die ersten Wochen waren die Schlimmsten. Jeden Morgen wacht man auf und fragt sich: Wer bin ich eigentlich?
Nur Jo habe ich es zu verdanken, dass ich nicht durchgedreht bin. Er ist Arzt und hatte gerade Schicht, als ich mit Blessuren und ohne Gedächtnis ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Ich hatte nichts – kein Handy, kein Portemonnaie, keine Identität. Er hat sich meiner angenommen, weil er nun mal so ist. Er ist ein guter Mensch, einer, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann und in seinem Urlaub bei den Ärzten ohne Grenzen aushilft. Jedenfalls haben wir uns ineinander verliebt, und ich bin bei ihm eingezogen. Wir nennen mich Carolin, laut Arzt muss ich Mitte dreißig sein. Carolin fühlt sich immer noch fremd an, aber ich hoffe, dass meine Erinnerungen eines Tages zurückkommen. Ich soll es nicht forcieren, und da ich keine Anhaltspunkte und keine Bezugspersonen von früher habe, kann ich das auch gar nicht, aber es fühlt sich seltsam an. Warum hat mich niemand als vermisst gemeldet? So konnte nicht einmal die Polizei in den vergangenen Monaten etwas über mich herausfinden. Ich selbst kann nichts tun, außer zu warten, und das ist manchmal ziemlich frustrierend. Ich hasse es, zu warten. Geduld ist nicht meine Stärke, war es wahrscheinlich noch nie. Immerhin das weiß ich über mich.
Und ich weiß, dass ich neugierig bin. Ich gehe näher zum Esstisch und will nach dem Zettel greifen – einem gelben Post-it. Doch als ich die Worte darauf lese, halte ich inne: ERINNERE DICH! In Versalien springt mir die Aufforderung entgegen und lässt mein Herz augenblicklich höher schlagen. Ich weiche zurück, Schritt für Schritt, bis ich die Arbeitsfläche der Küche in meinem Rücken spüre. Ein seltsames Gefühl ergreift Besitz von mir. So habe ich mich zu Beginn meiner Amnesie immer gefühlt, als ich mein Leben neu ordnen musste.
Jo kommt hinunter in den Wohnbereich, der quasi das gesamte Erdgeschoss einnimmt: Die Küche geht ins Esszimmer über, das Esszimmer ins Wohnzimmer. Ich kann Jos Aftershave riechen, obwohl ich so flach atme.
»Morgen, Liebes«, begrüßt er mich. »Alles okay? Du siehst irgendwie blass aus.«
»Der Zettel …«, stottere ich und starre weiterhin auf den Esstisch.
Jo wirft nur einen kurzen Blick auf die blank polierte Holzplatte. »Was für ein Zettel?« Er geht weiter, stellt sich neben mich und fängt an, sich einen Kaffee zuzubereiten.
Nun starre ich ihn an. Er sieht gut aus: groß, männlich, markante Gesichtszüge. »Der Zettel, das gelbe Post-it«, wiederhole ich und zeige auf den Esstisch.
