PatrickBinhackDer Fan

Schreie füllen den gesamten Raum. Es riecht nach Feuerwerkskörpern. Zufrieden wartet er bis es still wird.
David Linde verlässt die Bühne über eine schmale Treppe. Erschöpft bahnt er sich seinen Weg durch den verwinkelten Backstage-Bereich der Konzerthalle, bis er schließlich seine Garderobe erreicht. Vor der Tür steht Joe, Davids Security.
»Hey Joe«, grüßt er ihn.
Die Arme vor der Brust verschränkt geht Joe zur Seite. »Hey.« Der glatzköpfige Hüne nickt ihm zu als David durch die Tür geht.
Kaum hat er sie hinter sich geschlossen, geht er auf den Tisch im rechten Teil des Raumes zu. Darüber hängt ein Spiegel, der nahezu die halbe Wand bedeckt. Auf dem Tisch steht ein Glas und eine Flasche Balvenie Double Wood, ein schottischer Singe Malt Whisky; in Davids Augen einer der besten Whiskeys, die er je getrunken hat. Er nimmt sich das Glas vom Tisch und schaut in den Spiegel. Seine Haut glänzt vom Schweiß. Einzelne Haarsträhnen kleben ihm im Gesicht. Er spürt die Erschöpfung in seinen Gliedern.
Du bist eben keine zwanzig mehr.
Das Konzert war kräftezehrend. Das merkt er nicht nur in den Beinen oder am Rücken. Sein Rachen fühlt sich trocken und gereizt an. Immerhin hat er fast zwei Stunden auf der Bühne gestanden und sein Bestes gegeben. Doch dagegen hat er schnelle Abhilfe.
David füllt das Glas. Zufrieden genießt er das nussige Aroma, der Geruch von Zimt steigt ihm in die Nase. Das Ritual stammte aus alten Zeiten, als er noch Sänger seiner ehemaligen Band war. Damals hatten er und die anderen nach jedem Konzert eine Flasche geleert, jeder für sich allein. Die Exzesse waren der Grund gewesen, warum er sich von der Band getrennt hatte und seine Karriere solo fortsetzte. Die Jungs hatten ihn dafür gehasst. Er allerdings weiß, dass er sich richtig entschieden hatte. Wenn er jetzt trank, reichte ihm ein Glas.
Läutende Kirchenglocken lassen ihn hochschrecken. Irritiert blickt er sich im Zimmer um.
Ist das sein Handy? Hat er schon wieder aus Versehen den Klingelton verändert?
Er nimmt ein schwaches Licht im Augenwinkel war. Dann sieht er es.

