Mimi KronDer Fotograf

„Huhu, Margarethe, hey, hi!“

Oh, bitte nicht. Das fehlte mir jetzt auch noch. Obwohl es ein schöner und sonniger Frühlingstag war – und dieser Umstand normalerweise meine Laune deutlich hob – war es auf der Arbeit sehr stressig gewesen und ich hatte keinerlei Lust mehr auf anstrengende Dinge nach Feierabend. Zumal heute Freitag war und das Wochenende vor der Tür stand. Ich wollte einfach nur meine Ruhe. Doch kaum, dass ich mein Auto in der Auffahrt geparkt hatte, stürmte meine Nachbarin Sabine mit ihrem strahlendsten falschen Lächeln und ihrem feinsten echten Chanel-Kostüm strammen Schrittes auf mich zu. Hundertprozentig hatte sie wieder hinter ihrem Küchenfenster gelauert, bis ich nach Hause kam. Wahrscheinlich wollte sie mich einmal mehr darauf aufmerksam machen, dass meine Mülltonne einen Millimeter zu weit auf dem Bürgersteig stand. Super nervig. Außerdem wusste Sabine, wie sehr ich es hasste, bei meinem vollen Namen gerufen zu werden. Ich heiße Gretchen, nicht Margarethe. Das macht die doch absichtlich. Sie winkte mir pseudo-freundlich zu, so dass ihre Cartier-Armreifen an ihrem nackten Unterarm nur so klimperten. Sabine war hauptberuflich ein Klischee. Arztgattin, schon morgens um 6 Uhr perfekt gekleidet und stets darauf bedacht, die Nachbarschaft auf gesellschaftskonforme Vorschriften aufmerksam zu machen. Sie existierte nur für ihren Gatten und ohne eigene Karriere, ihre zwei entzückenden Kinder – erst kam ein Junge, dann – natürlich – ein Mädchen – und das gemeinsame Heim. Im Prinzip fristete Sabine mit ihrer Familie ein stereotypisches 50er-Jahre-Dasein. Da war es klar, dass ich ihr ein Dorn im Auge war.

Mit meinen 42 Jahren lebte ich mittlerweile seit 12 Jahren als alleinerziehende Mutter von Zwillingsmädchen, 14 Jahre alt, deren Namen Leia und Mantis meiner Liebe zu Science-Fiction-Klassikern und dem Marvel-Universum geschuldet waren. Zwar arbeitete ich als Rechtsanwältin in einer renommierten Dortmunder Kanzlei – und hatte damit laut Sabine zwar wenigstens einen respektablen Beruf. Aber mein Steckenpferd war das Familienrecht – und ich selbst somit in Sabines Augen der Zerstörer heiler Welten. Generell betrachtete meine Nachbarin alleinstehende Frauen, die einem eigenen Job nachgingen, mit einer gewissen Skepsis. Zusätzlich störte sie an mir die Tatsache, dass ich unter meinem businessgerechten Anwältinnen-Look zahlreiche Tattoos auf meinem Körper trug. Diese waren zu Sabines Leidwesen auch ihrem Mann nicht verborgen geblieben, als ich mich eines Tages im Garten – nur mit Bikini bekleidet – sonnte. Unsere Abneigung gegenüber der jeweils anderen war unausgesprochen aber allgegenwärtig und beruhte absolut auf Gegenseitigkeit.

Der immer stärker werdende, aufdringliche Geruch von Chanel No5 riss mich aus meinen Gedanken.

„Oh, hi, Sabine. Was gibt’s?“, sagte ich abweisend, während ich mir die Einkaufstaschen auf die Schultern lud. Leia und Mantis waren bereits mit den restlichen Einkäufen los zur Tür gelaufen und ich versuchte verzweifelt, den Kofferraum mit vollen Händen zu schließen. Warum gab es dafür eigentlich noch keine Sprachsteuerung?

„Ach weißt du, es geht noch mal um die Mülltonnen…“

„Moooomsieeee, guck mal, hier liegt…“, schallte es von unserem Hauseingang.