Jo dreht sich kurz um. »Da liegt aber nichts, Liebes.« Er runzelt die Stirn, tritt vor mich, legt mir den Handrücken auf die Stirn und öffnet meine Augen ein Stück weiter, scheint aber nichts Körperliches festzustellen. »Was soll das denn für ein Zettel sein?«
Ich zittere ein bisschen und versuche, es unter Kontrolle zu bekommen, aber es will mir nicht gelingen. »Ein gelbes Post-it. Erinnere dich steht dort in Versalien.«
Die Falten auf Jos Stirn vertiefen sich. »Dein Unterbewusstsein scheint dir einen Streich zu spielen. Ich kann den Kollegen gern mal darauf ansprechen, aber an deiner Stelle würde ich mir keine Sorgen machen. Es ist nur allzu verständlich, dass du frustriert bist, immerhin sind inzwischen sechs Monate vergangen.«
Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln. »Du hast sicher recht.«
Jo streicht mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. »Ich kann hier bleiben, wenn du nicht allein sein willst. Die Kollegen werden das verstehen.«
Doch ich schüttele den Kopf. »Quatsch, das ist nicht nötig. Geh du nur, ich hab auch zu tun.«
»Bist du sicher? Ich müsste nämlich gleich los.«
»Absolut. Warte, ich fülle dir deinen Kaffee in einen To-go-Becher.«
»Das ist lieb, ich …« Er sucht in den Taschen seiner Jeans. »Mist, ich hab mein Handy oben liegen lassen. Bin sofort zurück.«
Jo verschwindet die Treppe nach oben, während ich den Becher aus dem Schrank suche. Ich will den aufkommenden Impuls unterdrücken, schaffe es aber nicht, also spähe ich vorsichtig über die Schulter Richtung Esstisch.
Der Zettel ist fort.

»Gibst du mir den Wein?«, fragt Jo und streckt bereits die Hand nach der Flasche aus, die ich ihm reiche.
Er kocht die Tomatensoße für mich, die ich von Anfang an mochte. Es riecht wunderbar nach Knoblauch, Tomaten und Kräutern. Im Hintergrund läuft klassische Musik, die Jo gern zum Kochen oder zur Entspannung hört und die ich in Ermangelung einer eigenen Lieblingsband nur zu gern mithöre.
Während Jo Wein in die fast fertige Soße gibt, die Nudeln abgießt und den Tisch deckt, stehe ich da wie bestellt und nicht abgeholt. Er will, dass ich mich schone, dabei wäre ich am liebsten ins Kino oder Restaurant gegangen, als Jo endlich nach Hause kam. Es ist so schönes Wetter. Den ganzen Tag konnte ich mich nur schwer konzentrieren und habe mehr oder weniger erfolglos versucht, nicht die ganze Zeit an den Zettel zu denken beziehungsweise auf die Stelle auf dem Esstisch zu starren und nach Beweisen zu suchen, dass ich nicht verrückt werde. Aber Jo hat einen langen Tag hinter sich und wollte es sich einfach nur zusammen mit mir gemütlich machen. Was hätte ich da sagen sollen? Er hat so viel für mich getan, und ich kann ihm kaum etwas zurückgeben.
»Wein?«, fragt Jo.
Ich nicke, und er gießt denselben Rotwein, den er auch zum Kochen verwendet, in ein Glas. Wir stoßen an, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Ich nehme einen Schluck, setze mich an den Tisch und fange langsam an, mich zu entspannen, als Beethovens Ode an die Freude an der imposantesten Stelle plötzlich unterbrochen wird. Mitten in den Chor hinein ertönt plötzlich eine tiefe Stimme. »Erinnere dich!«, sagt sie, dann singt der Chor weiter, als wäre nichts geschehen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, wie immer an dieser Stelle, doch dieses Mal hat es nichts mit der überaus gelungenen Komposition zu tun. Ich beginne zu zittern und stelle schnell das Weinglas ab, bevor ich etwas verschütte. Ich ringe noch mit mir, ob ich es Jo sagen soll oder nicht, doch sein besorgter Blick ist längst auf mich gerichtet.
»Was ist los?«, will er wissen.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Alles gut.« Wenn er es auch gehört hätte, würde er jetzt nicht fragen, und ich will nicht, dass er mich für verrückt hält. Aber Jo lässt nicht locker, bis ich ihm von der Stimme mitten im Gesang erzähle.
