johanna.kDer Freispruch

Sie öffnet die Augen und das erste, was sie sieht, ist eine weite Wiese auf der anderen Seite einer Straße. Sie merkt, dass sie auf einer Bank liegt und will aufstehen, dabei spürt sie einen stechenden Schmerz an ihrem Hinterkopf. Weit und breit ist kein Haus zu sehen, nur Gras und ein paar verstreute Bäume. Es ist sehr ruhig, etwas zu ruhig. Das einzige, was sie hören kann, ist der Wind, der durch das Feld weht, und Vögel, die in der Ferne zwitschern.

Sie wirft einen Blick nach unten und betrachtet ihren Körper, da läuft ihr plötzlich ein Schauer über den Rücken und sie fragt sich: Wer bin ich? Sie kann sich nicht erinnern. Dieser Ort kommt ihr nicht bekannt vor. Irgendwo muss eine Tasche sein, die Antworten trägt, Personalausweis, Bankkarte, Terminkalender.

Eine Tasche gibt es nicht, doch auf dem Boden sticht ihr etwas ins Auge. Es ist die glänzende Oberfläche eines Gerätes, das vor ihr liegt. Mühevoll bückt sie sich und hebt es auf, es ist ein verstaubtes Handy. Sie pustet kräftig auf dem Display und wischt den übrigen Staub auf ihrem T-Shirt ab. Kein Entsperrungscode und kein Empfang. In den Kontakten ist kein einziger Name zu finden, noch nicht mal Notrufnummern. Sie öffnet diverse Apps, nirgendwo gibt es ein angemeldetes Konto.

Schließlich probiert sie die Bildergalerie. Sie findet einen einzigen Ordner, als Überschrift steht „Öffnen“, fünf Bildern sind darin zu sehen. Auf dem ersten Bild ist die Silhouette einer Frau in dunkelblauem Anzug von hinten zu erkennen, sie hat schulterlanges braunes Haar. Es scheint eine Nahaufnahme zu sein, die ohne ihr Wissen geschossen wurde. Auf dem nächsten Bild ist dieselbe Frau, wie sie sich leicht zur Seite nach rechts dreht. Ein Teil ihres Gesichts ist zu erkennen, jedoch verdeckt ihr Haar das meiste davon. Es scheint so, als ob sie mit jemandem sprechen würde. Das dritte Bild zeigt einen Mann in schwarzem Jackett und grauer Krawatte, der sich an einer Menschenmenge vorbeikämpft. Sein Gesicht ist besser zu erkennen als das der Frau. Dunkelblonder Drei-Tage-Bart, kurze Haare und grüne Augen. Auf keinem der Bilder wird die Kamera von den beiden wahrgenommen. Dann wischt sie weiter zum vierten Bild und erstarrt. Alle vorherigen Bilder, zusammen mit vielen anderen, worauf dieselben zwei Personen fotografiert wurden, überlappen sich auf einer Pinnwand. Diesmal sind alle Gesichter mit Filzstift geschwärzt. Auf dem fünften und letzten Bild, eine Weitaufnahme der kompletten Pinnwand. Darunter ist das Wort „Mörder“ mit roter Farbe geschrieben worden.

Ihre Hände zittern vor Angst und sie verspürt ein wenig Übelkeit. Was haben diese Fotos zu bedeuten, fragt sie sich. Und wieso lag dieses Handy vor ihren Füßen? Auf einmal wird die Ruhe unterbrochen und sie hört, wie sich ein Fahrzeug nähert. Es ist ein Bus. Panisch springt sie auf und läuft auf die offene Landstraße. Sie hat gar nicht bemerkt, dass diese Bank zu einer Haltestelle gehört, also fuchtelt sie mit den Armen damit er anhält.

Der Bus kommt zum Stehen. Der Fahrer öffnet die Tür und sie geht langsam zu ihm.