„Gleich, Schätzchen, ich kann gerade nicht“, rief ich Leia zu und sagte zu Sabine: „Okay, ich stelle die Tonne gleich wieder diesen einen Millimeter zurück, der dich so stört. Sie muss mir gestern Abend etwas verrutscht sein, nachdem ich betrunken den Müll unserer Fast-Food-Bestellung entsorgt habe“. Damit gelang es mir endlich, den Kofferraum zu schließen und die Flucht zur Eingangstür anzutreten. Hinter mir dampfte Sabine empört schnaufend ab. Mantis hatte bereits aufgeschlossen und begonnen, die Einkäufe in die Küche zu tragen, Leia jedoch stand mit einem schwarzen Gegenstand in der Hand vor der Tür. „Was hast du da, mein Mädchen?“, fragte ich interessiert und meine Tochter sprach mit diesem leicht angepissten Tonfall, der Teenagern in diesem Alter immanent zu sein schien: „Ja, wollte ich doch gerade sagen, Momsie. Ein Handy, direkt auf unserer Treppenstufe. Es ist nicht mit einem Code oder so gesperrt, ich wollte mich gerade mal darin umsehen…“, sie streckte mir das Handy entgegen und drehte es einmal herum, damit ich es besser erkennen konnte – und da erst fiel mir der kleine, silberne Anhänger auf, der als Schmuckstück in dem Port für die Kopfhörer steckte. Mir blieb das Herz stehen und die Luft weg. Zwei Einkaufstüten rutschten aus meinen Armen und die Eier knackten in ihrem Karton, als die Tüten auf dem Boden aufkamen. Der Anhänger stellte ein kleines, glitzerndes „Q“ dar. Ein „Q“, welches ich zu gut kannte. Mein Herz hatte mittlerweile zu rasen begonnen. „Gib mir sofort das Telefon“, zischte ich Leia in ungewohnt aggressiven Tonfall an und riss ihr das Handy aus der Hand. „Chill mal, Momsie, was stimmt denn mit dir plötzlich nicht? Hier hast du das Teil. Ist eh alt. Ich räume mal dein Chaos weg! Und: Wir können nichts dafür, wenn du auf der Arbeit Stress hattest!“, mit diesen Worten sammelte sie die Tüten vom Boden auf und trug sie hinein. „Ja, ähm, nein, natürlich nicht. Entschuldigung. Danke, mein Mädchen, du bist ein Goldstück“, antwortete ich abwesend und blickte – immer noch wie angewurzelt vor der offenen Haustür stehend – auf das Handy. Langsam fuhr mein Daumen über den Touchscreen und tatsächlich öffnete sich der Bildschirm ohne Sicherheitsabfrage. Irritiert kam ich jetzt erst auf die Idee, mich in der Gegend umzublicken. Doch wie sehr ich mich auch auf meine Umgebung konzentrierte…es gab keine Anzeichen für irgendjemanden, der mir das Telefon vor die Tür gelegt hatte. Ich schaute auch schnell hinüber zum Haus von Sabine – aber sie war schon im Inneren verschwunden. Endlich wieder Herrin meines Pulses zwang ich mich, das Haus zu betreten. Wenn ich mich jetzt gleich mit dem Inhalt des Handys auseinandersetzte, wollte ich nicht riskieren, dabei auch noch beobachtet zu werden. Ich ging in die Küche, brühte mir einen Earl Grey auf und setzte mich an den Küchentisch.