Er setzt sich auf seinen Stuhl und nimmt meine Hand in seine. »Denkst du in letzter Zeit viel über deine Vergangenheit nach?«
»Nicht mehr als sonst«, antworte ich. »Wobei … Wenn ich ehrlich bin, macht es mir schon ein bisschen zu schaffen, dass ich immer noch am selben Punkt stehe wie vor sechs Monaten. Ich meine …«
Doch Jo schüttelt den Kopf, ehe ich weitersprechen kann. »Das alles hat nichts mit Logik zu tun, Carolin. Früher oder später wirst du Antworten erhalten, aber bis dahin musst du dich in Geduld üben. Du weißt, was Dr. Hirschmann gesagt hat. Du sollst es nicht forcieren und warten, bis die Erinnerungen von allein kommen.«
Ich atme tief durch und nicke. »Du hast recht. Ich liebe dich, Jo. Keine Ahnung, was ich ohne dich tun würde.«
Grinsend gibt er mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich habe immer recht, deshalb bin ich ja Doktor geworden.« Er steht auf und holt die Teller, die er längst angerichtet hat und die noch auf der Arbeitsfläche stehen. »Na komm, lass uns erst mal was essen, und dann machen wir es uns auf dem Sofa gemütlich.«
»Das klingt gut«, sage ich, während ich noch versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass der Zettel und die gesprochenen Worte nur meiner Fantasie entsprungen sind.

Jo reicht mir ein Martiniglas mit giftgrünem Inhalt. Ich versteife mich auf dem Sofa, wo ich sitze, als mir der Geruch von Wermut, Anis und Fenchel in die Nase steigt, auch wenn ich keine Ahnung habe, warum. »Ein Absinth Martini?«, frage ich. Ich kenne den Cocktail, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, ihn jemals getrunken zu haben. Zumindest nicht in den letzten sechs Monaten.
Jo nickt und setzt sich neben mich. »Gab es neulich bei einem Kollegen zu Hause als Aperitif. Schmeckt echt gut, probier mal.«
Ich nehme einen Schluck und versteife mich noch mehr. Dieser Geruch, dieser Geschmack … Der Cocktail erinnert mich an etwas. Wenn ich nur wüsste, an was.
»Und?« Jo wirft mir einen Seitenblick zu.
Dieses Mal scheint er meine Verwirrung nicht zu bemerken, und das ist mir auch ganz recht. Ich lächle und stelle das Glas auf dem Couchtisch ab. »Wirklich lecker. Süffig.«
»Nicht wahr? Dann wollen wir mal.«
Der Fernseher ist bereits eingeschaltet, die Blu-ray im Player. Jo greift nach der Fernbedienung und drückt auf Start. Kurz darauf flimmert sein Lieblingsfilm über den Bildschirm: Stirb langsam mit Bruce Willis. Ich mache es mir gemütlich, kuschele mich an Jo und beginne tatsächlich zu vergessen und mich zu entspannen, je länger der Film dauert und je mehr ich von dem Cocktail trinke. Doch dann passiert es, als nach gut zwei Stunden der Abspann läuft und im Hintergrund wieder die Ode an die Freude zu hören ist. Während sämtliche Mitwirkende an dem Film aufgelistet werden, erscheinen die Worte ERINNERE DICH! auf dem Bildschirm. Ich zucke zusammen und greife nach der ersten Schrecksekunde nach der Fernbedienung, um das Bild einzufrieren, doch die Worte sind schon wieder verschwunden.
»Was ist los?«, fragt Jo neben mir zum zweiten Mal an diesem Abend.
»Sag nicht, dass du es nicht gesehen hast«, fahre ich ihn an, auch wenn er nichts dafür kann. Ich spule zurück, in meiner Aufregung zu weit, sodass ich wieder vorspulen muss. So geht das Ganze ein paar Mal, bis ich endlich die richtige Stelle finde. ERINNERE DICH! Ich habe es mir nicht eingebildet, die Worte sind tatsächlich mitten im Filmabspann zu lesen. Ich friere das Bild ein, zeige auf den Fernseher und schaue zu Jo, dessen Gesichtsausdruck irgendwo zwischen verwirrt und besorgt gefangen ist. Sofort verlässt mich jede Hoffnung, dass er die Worte auch sehen könnte, und ich sacke in mich zusammen.