»Gute Frau, ich hätte sowieso angehalten, wenn ich sehe, da wartet jemand.«

»Tut mir leid«, entschuldigt sie sich mit leiser Stimme. »Ich… Ich habe kein Geld. Bitte helfen Sie mir…«

Der Mann wirft einen besseren Blick auf sie, ihre Haare sind völlig zerzaust und ihre helle, dünne Strickjacke ist mit Erde beschmutzt. Er schüttelt den Kopf und bittet sie einzusteigen.

»Möchten Sie ins Krankenhaus?«

»Nein! Zur Polizei… Bitte.«

Die verwirrte Frau setzt sich an einen Fensterplatz, sie ist der einzige Fahrgast. Verzweifelt schaut sie nach draußen, in der Hoffnung, dass sie irgendetwas an der Umgebung wiedererkennt. Auf der digitalen Anzeigetafel des Buses steht die Zeit 17:43 Uhr, darüber die Namen der Haltestellen. „Tannerweg“, dort ist sie wach geworden. Immer noch keinerlei Erinnerung. Sie greift erneut zum Handy und betrachtet ihr Spiegelbild auf dem schwarzen Monitor. Ein kleiner Kratzer ist auf ihrer Wange, unterhalb ihres rechten Auges. Das Blut war schon getrocknet und es tut auch nicht weh. Etwas weiter unten, um ihren Hals, trägt sie eine Kette mit einem kaligraphischen „L“ als Anhänger. Es könnte sich um eine ihrer Initialen handeln. Das ist bislang der erste richtige Hinweis, den sie über sich selbst in Erfahrung bringen konnte.

Sie öffnet wieder die Bildergalerie und guckt sich die letzten zwei Bilder noch einmal genauer an. Womöglich sind ein paar Details zu erkennen, wenn sie näher herranzoomt, doch der Versuch ist vergeblich. Keine Person kommt ihr auch nur im Geringsten bekannt vor, genauso wenig ein Ort.

Ein verzweifelter Seufzer entkommt ihr, sie setzt all ihre Hoffnung auf die Polizei. Jemand muss sie ja schließlich vermissen.

Genau. Eine vermisste Person. Das ist sie.

Sie steht auf und geht zu dem Busfahrer. »Äh… Entschuldigung?«, spricht sie ihn vorsichtig an. »Entschuldigung, haben Sie zufällig eine Zeitung von heute?«

Wenn sie vermisst wird, könnte es sein, dass eine Vermisstenanzeige in der Tageszeitung steht, auch wenn die Chance gering ist. Sie weiß schließlich nicht, wie lange sie schon vermisst wird und ob jemand überhaupt nach ihr sucht.

Ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen, antwortet er ihr, »Gucken Sie mal am hinteren Sitz neben der Tür. Kann sein, dass der alte Peter seine heute Morgen wieder vergessen hat. Passiert ihm fast jeden Morgen, wenn ich ihn mit zur Stadt nehme.«

Der Bus biegt ab und kommt ins Schwanken. Auf wackeligen Beinen bewegt sie sich nach hinten. Tatsächlich, es liegt ein Tagesblatt auf dem Sitz, ungewöhnlich dick, aber es sieht nicht so aus, als hätte es viele Seiten. Ganz oben steht das Datum, heute ist der 27.04.2020. Sie nimmt Platz und öffnet es. Auf den ersten beiden Seiten ist nichts als Reklame, ein Dorffest hier, ein Schützentreffen dort, Einladung der Kirche zur jährlichen Spendensammlung. Hinter der dritten Seite scheint jedoch etwas hineingelegt geworden zu sein. Einzelne Blätter aus einer anderen, größeren Zeitung, zusammengelegt und doppelt in der Mitte gefaltet.

»Sind Sie fündig geworden?«, ruft der Fahrer und guckt nach ihr in seinem Spiegel.