Erneut ließ ich meinen Daumen über das Display gleiten und blickte auf den entsperrten Bildschirm. Dieses Mal erkannte ich sofort, dass alle Apps, die vorinstalliert und nicht vom Gerät löschbar sind, in einen Ordner auf die zweite Displayseite verschoben worden waren. Alles klar, hier redete jemand nicht lange drum herum, diese Apps waren also unwichtig. Darum bekam nun die einzige Anwendung meine volle Aufmerksamkeit, die noch auf dem Startbildschirm verblieben war. Die Galerie. Ich nippte an meinem Lieblingstee, der auch schon oft Captain Picard in schwierigen Situationen Trost gespendet hatte, öffnete den Bilder-Ordner – und schnappte erschrocken nach Luft. Mein Herz hämmerte wie wild bis in meine Kehle. Der Ordner enthielt augenscheinlich nur Bilder von mir. Ich, wie ich morgens mit den Kindern unser Haus verließ, um sie zur Schule und mich zur Arbeit zu fahren. Ich, wie ich mit einem Kollegen der Staatsanwaltschaft Dortmund zu Mittag aß. Ich, wie ich am Abend das Yoga-Center verließ, in dem ich praktizierte. Ich, wie ich Leia und Mantis an einem der Besuchswochenenden bei ihrem Vater „abgab“. Auf einmal änderte sich die Beschaffenheit und Qualität der Bilder, sie waren älter und zeigten Szenen aus meiner Vergangenheit. Das dumpfe, rasende Klopfen meines Herzens machte mittlerweile den Reitern von Rohan Konkurrenz. Ich, wie ich in einer heruntergekommenen WG hauste. Ich, wie ich mich – meinem Fotografen Grimassen schneidend zugewandt – für meinen Putzjob fertigmachte. Ein Job von vielen, damals, denn es gab niemanden, der mich hätte finanziell unterstützen können. Aber dieses „damals“ war schon lange her und ich hatte kaum jemanden aus der Vergangenheit in mein jetziges Leben mitnehmen können.  Woher also…? Das konnte doch alles nicht wahr sein?! Das Leben der Gretchen N. in Bildern. Ungläubig scrollte ich immer weiter nach unten in der Galerie – und verschluckte mich plötzlich an meinem Earl Grey. Mir wurde augenblicklich speiübel. Denn das letzte Foto in dem Ordner zeigte nicht Gretchen N. Es zeigte eine Frau, die splitternackt an einen Tisch gefesselt war. Ihre Beine standen auf dem Boden und waren mit Ketten unten an den Tischbeinen festgezurrt. Ihr Oberkörper war vorne über gebeugt auf dem Tisch abgelegt, die Hände – weit vor sich gestreckt – ebenfalls an den Tischbeinen angekettet aber natürlich an der oberen Kante. Hinter ihr stand ein maskierter Mann, der sie von hinten penetrierte, während eine ebenfalls maskierte Frau offensichtlich am Anus der Gefesselten beschäftigt war. Ein weiterer Mann mit Maske griff zwischen ihren Oberkörper und die Tischplatte – wohl, um ihre Brüste anzufassen – und masturbierte dabei. In dem Gesicht der Gefesselten aber spiegelte sich am meisten wieder, was die vierte und letzte Person in dieser Szenerie der wehrlosen Frau zukommen ließ: Mit einer Knebel-Kugel im Mund, aus dem ihr der Speichel in Fäden herauslief, und schreckensgeweiteten Augen konnte man ein unfassbares Ausmaß an Schmerz im Gesicht dieser Frau erkennen, als der Rohrstock ihren unteren Rücken traf. Doch ich sah noch etwas Anderes auf diesem Bild. Zwei Dinge. Zum einen, dass sie ein Lederhalsband trug, ähnlich einem Hundehalsband, an dem ein kleines, glitzerndes, silbernes „Q“ baumelte. Und das andere war deutlich in ihren Augen zu erkennen. Neben dem Schmerz bemerkte ich dort unbändige Lust und Erregung durch die „Behandlung“, die der gefesselten Frau zuteilwurde. Woher ich das so genau weiß, dass es sich dabei um Erregung handelte? Na, eben diese gefesselte Frau war ich. Aber nicht Gretchen N., die erfolgreiche Rechtsanwältin. Sondern mein Alter-Ego. Meine geheime Identität. Meine Leidenschaft. Das Bild zeigte Quinn, eine Lustsklavin für dominante Männer und Frauen.

Ich hatte kaum genug Zeit, das Gesehene zu verdauen und mich zu fragen, wer zum Teufel wie an diese Bilder gekommen war, da poppte eine SMS in einem separaten Fenster auf. Ihr Inhalt war genauso beunruhigend, wie die Fotos: „Du ekelhafte, kranke Schlampe. Ich weiß, wer du bist, ich weiß, wer du warst und ich weiß, was du an den Wochenenden tust. Wenn du nicht möchtest, dass deine Kinder, dein Ex-Mann und seine neue Freundin, deine Partner in der Kanzlei und der Rest der Welt das ebenfalls erfahren, hast du mir heute in einer Woche 22.000 Euro und 9 Cent in bar zu zahlen. Ist das erfolgt, werde ich die belastenden Fotos vernichten. Übergabeinstruktionen folgen. Antworten und diskutieren per SMS ist sinnlos, ich zerstöre diese SIM-Karte unmittelbar nach Versand dieser Nachricht. Außerdem ist meine Forderung klar und nicht verhandelbar. Ein Letztes noch: Solltest du die Polizei einschalten, werde ich die Bilder verteilen und veröffentlichen.“

Ich schluckte hart und mir schossen die Tränen in die Augen. Vor Wut, vor Scham, vor Angst und vor Überforderung. Was zur Hölle sollte der Scheiß? Ich fühlte mich, wie in einem Alptraum. Wie in Watte gepackt und völlig fremdgesteuert liefen Sekunden, Emotionen und mögliche Reaktionen an mir vorbei, während ich in absoluter Schockstarre mit stummen Tränen auf meiner Wange am Küchentisch verharrte. „Steh auf, Gretchen“, murmelte ich mir leise aber bestimmt zu. „Steh auf!“ Das tat ich, denn ich wusste, Tränen und Untätigkeit halfen nie. Ich atmete tief durch, ersetze Earl Grey gegen halbtrockenen Dornfelder und wählte Nicks Nummer. Nach dem dritten Klingeln nahm er ab.