»Wieder diese Aufforderung?«, fragt Jo leise, und ich nicke, während er seufzt. Er nimmt mir die Fernbedienung aus der Hand, schaltet den Fernseher aus, legt einen Arm um mich und zieht mich näher zu sich. »Möchtest du, dass ich morgen einen Termin bei Dr. Hirschmann für dich vereinbare?«
Mein Herz schlägt schneller, meine Handflächen werden feucht. »Hältst du das denn für notwendig?«, frage ich vorsichtig.
Jo deutet ein Schulterzucken an. »Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Als Kardiologe kenne ich mich mit retrograder Amnesie nicht aus. Ich habe absolut keine Ahnung, ob das, was du gerade durchmachst, normal ist. Ich hätte längst mit Dr. Hirschmann geredet, aber er hatte Nachtschicht, sodass er bereits fort war, als ich heute früh in die Klinik kam.«
Er streicht sich die dunklen Haare aus der Stirn, dabei sind sie nicht einmal zu lang. Sie sind niemals zu lang, denn Jo geht alle sechs Wochen zum Frisör. Manchmal frage ich mich, warum er seine Haare nicht länger trägt. Es würde ihm bestimmt gut stehen, aber Jo ist ein Kontrollfreak. Vielleicht hätte er nicht Arzt werden sollen, denn als Arzt hat man niemals alles unter Kontrolle. Nicht alle Patienten schaffen es, und wenn Jo einen verliert … Dann ist er den ganzen Tag lang für niemanden mehr ansprechbar, nicht einmal für mich.
»Es geht schon wieder«, sage ich, weil ich plötzlich das Gefühl habe, ihn beschützen zu müssen. Er sieht müde aus und irgendwie … verstört. »Lass uns schlafen gehen.«
»Bist du sicher?«
»Bin ich«, sage ich, dabei fühle ich mich gerade überhaupt nicht müde. Ich habe Angst vor dem, was ich heute Nacht träumen könnte.
Ich reiche Jo die Hand und ziehe ihn hoch. Schnell machen wir Ordnung, schütteln die Sofakissen auf, stellen die leeren Cocktailgläser in die Spülmaschine, weil Jo es hasst, morgens aufzustehen und nicht alles picobello vorzufinden, und gehen dann nach oben. Ich ziehe meinen Pyjama an und warte, bis Jo aus dem Bad kommt, bevor ich hineingehe, um mich fertig zu machen. Er braucht seine Privatsphäre, wenn er sich morgens und abends fertig macht, und das respektiere ich, auch wenn ich es nicht verstehe.
Ich beeile mich, denn ich brauche ein bisschen Nähe und will keinesfalls allein im Bett liegen. Aber als ich ins Bett krieche, um mich an Jo zu kuscheln, schläft er bereits. Lange starre ich an den winzigen Silberstreif an der Decke, den der Mond dort hinzaubert, bis ich endlich selbst einschlafe.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, erinnere ich mich dunkel an einen seltsamen Traum. Ich trinke einen giftgrünen Cocktail, habe einen Autounfall und absolut keine Erinnerungen mehr, als ich im Krankenhaus wieder aufwache.
Ein Traum. Das ist nur ein Traum, beruhige ich mich und drehe mich auf die andere Seite, doch Jo ist bereits aufgestanden. Ich höre das Wasserrauschen der Dusche. Das plötzliche Verlangen, mich zu ihm unter die Dusche zu stehlen und mich an ihn zu schmiegen, wird fast übermenschlich, doch ich unterdrücke es. Jo hat zwar noch viel Zeit, bevor er in die Klinik muss, aber er mag es nicht, wenn ich ihn morgens störe. Überhaupt war er in letzter Zeit ein wenig unnahbar.