Auf dem Tisch liegt ein ihm unbekanntes Handy. Als er danach greift, wird der Bildschirm schwarz.
Wo kommt das denn her?
Es ist verhältnismäßig groß und die Hülle besteht aus einer dunkelroten, metallischen Oberfläche.
Sein Zeigefinger ertastet einen Knopf an der linken Seite. Er drückt ihn und das Display wird hell. Am oberen Bildschirmrand taucht das Symbol eines Schlosses auf. Daneben steht ZUM ENTSPERREN DEN FINGERABDRUCK NUTZEN.
Dann bemerkt er den Hintergrund – eine schwarze Fläche mit leuchtend weißem Schriftzug: ENTSPERRE ES DAVID.
Was zur Hölle ist das denn für eine Nummer?
Verwirrt wendet er sich der Zimmertür zu.
Hat Joe sich einen Scherz erlaubt?
Neugierig blickt er zurück aufs Handy.
ZUM ENTSPERREN DEN FINGERABDRUCK NUTZEN.
Er zögert, legt dann aber den Daumen auf die rechteckige Fläche unterhalb des Displays.
»Wenn das jetzt -« Der Bildschirm entsperrt sich. »Oha.«
Statt des Bildes ist ein Menü namens EINGEGANGE NACHRICHTEN zu sehen. In der Übersicht ist nur eine einzige Nachricht aufgeführt.
Wem gehört dieses Handy? Und warum reagiert es auf meinen Daumenabdruck?
Zaghaft öffnet er die Nachricht. Der Bildschirm wird schwarz. Aus den Lautsprechern ist ein leises Rauschen zu hören. Ein Video startet.
Ein junges Mädchen schaut ihn an. Sie hat schulterlanges, blondes Haar und strahlend blaue Augen. »Hallo David«, sagt sie. Sie sitzt an einem aufgeräumten Schreibtisch.
»Wer ist das denn?«, murmelt er leise. Als hätte sie seine Frage gehört, antwortet sie ihm.
»Du wirst mich nicht erkennen, da bin ich mir sicher. Aber ich kenne dich, David Linde. Sehr gut, um genau zu sein. Ich weiß, wann du geboren bist. Ich kenne die Namen deiner Eltern. Ich weiß sogar, wie deine erste große Liebe hieß.« Sie muss kichern. »Klar, das alles kann man im Internet nachlesen. Jeder, der sich als halbwegs treuen Fan von dir bezeichnen würde, weiß das.«
David bemerkt die Wand im Hintergrund. Sie ist mit Postern und Plakaten behangen, die Bilder seiner Alben oder ihn selbst zeigen.
»Aber ich bin nicht nur ein Fan, David. Das wusste ich in dem Moment, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«
Begegnet? Ich kenn dich doch gar nicht.
»Bei dem Meet&Greet waren noch andere Mädchen dabei», fährt sie fort. »Dir war natürlich klar, dass sie dich nur mochten, weil du berühmt bist. Dass sie dich einwickeln wollten, mit ihren falschen Komplimenten. Aber du bist freundlich geblieben. Du hast ihre Alben und Shirts unterschrieben und warst höflich, wenn sie nach Fotos gefragt haben. Du warst ein Gentleman. Als ich dann an der Reihe war, hab ich sofort bemerkt, dass es anders war, als bei den anderen.« Die Augen des Mädchens glänzen.
»Das kann doch alles nicht wahr sein«, sagt David zu sich selbst und fährt sich ungläubig mit der Hand durchs Haar.
Ein Groupie hat sich in meine Umkleide geschlichen?
Er ist fassungslos. Joe ist ihm eine Antwort schuldig.
»Da war so eine Energie zwischen uns«, redet das Mädchen weiter. »Ich hab dir tief in die Augen gesehen und es gespürt – als wären wir Seelenverwandte. Als du mich dann gefragt hast, ob wir beide noch zu dir ins Hotel wollen…« Verträumt schaut sie nach oben. »Da wusste ich, dass du es auch gefühlt hast.«
Oh nein. Scheiße.
Davids Gedanken überschlagen sich. Er wird unruhig. »Was redet die für einen Unsinn?«, flucht er lautstark.
Nervös beginnt das Mädchen, mit ihren Haaren zu spielen. »Die Nacht war wunderschön. Du warst so aufgeregt, dass du dir immer wieder nachgeschenkt hast. Und, naja, was soll ich sagen? Irgendwann warst du ziemlich betrunken!« Unkontrolliert beginnt sie zu lachen. »Aber das hat mir nichts ausgemacht. Du warst trotzdem sehr nett zu mir. Und ich bin mir sicher, dass es dir auch gefallen hat.«
David starrt auf das Display. Krampfhaft versucht er sich an das Mädchen zu erinnern. Er beobachtet jede ihrer Bewegungen, achtet genauestens auf ihre Mimik. Er versucht den Klang ihrer Stimme wieder zu erkennen. Ein Teil von ihm weiß, dass es aussichtslos ist. Er erkennt sie nicht.
»Ich will dir etwas zeigen.« Die Stimme des Mädchens holt ihn aus seinen Gedanken. »Du hast zwar versprochen, du würdest dich melden – immerhin hab ich dir meine Handynummer gegeben – aber, kein Problem.« Ihre Hand macht eine abwinkende Geste. »Du hast bestimmt viel zu tun und ich könnte dir niemals sauer sein. Das weißt du sicher. Deshalb hab ich dieses Video für dich gemacht. Ich hab nämlich eine kleine Überraschung für dich.« Sie steht von ihrem Stuhl auf und legt ihre Hände auf ihren Bauch. »Tadaaa! Ich bin schwanger!«, ruft sie und springt freudig auf und ab. »Ist das nicht toll? Wir werden Eltern David!«
Auf einmal wird der Bildschirm schwarz. Davids Blick klebt auf dem Display. Sein Kopf rast.
Wer ist dieses Mädchen? Habe ich wirklich mit ihr geschlafen? Ist sie wirklich schwanger? Von mir? Warum kommt sie mir dann nicht bekannt vor? Nein. Das kann nicht sein.
»Das ist doch irgendein kranker Scherz!«, flucht er und kann sich ein ungläubiges Lachen nicht verkneifen. »Haha, sehr witzig!«, ruft er durch sein Zimmer. »Keine Ahnung wer sich das ausgedacht hat, aber die Nummer ist spitze!« Plötzlich taucht auf dem Display ein Text auf. Das Video ist noch nicht zu Ende.