„Babygirl, es ist gerade schlecht, kannst du…“

„Du musst“, unterbrach ich ihn. „Jemand hat es herausgefunden. Ich werde erpresst.“

„Ich bin in 20 Minuten da.“

Nick war seit über einem Jahrzehnt mein bester Freund. Nach der Trennung von Leias und Mantis‘ Vater hatten wir beide eine kurze, aber sehr intensive Liaison – ich wollte mehr, er wollte seine Ex-Freundin zurück, End of Story. Gottseidank aber hatten wir es geschafft, unsere Freundschaft zu erhalten und nach wie vor sind wir uns sehr nahe. Auf Nick kann ich mich zu 100 Prozent verlassen. Aus diesem Grunde klingelte es tatsächlich 20 Minuten später an meiner Tür. Ich bat Nick herein und kam gleich zur Sache, erklärte ihm die Situation, zeigte ihm die Bilder – und ließ ihm dann ein paar Minuten, um die Neuigkeiten zu verdauen.

„Du hast mir ja schon von deinen Vorlieben und diesen S/M-Clubs erzählt, aber dich dann so zu sehen…“, sagte er mit verlegenem Blick auf seine Füße. „Komm, vergiss es“, bat ich ihn. „Darum geht es doch jetzt gar nicht. Darüber können wir ein anderes Mal sprechen. Jetzt müssen wir erstmal herausfinden, was diese Scheiße hier soll.“

„Du hast völlig recht. Also: Was haben wir?“, fragte er, jetzt ganz der investigative Journalist, der er war.

„Wir haben gar nix. Er… oder sie – ich will ja nicht sexistisch werden – hat Bilder von mir, die es nicht geben dürfte. Erstens: Der Typ kennt all meine Abläufe, meinen gesamten privaten und beruflichen Alltag. MEINE KINDER!!!! Er weiß, wann und wo wir uns zu welcher Zeit aufhalten. Das ist verflucht beängstigend. Zweitens: Er kennt sogar meine Vergangenheit. Dieses Bild, auf dem ich mich für meinen Putzjob fertigmache… ich frage mich, wo er das herhat. Und drittens und letztens: das Foto aus dem Masotopia. In diesen Clubs darf auf keinen Fall fotografiert werden. Und das Maso ist mein Stammclub. Ich weiß, wie streng diese Regel dort eingehalten und geahndet wird. Und überhaupt, was ist denn das bitte für eine Summe. 22.000, 09 Euro“, fuchtelte ich mit einer Mischung aus Wut und Panik mit erhobenen drei Fingern vor Nicks Nase herum. „Und als ob der Fotograf nach der Geldübergabe die Dateien wirklich alle löscht. ALS OB!“ So in Rage geredet fing ich jetzt doch noch an zu heulen. Ich hatte Angst. Richtig Angst. Angst, meine Kinder zu verlieren. Meinen Job. Mein Leben, wie ich es jetzt kannte und mir so hart erarbeitet hatte. Nick nahm mich wortlos in den Arm.

„Wir müssen die Polizei einschalten“, schluchzte ich. „Wie sollen wir denn sowas alleine schaffen? Man sieht doch in jedem Film, dass das in die Hose geht.“

„Ganz ruhig, Babygirl, wir schaffen das zusammen. Wir machen einen Plan. Wir werden es erstmal alleine versuchen, dokumentieren alle unsere Schritte mit dem Handy und wenn wir gar nicht weiterkommen, können wir die Polizei immer noch einschalten. Willst du wirklich riskieren, aufzufliegen?“, beruhigte Nick mich. „Außerdem:“, fuhr er fort, „Hast du deiner Aufzählung mal gelauscht? Wir haben eine ganze Menge!“ „Ach, hör auf mit dem Schwachsinn“, schniefte ich. „Nur, weil du jede Folge ‚Criminal Minds‘ gesehen hast, bist du noch lange kein Cop. Und auch kein Profiler. Und erst recht kein Dr. Spencer Reid!“ „Nein, ich bin Journalist. Unter anderem für die größte, regionale Zeitung mit Sitz in Dortmund – und das werde ich nutzen, um im Masotopia herauszufinden, wer dich dort fotografiert hat. Denn das ‚Maso‘ – wie du es so liebesvoll nennst – wird mit Sicherheit nicht DER Club in Nordrhein-Westfalen sein wollen, in dem Fotos von seinen Gästen gemacht werden darf. Wenn das öffentlich bekannt wird, können die nämlich ganz schnell komplett dichtmachen. Wenn die dort also nicht kooperieren wollen, sage ich einfach, ich veröffentliche einen Artikel über sie und ihre mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen“, entgegnete Nick mit einem schelmischen und leicht gehässigen Lächeln. „Deine Idee ist zwar gut“, räumte ich ein, „aber ich kenne Daniela, die Inhaberin des Maso. Wir mögen uns. Mir ist nicht wohl, dass wir sie so unter Druck setzen!“ „Ich wiederhole:“, insistierte Nick, „Möchtest du es riskieren aufzufliegen? Und es ist doch gut, wenn ihr euch mögt. Dann wird sie uns sicher gerne bei der Aufklärung behilflich sein!“