»Das hat nichts zu bedeuten. Auf der Arbeit ist gerade unglaublich viel los, da ziehe ich mich immer zurück. Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen darüber.«
Das hat Jo zu mir gesagt, als ich ihn darauf angesprochen habe, und ich habe ihm geglaubt, weil ich nicht daran denken will, was die Alternative wäre. Dabei könnte ich gerade jetzt ein bisschen Nähe vertragen.
Seufzend stehe ich auf, ziehe den Seidenbademantel über und steige die Treppe nach unten, um mir wie jeden Morgen einen Kaffee zu kochen und mich für ein paar Minuten auf die Terrasse zu stellen. Ich unterdrücke die aufkommende Angst, doch ich kann nicht verhindern, dass mein Blick sofort hinüber zum Esstisch huscht, sobald dieser in Sicht kommt. Erleichtert stelle ich fest, dass er leer ist. Kein Zettel. Dafür hängt ein Duft in der Luft, der nicht hierher passt, der mir aber seltsam vertraut vorkommt, wie der Geruch des Cocktails vom Vorabend. Es ist ein süßes Damenparfüm, das nach Rosen duftet. Unruhe ergreift mich, ich schlucke. Tausend Fragen jagen mir durch den Kopf: Warum riecht es in unserem Wohnzimmer nach einem Damenparfüm, obwohl ich keines benutze? Warum kommt mir dieser Duft so vertraut vor? Und warum passieren um mich herum plötzlich so merkwürdige Dinge? Doch ich dränge die Fragen, auf die ich ohnehin keine Antwort habe, zurück und mache mich stattdessen daran, Kaffee zuzubereiten. Die routinierten Griffe beruhigen mein schnell schlagendes Herz langsam wieder, und ich bin froh, als der Duft der frisch gerösteten Bohnen den Duft des Parfüms überdeckt.
Barfuß und mit der Kaffeetasse in der Hand gehe ich hinüber zur Terrassentür, aber bevor ich sie öffnen kann, bleibt mein Blick am Couchtisch hängen. Dort liegt ein Fotoalbum. Aus unerklärlichen Gründen schlägt mein Herz sofort wieder schneller. Jo lässt seine Fotoalben nie herumliegen, und er hat sie mir auch noch nie gezeigt. Überhaupt reden wir nicht viel über seine Vergangenheit. Ich bin immer davon ausgegangen, dass er nur Rücksicht auf mich nehmen will, weil ich gewissermaßen keine Vergangenheit habe, doch dieses Mal will sich mein Verstand mit dieser Ausrede nicht zufriedengeben. Irgendetwas geht hier vor sich, auch wenn ich noch nicht begreife, was. Ich werde nicht verrückt. An diese Hoffnung klammere ich mich, denn was bleibt mir sonst für eine Wahl?
Finger weg, du wirst die Büchse der Pandora öffnen, ruft mir mein Verstand laut zu, und auch mein Herz will mir mit dem schnellen Schlagen sagen, das Album liegen zu lassen. Doch anstatt das Fotoalbum zu ignorieren – was wirklich vernünftig wäre, denn Jo wird bestimmt wütend, wenn ich es mir allein ansehe –, ignoriere ich sämtliche Warnzeichen. Nachdem ich die Kaffeetasse abgestellt habe, greife ich vorsichtig nach dem Album, als könne es wie ein bissiger Hund nach mir schnappen. Einen Moment lausche ich in die Stille, doch außer Stille ist nichts zu hören, nicht einmal der Haartrockner. Jo könnte jeden Moment herunterkommen, doch auch diese Warnung überhöre ich. Es ist, als würde das Fotoalbum eine magische Anziehungskraft auf mich ausüben, der ich nicht widerstehen kann. Als würde ich in dem Album Antworten auf all meine Fragen finden.