Sie schaut für einen Moment hoch und antwortet, »Ja, danke!«

Auf dieser Zeitung ist ein etwas älteres Datum zu sehen, der 12.06.2019. An Stelle von Antworten, werfen ihr sich nur noch mehr Fragen auf. Eine Zeitung vom letzten Sommer im heutigen Tagesblatt. Sie klappt das Blatt auf, der erste Artikel auf der Titelseite liest „ANGEKLAGTER AUF FREIEN FUß: Strafverteidigung feiert Sieg“, darunter ein Bild auf dem ein Mann zu sehen ist, wie er ein Gebäude verlässt, um ihn herum sind Kameraleute und Journalisten. Schnell holt sie das Handy wieder raus und sieht sich noch einmal das dritte Bild aus der Galerie an. Der Anzug sieht identisch aus, das Gesicht könnte auch passen. Es ist schwer zu sagen, so unscharf wie die Qualität des Fotos in der Zeitung ist.

Sie liest den ersten Absatz: „Ein monatelanger Prozess ist nun beendet. Robert Wieler, 42, angesehener Geschäftsmann und Gründer der Baufirma ErgoTech mit Hauptsitz in Münchhausen, wurde wegen Vergewaltigung und Erpressung Minderjähriger im vergangenen Frühjahr angezeigt. Alle Anklagepunkte wurden in der gestrigen Verhandlung fallen gelassen…“

»Was…?«, murmelt sie vor sich hin.

Sie bekommt ein unwohles Gefühl beim Anblick dieses Bildes. Auf der nächsten Seite ist wieder ein anderes Datum oben links zu sehen, der 20.04.2020, letzte Woche. In der Mitte ist ein Portraitfoto von einem Mädchen mit blonden Haaren und Seitenzopf. Sie sieht fröhlich aus, doch der Schein trügt. Unter dem Foto ist eine Todesanzeige.

„Anja Häuser, 17, begeht Selbstmord nachdem ihr Vergewaltiger, Robert W., 42, letzten Juni freigesprochen wurde.“

Sie starrt in die Augen dieses jungen Gesichts und runzelt die Stirn. Der Name Anja weckt erste Erinnerungen, er kommt ihr bekannt vor. Jemand den sie kennt heißt so. Zumindest sagt ihr das ihr Bauchgefühl.

Ein weiteres Blatt war hinzugefügt, scheinbar das letzte. Das Datum ist der 10.06.2019, ein Tag vor dem Freispruch dieses Robert Wielers. Beinahe lässt sie alles aus ihren Händen fallen. Ein Foto, das vor einem Gerichtgebäude geschossen wurde, eine Horde Journalisten ist dort versammelt und im Epizentrum befindet sich eine Frau in dunkelblauen Anzug. Derselbe Anzug und dasselbe Haar, wie auf den Handyfotos. Diesmal ist das Gesicht ganz klar abgebildet. Die Frau ist sie selbst.

„Renommierte Strafverteidigerin Lara Eckert, 38, verteidigt berühmten Geschäftsmann in einem Prozess, wie man ihn seit langem nicht mehr gesehen hat.“, so der Untertitel des Fotos.

Fetzen von Erinnerungen kehren langsam in ihr Gedächtnis zurück, ihr Herzt rast, wie verrückt, und ihr wird plötzlich ganz heiß. Anja. ErgoTech. Prozess. Freispruch. Selbstmord…

Selbstmord… Es gab ein Telefongespräch von vor nicht allzu vielen Tagen…

– Eckert?

– Morgen, Lara. Hier ist Thomas Koch von der Verwaltung.

– Ah, hallo, Thomas! Du, ist gerade ganz schlecht, ich bin nicht zuhause. Kann ich dich später anrufen?

– Ist schon in Ordnung, ich wollte dir nur sagen, dass Herr Häuser wieder angerufen hat…

– Der schon wieder? Hör zu, beim nächsten Mal sagst du ihm, wenn er die Kanzlei weiterhin belästigt, droht ihm eine einstweilige Verfügung. Das ist mein Ernst.