Ich fand seine Argumentation absolut stichhaltig und willigte ein, im „Maso“ etwas nachzuforschen. Da heute Freitag war, sahen wir eine gute Chance, direkt aktiv zu werden. Untätig herumsitzen hätte mich auch wahnsinnig gemacht. Wir erzählten den Kindern, wir würden essen gehen, ließen sie einen Star-Wars-Marathon starten, ermahnten sie eindringlich, keinem Fremden die Tür zu öffnen („Orr, ja, Momsie. Wissen wir. Wir sind keine Babys mehr!“) und fuhren in Nicks sehr altem, sehr blauen Opel Astra Cabrio in Richtung Innenstadt. Ich war froh, dass er bei mir war. Ich war froh, dass er von meinem dunklen Geheimnis wusste und mich nicht verurteilte. Ich glaube, er tat es nur deswegen nicht, weil er sich insgeheim die Schuld dafür gab. Die Schuld dafür, dass ich nach dem „ich erwidere deine Liebe leider nicht genau so, wie du es verdienst“-Vorfall in diese „Fetisch Ecke“ wie er sie sah, also Sex ohne Liebe, dafür aber mit Gewalt und Machtgefällen, abgedriftet war. Was er nicht wusste: Da gab es nichts abzudriften. Ich war schon immer so veranlagt, hatte es lange Zeit ausgelebt – es danach aber jahrelang unterdrückt. Wollte ein „normales“ Leben leben. Wenn Nick gewusst hätte, was ich in meiner Vergangenheit noch alles getan hatte…

Bevor sich die Scham über meine Taten – besonders über diese eine, unsägliche Sache – wieder in mir festfressen konnte, stupste mich Nick von der Fahrerseite aus an. „Hey, Grete, wo bist du gerade?“ „Ich frage mich, warum der Fotograf so eine komische Summe will. Klar, 22.000 Euro sind viel Geld und tun mir auch weh. Aber sind wir mal ehrlich: Er kennt mich augenscheinlich so gut, weiß alles über mich, da müsste er doch wissen, dass es eigentlich noch viel mehr bei mir zu holen gäbe. Ich verdiene überdurchschnittlich gut, bin sehr sparsam… das MÜSSTE er dann eigentlich wissen, oder? Und diese 9 Cent. Warum? Das passt alles nicht zusammen.“

„Stimmt“, entgegnete Nick. „Könnte es symbolisch gemeint sein?“

„Nee, ich wüsste nicht wie“, seufzte ich, hatte ich mir doch dahingehend auch schon das Hirn zermartert. „Ich schulde niemandem diese Summe, oder einen Teil davon, keiner aus meiner Familie hat an einem 22. Geburtstag oder ist im September geboren…“ „Du schaust auch zu viele Profiler-Serien“, unterbrach mich mein Freund belustigt.

„Schön, dass du noch grinsen kannst“, zischte ich beleidigt zurück. „Ist ja auch nicht deine Existenz, die bedroht wird.“

„Entschuldige, natürlich hast du recht“, merkte Nick kleinlaut an und noch bevor ich ihn weiter beschimpfen konnte, hatten wir unser Ziel erreicht.

Wir waren extra früh in den Fetisch-Club gefahren, um in Ruhe mit der Besitzerin Daniela sprechen zu können – bevor der normale Betrieb begann. Sie begrüßte mich strahlend: „Hey, Quinn, mit dir habe ich heute gar nicht gerechnet, du stehst nicht auf der Gästeliste. Und – hui – wen hast du denn da heute mitgebracht, hm?“

„Hey, Dan, nein, ich stehe nicht auf der Gästeliste, weil ich nicht zum Vergnügen hier bin. Das ist mein Freund Nick und er steht nicht zur Debatte“, entgegnete ich ihr. Dann bat ich sie, ihre Kollegin Tanja an die Kasse zu holen, damit wir ungestört reden konnten. Wir gingen nach hinten in Danielas Büro und ich weihte sie in die Situation ein. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, stand auf, nahm mich in den Arm und sagte: „Es tut mir so leid, dass dir das passiert. Und natürlich versuche ich, dir so gut es geht zu helfen. Wir sind Freunde, ich brauche dafür keine Erpressung.“ Dabei bedachte sie Nick mit einem beleidigten und sehr strafenden Seitenblick. „Kannst du dich erinnern, an welchem Tag das Bild entstanden sein könnte? Dann schaue ich als erstes in der Gästeliste nach, wer alles da war.“