Ich schlage die erste Seite auf und entdecke ein Bild, auf dem Jo zusammen mit einer Frau zu sehen ist. Sie hat rotblonde Haare und Sommersprossen und ein wirklich hübsches Gesicht; wie das Gesicht einer Puppe. Und sie trägt ein elfenbeinfarbenes Hochzeitskleid. Es ist schlicht, hat eine Herzcorsage und einen langen ausgestellten Rock. Um die Taille ist ein silbernes Glitzerband gezogen. Jo würde dieses Kleid lieben, und die Tatsache, dass er eine Fliege im selben Farbton zu einem dunklen Anzug trägt und das Paar einander strahlend ansieht, anstatt in die Kamera zu schauen, verrät mir, dass er der Bräutigam ist. Mein Herz bleibt einen Moment stehen. Jo war schon einmal verheiratet? Warum weiß ich nichts davon?
Ich blättere weiter und finde noch mehr Bilder von Jo und der rotblonden Frau, deren Anblick in mir dieses beklommene Gefühl auslöst, dass ich so sehr verabscheue. Es ist, als würde ich diese Frau kennen, dabei weiß ich, dass das nicht sein kann. Es ist unmöglich. Doch dann entdecke ich zwischen all den Bildern ein Bild, auf dem Jo mit der rotblonden Frau in einer Art Biergarten sitzt – zusammen mit mir.
Mir bleibt die Luft weg, als mich die Erinnerungen plötzlich überrollen wie eine Welle, die mich zu ertränken droht. Mein Name ist Stefanie. Ich bin sechsunddreißig Jahre und Single, habe viele Haustiere und keine Familie mehr. Zwar habe ich Freunde, aber mehr oberflächliche Freundschaften. Es gibt niemanden, der mich vermisst, wenn ich plötzlich von der Bildfläche verschwinde. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag.
Eine oberflächliche Freundin war auch Laura. Laura ist die Frau mit den rotblonden Haaren von den Fotos, die mit Johannes verheiratet war und die gern Rosenparfüm getragen hat. Ich kenne Laura von der Arbeit, wir haben zusammen in einer Boutique für Brautkleider gearbeitet. Wir waren hin und wieder zusammen was trinken; ein oder zwei Mal war auch Johannes dabei. Einen Moment frage ich mich, warum dieses Bild zwischen all den anderen im Fotoalbum klebt, doch ich schiebe diesen Gedanken beiseite, so wie ich die Gedanken an Johannes, der sich jetzt Jo nennt, beiseiteschiebe.
Laura war krank, sie musste mehrfach in der Woche zur Dialyse und brauchte dringend eine Spenderniere, doch die Warteliste ist lang, und Laura hatte nicht mehr viel Zeit. Ich habe mich angeboten, auch wenn ich gar nicht mehr so genau weiß, warum, und tatsächlich passte meine Niere. Am Tag vor der angesetzten OP hat dann eine »Freundin« ihren Junggesellinnenabschied gefeiert. Sie hat mich überredet, zu kommen, und sie hat mich überredet, einen Absinth Martini zu bestellen. Keine Ahnung, warum ich das getan habe. Ich muss ein schrecklicher Mensch gewesen sein. Jedenfalls war meine Niere am Tag der OP nicht brauchbar, weil sie den Alkohol noch nicht komplett ausgeschieden hatte, und die OP musste verschoben werden. Zur eigentlichen Transplantation ist es jedoch nie gekommen, weil sich Laura einen Keim eingefangen hat. Sie wurde immer schwächer, bekam schließlich eine Lungenentzündung und verstarb. Johannes hat es mir nie verziehen, was ich verstehen kann. Ich durfte nicht einmal zu Lauras Beerdigung kommen, allerdings war ich trotzdem auf dem Friedhof, um mich nach dem ganzen Trubel von Laura zu verabschieden und sie um Verzeihung zu bitten. Ich kam nie über die Schuld hinweg, die ich auf mich geladen habe. In den Monaten nach Lauras Tod trank ich zu viel Alkohol, zu viel Absinth Martini, um mich selbst zu quälen. Ich verlor meinen Job, isolierte mich von allem und jedem. Am Ende fuhr ich alkoholisiert mit dem Auto, baute einen Unfall und verlor mein Gedächtnis.