TRIFF MICH UM 22:00 IM PORTERHOUSE PUB.
WENN DU NICHT PÜNKTLICH ERSCHEINST, WIRD DAS VIDEO IM INTERNET LANDEN. WENN DU JEMANDEM ETWAS ÜBER DAS HANDY ERZÄHLST ODER ZUR POLIZEI GEHST, WIRD DAS VIDEO IM INTERNET LANDEN. DIE FOTOS NATÜRLICH AUCH.

Fotos? Davids Kehle schnürt sich zu. Was für Fotos?
Der Schriftzug verschwindet. Ein Bild erscheint auf dem Display.
»Fuck!« Auf dem Bild ist er zu sehen, schlafend, nackt, auf einem Bett. Eine Decke verbirgt seinen rechten Oberschenkel. Ansonsten ist jeder Zentimeter seines Körpers zu sehen. An der Einrichtung und Erscheinung des Zimmers, das im Hintergrund zu sehen ist, ist eindeutig zu erkennen, dass es sich um ein Hotel handelt. So eindeutig, wie er selbst zu erkennen ist. Er schlägt mit der Faust fest auf den Tisch. »VERFLUCHTE SCHEISSE!«  Eine Lampe, die darauf steht, kippt über die Tischkante und knallt auf den Boden. »Das kann doch nicht wahr sein!« Den letzten Satz richtet er an das Handy, dass er wenige Zentimeter vor seiner Nase hält.
Wenn irgendwas davon im Internet landet…
Egal ob es wahr ist oder nicht, die Presse wird das ausschlachten… Teenie schwanger von Linde…

»Alles in Ordnung?«, fragt Joe. David hatte nicht bemerkt, wie er das Zimmer betreten hatte. »Ich hab einen Knall gehört, und Schreie. Ist alles okay?«
David starrt zu Joe, dann auf die Lampe, die zwischen seinen Füßen liegt, zurück auf das Display des Handys, dann wieder zu Joe.

WENN DU JEMANDEM ETWAS ÜBER DAS HANDY ERZÄHLST ODER ZUR POLIZEI GEHST, WIRD DAS VIDEO IM INTERNET LANDEN.
DIE FOTOS NATÜRLICH AUCH.

»Nein, alles okay.«, sagt er und lässt das Smartphone in seiner Jeans verschwinden. »Ich hab nur was probiert.«
»Probiert?«, fragt Joe. Sein Blick fixiert die Lampe.
David bückt sich nach ihr und stellt sie wieder auf den Tisch. »Genau. Für die Bühnenshow«, sagt er. »Ich hatte eine Idee für eine bestimmte Bewegung während eines Gitarrensolos.« Unbeholfen schwingt er seinen Arm in die Luft. Dazu macht er kreisförmige Bewegungen mit der Hüfte. Er ist sich darüber im Klaren, wie lächerlich er aussieht.
»Hat ja super funktioniert«, bemerkt Joe trocken und ist gerade im Begriff, die Türe wieder zu schließen.
»Joe?« David eilt in schnellen Schritten zu ihm. »War jemand in diesem Zimmer?«, fragt er.
»Was?«
»Ist jemand während der Show in meiner Umkleide gewesen? Hast du gesehen, wie ein Fan sich in den Backstage-Bereich geschlichen hat? Ein Mädchen vielleicht?«
»Nimmst du wieder Drogen?« In Joes Stimme schwingt keinerlei Vorwurf mit. »Nein, natürlich war niemand in deiner Garderobe. Ich war während des gesamten Konzerts hier. Außerdem war die Tür die ganze Zeit über abgeschlossen. Ich hab sie erst geöffnet, als du von der Bühne kamst. Und der Schlüssel…« Er greift sich in die Innentasche seines Jacketts und zieht ein Schlüsselband samt Schlüssel heraus. »…war die ganze Zeit bei mir. Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, ja. Alles bestens.« Dann fällt David der Anfang der Nachricht wieder ein.