„Es müsste der Samstag vor vier Wochen gewesen sein.“

„Also gut, lass uns den Fotografen finden!“, sagte Daniela enthusiastisch – und dass, obwohl wir beide wussten, dass wir die Nadel im Heuhaufen suchten. Vor allem, weil ja auch noch an der Abendkasse genügend Gäste um Einlass baten, die dann nicht namentlich erfasst wurden. Und überhaupt: Selbst wenn wir die Gäste hätten komplett auflisten können – niemand benutzte im Anmeldeforum des Maso seinen Klarnamen, anhand dessen ich hätte schauen können, ob ich jemanden erkannte. Und genau so sollte es im Verlauf des Abends auch kommen. Frustriert machte ich mich mit Nick, der übrigens vom Maso recht angetan schien, nachdem er sich etwas umgesehen hatte, auf den Weg nach Hause. „War gar nicht so klischeemäßig wie ich es mir immer vorgestellt hatte“, gestand er mir. „Siehst du. Sag‘ ich doch. Aber das ändert rein gar nichts an der Tatsache, dass wir kein Stück weiter sind und nicht den Hauch eines Anhaltspunktes haben, wer sich hinter dem Fotografen verbirgt“, antwortete ich enttäuscht. Den Rest der Fahrt verbrachten wir schweigend.

Als wir bei mir zu Hause angekommen waren, bat ich Nick noch einen Moment mit herein zu kommen. Ich wollte einfach noch nicht alleine sein. Er sagte zu, folgte mir zu meiner Eingangstür – und rempelte mich von hinten grob an, als ich plötzlich ruckartig stehen blieb.

„Nein, bitte, bitte, nein“, entfuhr es mir panisch, als ich bemerkte, dass sie einen Spalt offenstand. Ich ließ meine Tasche noch im Flur auf den Boden fallen, rannte ins Haus und brüllte aus Leibeskräften die Namen meiner Töchter. „MAAAANTIS! LEEEIA!!!“ Wie eine Irre stürmte ich durch meine Bude, Nick hatte die Situation sofort erfasst und rannte in genau die Ecken meiner vier Wände, in die ich gerade nicht lief. Auch er rief immer und immer wieder die Namen meiner Kinder. Aber sie waren nicht zu Hause. Wie von Sinnen rannte ich alle Stockwerke immer wieder rauf und runter. Ich bekam keine Luft mehr durch das hektische Gerenne – und natürlich wegen der nackten Angst, die mich überfallen hatte. Meine Mädchen waren weg. Meine Mädchen. Meine kleinen Mädchen waren entführt worden.

„Gretchen…GRETCHEN!“ Ich hörte Nicks Stimme wie durch eine sehr dicke Wand hindurch. Vielleicht war die Wand auch nur das Rauschen in meinen Ohren. Ich wusste es nicht genau.

„Gretchen“, tönte es wieder und dabei berührte mich etwas am Arm und durchbrach damit meine innere Mauer. Nick fasste mich grob am Handgelenk und zwang mich zurück ins Hier und Jetzt. „Babygirl, du MUSST dich beruhigen. Ich weiß, es wird dir jetzt schwerfallen, aber wir brauchen einen klaren Kopf.“ „Nick, er hat meine Mädchen. Es ging ihm nie um das Geld. Er hat meine Mädchen!“ Ich schrie es Nick, außer mir vor Panik, mitten ins Gesicht. Ich weinte. Ich war mir völlig sicher, ich würde gleich mit einem lauten, blutigen Knall platzen vor schierer Angst um meine Töchter. Unter Tränen fuhr ich fort: „Es ging ihm nie um das Geld. Er wollte nie die Scheiß-Kohle. Er wollte Leia und Mantis. Von Anfang an. Mir kam der Betrag gleich so komisch vor. Aber warum, Nick? Warum?“ Ich weinte und weinte und ließ mich gegen die Brust meines Freundes fallen. Und plötzlich durchzuckte mich ein heftiger Blitz, er fuhr mir durch den ganzen Körper, als sich die Puzzleteile in meinem Inneren zu einem Bild zusammenfügten und jedes Detail in seinen dafür vorgesehenen Platz fiel – und sich damit meine eben gestellte Frage ganz von selbst beantwortete. Ich stieß mich vehement von Nick ab, meine Hände noch in seinen Pullover gekrallt, sah ihn durch meinen Tränenschleier von unten an und sagte plötzlich ganz ruhig und gefasst: „Ich weiß, wo sie sind. Ich weiß, wo der Fotograf meine Mädchen gefangen hält.“

„Was? Babygirl, was redest du da? Was bedeutet ‚ich weiß, wo sie sind‘?“

„Es bedeutet, dass ich weiß, wo sie sind. Die 22.000, 09 Euro sind wirklich ein Symbol. Aber nicht für eine Geldsumme oder einen Geburtstag. Die Zahlen sind eine Hausnummer. 229. Marasus-Illner-Weg 229.“

„Was ist da?“, fragte Nick mich verwirrt.