Ich erinnere mich, wie ich im Krankenhaus aufwache, wie sich Jo meiner annimmt und mit mir zur Polizei geht. Und ich erinnere mich an den Polizisten mit den kurzen rotblonden Haaren, der mir eigentlich helfen sollte. Ihn habe ich auch auf dem Friedhof nach Lauras Beerdigung gesehen; wahrscheinlich ist er ihr Bruder.
Ich höre ein Geräusch, das Knarzen einer Stufe, und sehe auf. Jo steht am Fuß der Treppe, in der einen Hand eine Tasche, in der anderen einen Zettel. Ich lasse das Fotoalbum fallen. Mit einem Knall landet es auf dem Parkett; ein Foto löst sich und segelt unters Sofa. Ich will es aufheben, doch ich bin unfähig, mich zu bewegen. Der Blick aus Jos blauen Augen ist eiskalt und mir wird klar, was ich mir nicht eingestehen wollte, seit ich das Fotoalbum geöffnet habe: Er hat das alles geplant. Johannes hat das alles geplant. Im Krankenhaus hat er mich erkannt und mich mitgenommen, mit dem einzigen Ziel, mich zu Fall zu bringen. Das Post-it, die versteckten Nachrichten in Beethovens Symphonie und dem Filmabspann, der Cocktail und Lauras Parfüm, das Fotoalbum – das alles sollte dazu dienen, meine Erinnerungen wachzurufen.
Wie sehr habe ich mir diesen Moment in den letzten Monaten herbeigewünscht, doch jetzt wünschte ich, ich hätte mich nie erinnert.
»Warum?«, frage ich tonlos, obwohl ich die Antwort längst kenne.
Johannes steht immer noch reglos am Fuß der Treppe. »Du hast mir alles genommen, mein Leben ruiniert. Du sollst leiden, wie ich gelitten habe und immer noch leide.«
»Mein Leben war längst ruiniert«, sage ich leise, und es stimmt. Ich hatte nichts und niemandem mehr, und jetzt stehe ich wieder allein da.
Johannes ignoriert mich und meinen Kommentar. Während er sich voller Abscheu abwendet, sagt er: »Wenn ich heute Abend nach Hause komme, bist du auf die eine oder andere Weise verschwunden. Ich lasse dir die Wahl, doch ich will dich nie wieder sehen.« Er stellt die Tasche auf den Boden und legt den Zettel sowie einen Kugelschreiber aus seiner Hosentasche darauf. »Das Fenster in meinem Arbeitszimmer steht offen«, fügt er hinzu. Dann greift er nach seinem Schlüssel, öffnet die Tür und schlägt sie hinter sich zu; hinter sich und dem gemeinsamen Leben, das wir bis vor ein paar Minuten noch hatten.
Eine dunkle Vorahnung erfasst mich. Ich fühle mich wie benommen, als ich zur Tür gehe und nach dem Zettel greife, der auf der Tasche liegt. Es ist ein Organspendeausweis. Er ist bereits ausgefüllt und muss nur noch unterschrieben werden.
Meine Hand zittert. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastehe, den Kopf voller Gedanken und gleichzeitig leer. Schließlich nehme ich den Stift, unterschreibe den Ausweis und lege ihn an die Stelle auf dem Esstisch, wo am Morgen zuvor das Post-it geklebt hat. Mit Beinen, die mich kaum tragen wollen, gehe ich zum Telefon, um den Notruf zu wählen. Ich sehe mich noch einmal um in dem Haus, in dem ich mich bis vor wenigen Minuten noch wohl und geborgen gefühlt habe. Dann steige ich die Treppe nach oben in den zweiten Stock.

 

Schreibe einen Kommentar