TRIFF MICH UM 22:00 IM PORTERHOUSE PUB.

»Weißt du wieviel Uhr es ist?«, fragt er unruhig.
Joe schüttelt den Ärmel seines Jacketts zurück und wirft einen Blick auf seine Uhr. »Viertel vor Zehn. Um genau zu sein – einundzwanzig Uhr einundvierzig.«
21:41. David sieht die Zahlen vor seinem inneren Auge.
Noch neunzehn Minuten. Ich muss mich beeilen.
»Danke Joe.« Er versucht normal zu klingen. Hastig tastet er seine Hosentaschen ab. Er hatte das mysteriöse Handy eingesteckt. Sein eigenes ebenso. Dann verlässt er das Zimmer. Im Gehen wendet er sich nochmals zu Joe um.
»Ach und, weißt du zufällig wo Mike steckt?«, fragt er.
»Der ist vor nicht mal zehn Minuten hier gewesen«, sagt Joe immer noch sichtlich verwirrt. »Er meinte, er wartet im Auto auf dich und die Band. Wolltet ihr nicht nach dem Konzert noch was trinken gehen?«
Mike ist schon beim Auto? Perfekt!
»Danke!« David lässt die Frage unbeantwortet und läuft los. Kaum ist er außer Sichtweite, sprintet er.
Ich muss dieses Mädchen finden. Wenn sie die Wahrheit sagt, muss ich so schnell es nur geht mit ihr reden. Bevor sie etwas Dummes tut.
Zielstrebig rennt er durch den verwinkelten Gebäudekomplex. Er weicht entgegenkommenden Menschen mit Kabeltrommeln und Rollwägen aus, bis er schließlich in der Tiefgarage ankommt. Sofort erkennt er die schwarze Limousine. Sie parkt hinter einer Betonsäule. Aus dem Lauf heraus reißt er die Beifahrertür auf und springt auf den Sitz.
Mike, der auf der Fahrerseite sitzt, lässt erschrocken seine Zigarette fallen. »Heilige Scheiße!« Mit hektischen Bewegungen versucht er, die Glut von seinem Schoß zu wischen. »Was ist denn mit dir los?«, fragt er.
»Tut mir Leid«, sagt David und versucht wieder zu Atem zu kommen. »Wir müssen los. Jetzt.«
Mike beugt sich vornüber in den Fußraum. Er hebt die noch glühende Zigarette zwischen seinen Beinen hervor und steckt sie sich wieder in den Mund. »Schon gut«, sagt er und nimmt einen kräftigen Zug bis sie glüht. »Wo sind die Jungs?«
»Die kommen nach. Wir müssen jetzt wirklich los. Bitte.« Davids Worte klingen beinahe flehend.
»Ihr Rockstars seid doch alle nicht mehr ganz dicht«, bemerkt Mike kopfschüttelnd. Er legt den Gang ein und startet den Motor. »Na dann, wo hin?«
»Porterhouse Pub.«
»Porterhouse Pub«, wiederholt Mike den Namen und tippt ihn ins Navigationsgerät. Auf dem Display erscheint eine Karte samt Route. Darauf steht VERMUTETE ANKUNFSZEIT – 21:59 UHR.
Scheiße. Das wird knapp.
»Gib Gas«, sagt David fordernd.
»Mach ich doch glatt«, antwortet Mike. Er ist schon losgefahren und lenkt den Wagen Richtung Ausgang. »Du bist ja total durch den Wind. Hier.« Er beugt sich zu David und nimmt eine Flasche Mineralwasser aus dem Handschuhfach. »Trink mal einen Schluck Wasser. Tut zur Abwechslung bestimmt auch mal ganz gut. Nicht immer nur Whiskey saufen«, sagt er. Lässig schnipst er den qualmenden Zigarettenstummel aus dem halbgeöffneten Fenster und zwinkert David zu.
»Nein, danke.«
»Glaub mir«. Mike wackelt demonstrativ mit der Flasche vor Davids Gesicht herum. »Das tut gut, vertrau mir. Hab ich erst heute Abend aufgemacht. Hab zwar schon einen Schluck getrunken, aber keine Angst – bin kerngesund.«
David überlegt, und gibt schließlich nach.
Er hat Recht. Ich darf jetzt nicht durchdrehen.
Er schraubt den Deckel ab und nimmt einen kräftigen Schluck. Tropfen prasseln auf die Windschutzscheibe. Es regnet.