„Der Puff, in dem ich vor rund 20 Jahren gearbeitet habe.“

Mit diesen Worten rannte ich los, schnappte mir meine Autoschlüssel von der Anrichte und sprintete raus zu meinem Wagen. „Verflucht, Margarete. Bleib stehen, wir müssen die Polizei rufen. Bist du irre, das können wir nicht alleine regeln“, schrie Nick mir aufgebracht hinterher, nachdem er die eben explodierte Bombe verdaut hatte. „Du bist hier der Irre, wenn du denkst, ich warte auch nur eine Sekunde untätig zu Hause, während meine Babys in den Händen eines Psychos sind und ich auch noch weiß, wo sie stecken“, schrie ich ihn im Laufen an, ohne mich umzudrehen. Mit einem Satz sprang ich in mein Auto und war keine Millisekunde später auf dem Weg in meine Vergangenheit.

Mit quietschenden Reifen parkte ich vor „Mashas Massage-Salon“ im Marasus-Illner-Weg 229. Das Gebäude stand mittlerweile leer, nichts desto trotz brannte in der zweiten Etage schwaches Licht. Im Prinzip genau wie damals. Hell beleuchtete Räume gab es bei uns nicht. Masha legte immer Wert auf eine ruhige, ja nahezu romantische Atmosphäre. Damit unseren Gästen all die Gefühle, Emotionen und die Nähe täuschend echt vorgegaukelt werden konnten, die ihnen zu Hause verwehrt blieben. Masha war damals nicht nur meine Kollegin und Chefin gewesen – sie war auch meine beste Freundin. Als ich mit 19 zu ihr kam, um mich als Hure zu verdingen, damit ich meinen großen Traum vom Jura-Studium wahrmachen und finanzieren konnte, half sie mir, wo immer es ging. Sie teilte meine Schichten so ein, dass ich alle meine Jobs neben dem Studium unter einen Hut bekam. Ich durfte für eine kleine Miete bei ihr wohnen und wir teilten uns von den Zigaretten, über die Männer bis zur Kleidung alles, was wir hatten. Ohne sie hätte ich es niemals geschafft. Als ich dann mein Studium erfolgreich abgeschlossen hatte und sie finanziell unterstützen wollte, ja sogar herausholen aus dem Milieu, lehnte sie dankend ab. „Das ist alles, was ich kann, Liebes“, sagte sie zu mir. Damit war das Thema für sie erledigt. Wahrscheinlich war sie immer noch zutiefst verletzt, als ich mit 22 den Massage-Salon verließ. Wir waren ein gutes – und rentables – Team gewesen. Aber es tat einfach zu weh. Ich konnte nicht dortbleiben, nicht nachdem…

„Ahhhhhhhhhhhhh“….

Ein erstickter Schrei aus dem Gebäude riss mich aus meinen Gedanken. Ich stürmte auf die Haustür zu, die ich dank einer Haarnadel schnell öffnen konnte. Endlich hatte sich dieser Lockpicking-Workshop gelohnt. Ich stürzte ins Treppenhaus, nahm immer zwei Stufen auf einmal und wiederholte den Haarnadel-Trick bei der Wohnungstür. Als ich meine alte Wirkungsstätte betrat, übermannten mich viele Emotionen, doch ich musste ruhig bleiben. Aus dem letzten Zimmer rechts – wir nannten es damals den „Himmel auf Erden“ – drang leises Gewimmer an meine Ohren. Mantis. Ich konnte mein Mädchen weinen hören. Dort angelangt, stockte mir der Atem. Im hinteren Teil des Zimmers stand noch immer das große, massive Himmelbett, nur fehlt ihm der Lattenrost und die Matratze. Stattdessen waren an die beiden äußeren Pfosten, mit den Händen nach oben am Betthimmel festgekettet, meine Mädchen angebunden. Leia links. Mantis rechts. Mantis hatte den Kopf gesenkt, weinte zwar aber wirkte nicht wirklich anwesend. Leia sah wacher und aufrechter aus, doch sah man auch ihr die Torturen der letzten Stunden an. Beide trugen nur ein T-Shirt und einen Slip.