– Ja, aber es ist etwas passiert… Das Mädchen ist tot.

– Tot?

– Selbstmord. Gestern Abend.

– Verstehe…

– Vielleicht… kannst du dich kurz mit ihm unterhalten, der Mann ist völlig aufgelöst und–

– Nein, ich habe keine Zeit für sowas. Die Verhandlung ist seit Monaten abgeschlossen, ich habe nur meinen Job getan. Soll er sich einen Seelenklempner suchen. Auf Wiederhören.

Ihr Mund wird ganz trocken, sie versucht permanent zu schlucken, aber es geht nicht. Das Atmen fällt ihr schwer, diese Erinnerung versetzt sie in Panik. Sie hat letztes Jahr einem Vergewaltiger zum Freispruch verholfen. Er hat sehr gut gezahlt, die Kanzlei hat sie deswegen befördert und ihr mehr Fälle zugeteilt. Jetzt weiß sie es wieder.

Weiter unten auf der Seite, ein Zitat des Vaters vom Opfer:

„Dreckige Anwälte! Nichts als geldgeile Kapitalistenschweine! Diese Verhandlung wird mit Geld manipuliert!“

Der Bus ist mittlerweile zum Stehen gekommen. Sie guckt nach draußen, überall Wald. Sie waren nicht mehr auf der Straße. Schwere Schritte kommen auf sie zu, sie traut sich nicht den Kopf zu drehen.

Eine tiefe Stimme in einer emotionslosen Tonlage fängt an zu sprechen und schreckt sie auf. »Dreckige Anwälte. Nichts als geldgeile Kapitalistenschweine. Eine manipulierte Verhandlung.«

Abrupt steht sie auf und lässt die Zeitung fallen. Gegenüber steht ihr der Busfahrer, er zeigt mit einer Waffe auf sie, sein Blick ist leer.

»Tut mir leid, Frau Eckert. Hier ist Endstation.«

Sein Gesicht kommt ihr nicht bekannt vor. Eine Erinnerung von Anja zeigte sich ihr, am Tag des Freispruchs. Sie hatte dunkle und geschwollene Augenringe, wahrscheinlich von der Schlaflosigkeit und dem vielen Weinen. Das Mädchen guckte sie verzweifelt mit einem erbärmlichen Ausdruck an, als ob sie gleich wieder angefangen hätte zu weinen, und Lara hatte sie damals einfach ignoriert.

»Es überrascht mich nicht, dass Sie sich kaum noch an mich erinnern können. Jedes Mal, als ich um ein Gespräch gebeten habe, hat mich ihr Assistent abgewiesen. Frau Eckert ist zu beschäftigt. Frau Eckert hat leider keine Zeit für Sie. Frau Eckert ist momentan im Urlaub.«

Er nähert sich ihr langsam, die Waffe hat er keine Sekunde runtergenommen. Lara streckt ihre Arme nach vorne und bittet ihn stehen zu bleiben, doch er tut es nicht und treibt sie dazu weiter nach hinten zu weichen.

»Ein einzelnes Gespräch. Ich wollte nur wissen warum. Warum haben Sie sowas zugelassen?« Seine Stimme wird labil. Der gefühlslose Mann von vorhin hat sich als Fassade entpuppt. Er bringt all seine Kraft auf, um die Waffe weiterhin auf sie gerichtet zu halten.

»Herr Häuser, bitte, legen Sie die Waffe weg und wir können reden. Ich verspreche Ihnen, ich werde zuhören und wir können–«

»Dafür ist es zu spät!«, schreit er vor Wut. Lara zuckt zusammen und keucht. Der Versuch mit ihm zu verhandeln wird nicht funktionieren.

Er fasst sich mit einer Hand ans Herz und holt ein paar tiefe Atemzüge, seine Augen sind auf sie fixiert.