Mühsam öffnet er die Augen. Er kann nur schemenhafte Umrisse erkennen. Seine Stirn dröhnt. Immer wieder kippt sein Kopf vornüber und ihm ist unfassbar schlecht. Es riecht nach Öl und Chemikalien. Sein Mund ist trocken.
Was ist passiert?
Sein Bewusstsein kehrt langsam zurück. Er spürt ein Brennen an den Handgelenken und einen stechenden Schmerz in den Schultern. Seine Arme sind hinter seinem Rücken fixiert. Etwas hält seine Hände zusammen. Er bemerkt, dass er auf einem Stuhl sitzt. Die Lehne presst sich in seine Wirbelsäule, sein Hemd fühlt sich feucht an.
Wo bin ich? Warum kann ich mich nicht bewegen?
Stück für Stück kämpft sein Verstand sich zurück. Plötzlich nimmt er eine Bewegung vor sich wahr. Eine Person scheint vor ihm zu stehen. David stöhnt kurz auf.
»Hallo? Ist da jemand?« fragt er in den Raum. Der Schatten scheint sich ihm zuzuwenden. Dann verschwindet er aus seinem Blickfeld. Die Konturen eines Tisches tauchen vor David auf. Darauf ist ein Laptop zu sehen. Ein Video startet.
»Hallo David.« Er erkennt die Stimme sofort.
Das Mädchen…
»Es ist ein Junge«, sagt sie. »Heute war ich beim Ultraschall.«
Davids Umgebung wird immer deutlicher. Obwohl es ihm schwerfällt, seine Lider offen zu halten, kann er eine Halle erkennen. Sie ist groß und leer. Am Ende des Raumes kann er vage ein Rolltor erahnen. Die Decke ist teilweise beschädigt und wird von massiven Betonsäulen gestützt. Er versucht, sich auf den Laptop zu konzentrieren. Das Bild auf dem Display wird klarer. Jetzt kann er das Mädchen sehen. Sie wirkt abgekämpft und blass. Vom Glanz ihrer Augen ist nichts mehr zu erkennen. Stattdessen ist ihr Blick trüb und leer.
»Ich habe mich geirrt«, sagt sie und legt ihre Hände auf ihren Bauch. Er wirkt rundlicher. »Ich war mir sicher, dass du mich liebst. Warum hättest du mich sonst so angesehen? Warum hättest du sonst mit mir geschlafen? So etwas tut man doch nicht, wenn man die Person nicht liebt.« Ihre Stimme zittert. Tränen sammeln sich in ihren Augen. Vorwurfsvoll schaut sie ihm aus dem Laptop entgegen.
Wie in Trance starrt David auf den Bildschirm.
»Aber jetzt habe ich erkannt, dass ich dir nichts bedeute. Dass ich genau so viel wert bin, wie jedes andere Mädchen, das du an diesem Tag umarmt hast. Du spielst mit den Gefühlen anderer Menschen. Wie es ihnen dabei geht, ist dir egal.« Schwermütig sinkt ihr Kopf nach vorn. Sie öffnet eine Schublade des Schreibtisches, an dem sie sitzt. »Aber noch schlimmer bin ich. Ich war blind vor Liebe. Ich hab dir all die E-Mails und Briefe geschickt und nicht einen Moment daran gezweifelt, dass du mir antworten würdest. Ich hab nicht einen Moment an dir gezweifelt. Wie dumm ich doch war… so dumm…«
Sie greift in die Schublade.
Was macht sie da?
»Wie soll ich damit leben, David?« Ihre Stimme bebt, Tränen laufen ihr übers Gesicht. »Ich hasse es!», sagt sie und betrachtet ihren Bauch. »Am Anfang habe ich mich gefreut, aber jetzt hasse ich dieses Kind. Mit jedem Tag mehr.« Sie blickt in die Kamera. »Es ist wie ein Geschwür, das mich von innen zerfrisst.«
Mit zitternden Händen zieht sie eine Pistole aus der Schublade.
Nein. Bitte nicht.
»Du hast es in mich getan, und es tut weh – wie das blinde Vertrauen, dass ich in dich hatte.« 