„Momsie, Momsie, oh Gott, du bist da“, Leia bemerkte mich als erste. „Momsie, warum macht er das mit uns? Mantis, Mantis, Momsie ist da. Ich habe gesagt, sie würde kommen, um uns zu retten!“ „Wer, mein Mädchen, wer hat das mit euch gemacht?“, endlich fand ich meine Bewegung wieder, ging auf Mantis zu, die nun ebenfalls aus ihrem Dämmerzustand erwachte aber statt Worten nur einen Hoffnungsschimmer in ihren Augen zustande brachte. Zum dritten Mal an diesem Abend kam meine Haarnadel zum Einsatz und ich öffnete das Vorhängeschloss, welches meine Tochter mit den Ketten am Betthimmel ihrer Bewegungsfreiheit beraubt hatte. Und ihrer unschuldigen, reinen Seele. Ich kämpfte mit den Tränen. „Er sagt, wir hätten dieses Leben nicht verdient. Es wäre seins“, sagte Leia unter erstickten Tränen.

Oh Gott, nein. Nein, das durfte nicht wahr sein. Mir kam der Gedanke zum ersten Mal, als ich das Rätsel um die 229 gelöst hatte. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Es DURFTE einfach nicht wahr sein. Ich ging zu Leia und befreite auch sie von ihren Fesseln, während sie fortfuhr:

„Er sagte, diese Beine“, dabei blickte sie zu ihrer unteren Körperhälfte hinab, „hätten nicht durch SEIN Leben gehen dürfen.“

Jetzt erst bemerkte ich, dass ihre Oberschenkel blutverschmiert waren. Es war ihr eigenes Blut, es tropfte und rann ihre Beine hinab. Denn ihr Peiniger hatte mit einem scharfen Gegenstand einen Satz in ihre Schenkel geritzt. Nein, nicht geritzt. Nahezu geschnitten Ich hockte mich zu ihnen auf den Boden und nahm sie links und rechts in die Arme.

Leia berichtete weiter: „Er sagte, wir verwöhnten, reichen Gören hätten alles. Und er hätte nichts. Wir wären im Wohlstand aufgewachsen und er im Dreck.“

Auf ihrem jeweils linken Oberschenkel stand – tief in die Haut eingebracht: „Das Leben“. Und auf dem rechten Oberschenkel der Mädchen – genau so brutal in blutigen Lettern geschrieben – stand: „von Q“.

Mir wurde schlecht. Es brach mir das Herz nun endgültig die Klarheit zu haben, dass meine Mädchen, meine kleinen, zarten, lieben, unschuldigen und großartigen Mädchen für den schlimmsten und dunkelsten Fehler meines Lebens büßen mussten. Aber was war mir denn damals anderes übrig geblieben? Ich war jung, hatte einen festen Plan. Ich hätte doch ansonsten nie das Studium abschließen können! Und Masha überredete mich… es sei die beste Möglichkeit. Die EINZIGE Möglichkeit. Denn auch sie hätte ja etwas von diesem Deal. Schließlich würde sie bei ihrem Lebensstil und ihren gesundheitlichen Voraussetzungen sonst nie die Gelegenheit bekommen…

„Momsie“, murmelte Mantis schwach und zeigte mit dem Finger auf den Türrahmen. Eine männliche Gestalt hatte sich zu uns gesellt. Sie kam unaufhaltsam auf uns zu, stand jetzt über uns und sah auf uns herab. Obwohl ich es jetzt sicher wusste, fragte ich ungläubig: „Quinn?“

„Hi, Mom. Schön, dass du dich erinnerst.“

4 thoughts on “Der Fotograf

  1. Hallo Katharina,

    ich fand die Geschichte sehr spannend.

    Habe die ganze Zeit vermutet, dass Nick oder der Vater der Töchter den “Bösewicht” verkörpern.
    Jetzt würde mich noch interessieren, was damals genau mit Quinn geschehen ist 🙂

    LG Sebastian

    P.S.: “Das dumpfe, rasende Klopfen meines Herzens machte mittlerweile den Reitern von Rohan Konkurrenz.” – cooler Vergleich 😀

  2. Liebe Katharina,
    Da sitze ich vor meinem Laptop und rieche förmlich das schwere Parfum 🙂
    “Der immer stärker werdende, aufdringliche Geruch von Chanel No5 riss mich aus meinen Gedanken.”
    Schluck, das ist schon hart: “Auf ihrem jeweils linken Oberschenkel stand – tief in die Haut eingebracht: „Das Leben“. Und auf dem rechten Oberschenkel der Mädchen – genau so brutal in blutigen Lettern geschrieben – stand: „von Q“. 😮😮😮
    Was für ein Ende … es gefällt mir sehr gut und natürlich würde ich gerne wie Basti wissen, was damals mit Quinn passiert ist. Tolle Idee!

    Wenn du Lust hast, darfst du auch gerne meine Geschichte “Happy birthday” lesen.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/happy-birthday 

    Grüße aus Düsseldorf,
    Martina

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