»Meine Tochter… war ein anständiges Mädchen. Sie hatte viele Freunde, war gut in der Schule. Dieser Mann hat ihr Leben zerstört.«, fängt er an zu erzählen und sie beschließt, ihm nicht mehr dazwischen zu reden. Das mindeste, was sie jetzt noch tun kann, ist ihm zuzuhören. Sie ist so oder so in der Falle, mitten in einem Wald, ohne Kontaktmöglichkeit und ohne Mittel, um sich selbst zu verteidigen.

»Anja hat Ihnen Briefe geschrieben, nach der Verhandlung. Haben Sie die überhaupt gelesen?«

Briefe, sie bekommt ständig Briefe von Opfern und deren Verwandten. Auch von Anja. Allerdings bittet sie meistens ihren Assistenten diese Briefe in ein separates Fach zu legen. Wenn sie Zeit hat, schaut sie rein. Dies ist jedoch selten der Fall. Sie kann sich nur an einen von Anjas Briefen erinnern, den allerersten. Die Verhandlung endete einen Tag vor ihrem 17. Geburtstag.

„Sehr geehrte Frau Eckert,

mein Name ist Anja Häuser. Meine Familie verlor gegen Sie die Verhandlung über Herrn Robert Wieler.

Es schmerzt mich sehr, dass der Mann, der mir so viel Leid angetan hat, nun frei ist. Ich war 15, als es anfing, aber das wissen Sie schon. Sie haben meine Zeugenaussagen gelesen sowie die ärztlichen Berichte. Sie wissen ganz genau was er mir angetan hat. Er hat behauptet unzurechnungsfähig gewesen zu sein. Darauf haben Sie und Ihr Team aufgebaut. Sie haben zahlreiche psychiatrische Befunde gesammelt, die dies belegten. Glückwunsch, Ihre harte Arbeit hat sich gelohnt.

Meine Familie hatte leider nicht genug Geld, damit unser Anwalt ebenfalls die Meinung seiner Psychiater einholen konnte.

Deshalb ist er nun frei. Ich hoffe es belastet Sie nicht zu sehr, dass Sie den Vergewaltiger einer Minderjährigen zur Freiheit verholfen haben. Mit so einem Gewissen könnte ich nicht leben.

Viele Grüße

Anja Häuser“

Sie weiß noch, wie sie mit den Augen gerollt hat, als sie das Wort „Gewissen“ las, dazu noch dieser sarkastische Ton. Nicht zum ersten Mal wurde versucht ihr Schuldgefühle einzureden, sie war es gewohnt.

Seine Hand zittert, die Waffe wird ihm langsam zu schwer. Er wird bestimmt gleich abdrücken, denkt sie. Lara versucht sich selbst noch ein paar Sekunden zu schenken, indem sie ihn fragt, wer sie auf dieser Bank abgesetzt hat. Er sagt drei Männer hatten den Auftrag sie bewusstlos zu schlagen und dort hinzubringen.

»Sie haben Ihnen wohl ordentlich auf den Kopf gehauen, wenn Sie sich nicht mal an Ihren eigenen Namen erinnern konnten. Ich habe gesehen, wie Sie ratlos Ihre Halskette anschauten«, ein kurzes, spöttisches Lachen kommt aus seinem Mund und er hält die Waffe jetzt wieder mit beiden Händen fest.

»Herr Häuser, Sie wollen doch nicht ins Gefängnis! Das würde Ihrer Tochter auch nicht helfen!«. Sie versucht es erneut. Der Druck ist so hoch, dass sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten kann. Sie fleht nur noch um ihr Leben.

»Gar nichts kann meiner Tochter noch helfen«, er seufzt und legt den Sicherungshebel um.