Die nächsten Sekunden vergehen wie in Zeitlupe. David ist wie gelähmt. Sein Blick an den Bildschirm gefesselt.
»Ich hoffe, dass du das hier siehst.«
Sie hebt den Lauf der Pistole an ihren Kopf.
Oh Gott. Tu das nicht.
»Du hast mein Leben zerstört, David Linde.«
Der Knall ist ohrenbetäubend. Das Echo dröhnt durch die Halle. David sieht, wie das Mädchen von der Wucht des Schusses zu Boden geschleudert wird. Er reißt seinen Kopf zur Seite und schließt die Augen. Ein Schwall Erbrochenes presst sich seinen Hals hinauf und landet plätschernd auf dem Betonboden. Er kann das dumpfe Aufschlagen ihres leblosen Körpers hören. Gefolgt vom Klicken eines Feuerzeugs, dass allerdings nicht aus den Lautsprechern des Laptops zu kommen scheint.
»Hallo?« David öffnet verängstigt die Augen. »Wer ist da?«
»Sarah.« Die Stimme kommt von hinten. »Ihr Name war Sarah. Sie war siebzehn. Minderjährig, verliebt und schwanger.« Eine Bewegung in Davids Augenwinkel lässt ihn zusammenzucken. »Schwanger von einem Mann, der mehr als doppelt so alt ist wie sie selbst.« Die Stimme des Mannes klingt beherrscht. Mit ruhigen Schritten geht er an David vorbei. Eine Rauchwolke schwebt über seiner Schulter. »Und von einem Mann», fährt er fort, »der sie benutzt und weggeworfen hat wie ein dreckiges Taschentuch.« Der Unbekannte klappt den Laptop zu und wendet sich zu David.
Was? Das kann nicht sein!
»Mike?« Davids Magen krampft sich schlagartig zusammen.
»Weißt du, was mich am meisten fertig macht?«, fragt Mike. Kühl zieht er an seiner Zigarette. »Ich hab ihr erlaubt, zu deinem Konzert zu gehen. Ich hab ihr sogar das Ticket zu ihrem Geburtstag geschenkt.« Kaum merklich schüttelt er den Kopf und schaute ins Leere.
»Mike, ich -«
»Sie hat es mir erst erzählt, als sie im dritten Monat war. Natürlich hab ich gesehen, dass sie rundlicher wirkte. Aber schwanger? Nein, ich dachte sie hätte einfach zugenommen. Eines Tages kam sie dann zu mir – ihre Mutter ist schließlich nicht mehr da – und erzählte mir alles.« Erneut nimmt er einen kräftigen Zug von der Kippe. Er legt den Kopf in den Nacken und bläst Rauch in die Luft. »Ich hab mir alles angehört – von eurem Treffen, der Nacht im Hotel, einfach alles. Natürlich hab ich sie getröstet, ihr versprochen dass alles gut wird. Weißt du was?« Er geht einen Schritt auf David zu, der erschrocken seinen Kopf einzieht. »Sie hat mich sogar angefleht, keinen Anwalt einzuschalten. Ist das zu fassen?« Sein lautes Auflachen lässt David zusammenzucken. Mike nimmt einen letzten Zug und schnipst den noch glühenden Zigarettenstummel vor Davids Füße. »Ein paar Tage später,«, spricht er weiter, »ich hatte zwei Stunden davor mit ihr telefoniert, hab ich sie gefunden.« Seine Stimme zittert vor Wut. »Ich kam von der Arbeit nach Hause und sie lag da. Die Kamera lief noch, als ich in ihr Zimmer ging. Der Teppich war voller Blut. Es klebte sogar an der Wand.«
»Es tut…« Davids Stimme versagt. »Es tut mir so -«
Mike geht einen Schritt auf ihn zu. »Du hast meine Tochter auf dem Gewissen.« Er greift hinter seinen Rücken und zieht eine Waffe aus dem Hosenbund. Dann richtet er sie auf Davids Kopf. »Du hast meine Tochter und meinen Enkel getötet, David Linde. Jetzt töte ich dich.«
David schließt wimmernd die Augen. Tränen fließen über seine Wangen. Dann kommt der Knall.

Außer ihm sind noch zwei andere Gäste anwesend. Ansonsten ist die Bar leer. Das gefällt ihm. So ist er mit seinen Gedanken allein. Er denkt über die Ereignisse nach, die vor einem Monat sein Leben veränderten. Die ersten Nächte danach waren schrecklich. Die Halle, Mike, der Lauf einer Waffe vor seinem Gesicht – Bilder die ihn in seinen Träumen verfolgten. Sarahs Augen gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso wie die Schuld, die er empfindet. Doch es wird besser, er braucht nur Zeit – viel Zeit. Gleichzeitig kann er sein Glück nicht fassen. Als er die Polizisten fragte, wie sie ihn gefunden hatten, konnte er die Antwort kaum glauben. Fans hatten sein Leben gerettet. Zwei Mädchen, die davor auf dem Konzert gewesen waren. Sie hatten gesehen, wie Mike und er die Tiefgarage mit der Limousine verlassen hatten. Daraufhin waren sie ihnen gefolgt. Sie hatten beobachtet, wie Mike Davids bewusstlosen Körper aus dem Auto zog – und riefen die Polizei. Der Bluttest ergab, dass Mike das Wasser im Wagen mit Rohypnol versetzt hatte. David konnte sich bis jetzt an nichts erinnern, was zwischen der Ausfahrt der Tiefgarage und seinem Erwachen in der Halle passiert war. Die Polizisten betraten das alte Fabrikgebäude, kurz bevor Mike abdrückte. Durch einen gezielten Schuss ging er zu Boden und konnte verhaftet werden. Beim Verhör erzählte er ihnen alles. Monatelang hatte er recherchiert, bis er Davids Fahrer ausfindig machen konnte. Er fand dessen Lieblingsbar und gab sich dort selbst als Gast aus – die beiden freundeten sich an. Es dauerte nicht lang, bis Mike es schaffte ihn abzufüllen. Er ließ ihn betrunken ins Auto steigen. Ein anonymer Anruf bei der Polizei reichte und er verlor seinen Führerschein – und damit auch seinen Job. Da erschien Mike. Er bekam die Stelle als Fahrer. Als die Termine der Tour bekannt wurden, suchte er die Städte nach umliegenden Plätzen ab. Die leerstehende Fabrik war perfekt geeignet. Schließlich musste er nur noch das Handy in Davids Umkleide platzieren. Da Mike derjenige war, der Davids Whiskey besorgte, war das ein Kinderspiel. Ebenso wie Davids Fingerabdruck im Handy zu speichern. Zu oft war er auf längeren Fahrten in der Limousine eingenickt.
»Guten Abend. Schon entschieden?« Eine junge Kellnerin taucht neben David auf. Sie lächelt ihn an.
»Hallo, eine Sekunde noch bitte«. Er schaut in die Karte, die er seit einiger Zeit gedankenverloren in der Hand hält. Sein Blick fällt auf die Whiskys.
»Falls sie Whisky mögen«, sagt die Kellnerin, »kann ich ihnen den Balvenie empfehlen. Ein schottischer Single Malt.«
David muss schmunzeln. »Wissen sie was?«, sagt er und klappt die Karte zu. »Ich nehme ein Wasser.«  

4 thoughts on “Der Fan

  1. Not Bad! Wirklich – tolle Geschichte! Mal etwas ganz anderes 🙂
    Nicht nur – wie man an die Fingerabdrücke kam, sondern so ganz allgemein. Das mit dem „Fan“ habe ich so hier bei meiner mittlerweile 50. Geschichte die ich gelesen habe, noch nicht gesehen. Daher war diese Art der Abwechslung oder Interpretation wirklich mal sehr wohltuend.
    Allerdings hast du den Spannungsbogen für meinen Geschmack noch etwas zu gering gehalten wenn auch konstant.
    Dran bleiben! 🙂
    Herzlich – Lia

  2. Wow! Das ist eine wahnsinnig tolle Geschichte, die du dir da einfallen hast lassen. Ich hab deine Geschichte in einem Zug durchgelesen. Mein Like hast du auf alle Fälle! 🙂
    Mfg. Martina
    Ps.: Vielleicht hast du ja mal Lust und Laune dazu, auch meine Geschichte “P.S. Ich finde euch” zu lesen.

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