Lara schließt ihre Augen, sie holt noch ein letztes Mal tief Luft und hält den Atem an. Ein Schuss wird abgefeuert, der Knall ist nahezu ohrenbetäubend. Das Geräusch von zersplitternden Fensterscheiben begleitet ihn. Ein dumpfer Schlag erschüttert den Boden des Buses. Sie atmet wieder ein und öffnet langsam ihre Augen, sie kann keinen Schmerz spüren. Vor ihr liegt er blutend auf dem Boden, seine Schulter ist schwer verletzt, er winselt vor Schmerz. Die Glassplitter, die sie gehört hat, stammen vom Seitenfenster. Ein Jagdschütze steht draußen, er ruft ihr zu, »Sind Sie in Ordnung? Mein Gott, was zum Teufel!«

Ihre Beine geben nach, sie muss sich an den Sitzen festhalten, um nicht umzufallen. Die Stelle, an der Herr Häuser aufgeschlagen ist, ist mit Blut besudelt, seine Waffe ist ihm aus den Händen gefallen. Lara reißt sich zusammen und schleicht sich mit geschwächten Muskeln zu dem verwundeten Mann. Ihr ganzer Körper zittert vor Angst, sie kniet vor ihm hin und stößt die Waffe weiter weg, damit er nicht mehr an sie rankommt. Die Blutung muss gestoppt werden, sie zieht ihre Strickjacke aus und drückt sie auf seine Schusswunde.

»Was tun Sie da…?«, fragt er sie mit schwacher Stimme und weinenden Augen.

»Bleiben Sie ruhig, sonst verlieren Sie noch mehr Blut.«

Noch nie hatte sie sich so schuldig gefühlt, jemanden die Freiheit geschenkt zu haben. Es gab viele Straftäter, die sie verteidigt hatte, von Räubern bis hin zu Mördern. Sie konnte es immer wegstecken und daran denken, dass dies ihre Pflicht als Strafverteidigerin ist. Sie dachte immer, ein Fall ist nach der Verurteilung abgeschlossen, doch das Leben geht weiter. Opfer, Angehörige und Zeugen müssen mit den Konsequenzen klarkommen. Sie selbst hat das bislang auch getan, nur hat nicht jeder so eine dicke Haut, wie sie.

»Es tut mir so leid…«, sagt sie und drückt weiterhin fest auf die Wunde. Der Schütze klopft an die Bustür und informiert sie, dass ein Krankenwagen auf dem Weg ist. Dieses Blut wird an ihr kleben bleiben.

6 thoughts on “Der Freispruch

  1. Hallo Johanna, die Idee hinter deiner Geschichte finde ich super – mir waren nur ein paar Enden etwas zu lose, um gespannt am Ball zu bleiben. Das könntest du mit ein paar Kniffen sicher beheben.
    Und mir ist nicht ganz klar, wo der Jagdschütze plötzlich her kommt? Vielleicht möchtest du mir das noch erklären 🙂 liebe Grüße, Jenny / madame_papilio

    1. Hallo Jennifer, vielen Dank für dein Feedback! Ich muss zugeben, dadurch, dass ich nicht wusste, wie lang die Geschichte sein durfte (es gab sehr unterschiedliche Aussagen dazu), habe ich versucht mich an eine Norm zu halten, weswegen die Geschichte möglicherweise etwas hektisch erscheint. Der Jagdschütze war zufällig im Wald, als ihm der Bus, der offensichtlich fehl am Platz war, auffiel. Er sah was sich drinnen abspielte und griff ein, als es brenzlich wurde. Rückblickend würde ich das gerne umschreiben, so dass Lara sich selbst von der Situation befreit, aber aus sowas lernt man 🙂 Es war auch meine erste Thriller-Geschichte, daher bitte ich um Entschuldigung hahaha Trozdem danke fürs Lesen!

  2. Hallo Johanna!
    So muss eine Kurzgeschichte sein – halt kurz und spannend! Ich finde, dass man nicht immer alles erklären muss! Ein bisschen Fantasie und man hat’s! Aber das ist meine Meinung! ◍•ᴗ•◍
    Mir hat sie auf jeden Fall gefallen!
    LG, Iris
    P.S. Vielleicht magst du ja auch meine Geschichte ” Die Rache” lesen! ?

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