selleDer Geruch von Kaffee

Die Strafe dessen, der sich sucht ist, dass er sich findet.

(Nicolás Gómez Dávila)

 

Ich verabscheue den Geruch von Kaffee.

Da ich trotzdem hier sitze, eingekeilt an einem kleinen, mehr schmierig denn sauber gewischten Tisch inmitten von Geschäftsleuten, die ihren Kaffe-To-Go auf dem Weg zur Arbeit abholen und Rentnern, welche entspannt ihr Frühstück genießen, könnte man mir durchaus eine Form von Masochismus andichten. Schließlich hätte ich mich bereits beim Hereinkommen am liebsten bereits übergeben, ist der penetrante Geruch von Kaffebohnen hier drinnen doch kaum zu ignorieren. Wobei, denke ich und muss unwillkürlich schmunzeln, wahrscheinlich haben die hier nur Filterkaffe. Nix mit Kaffeebohnen.

Ich streiche mir – zum bestimmt zwanzigsten Mal in einer Minute, – das lange schwarze Haar hinter das Ohr und klammere mich anschließend mit beiden Händen an meine Tasse Oolong Tea. Tief atme ich den Duft des Gebräus ein und schließe meine dunklen Augen, um mich für einen Moment voll und ganz auf das Aroma zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Schon besser.

Um es nochmal klar und deutlich zu sagen: Dass ich trotz permanenter Kaffeeausdünstungen noch immer (oder überhaupt) hier sitze hat definitiv andere Gründe, als das hinreißende Ambiente. Genau genommen hauptsächlich den einen: Runterkommen. Mich beruhigen. Durchatmen. Mir selbst immer und immer wieder sagen, dass es keinen Grund zur Panik gibt und ich verdammt nochmal nicht völlig bekloppt geworden bin.

Mein Unterbewusstsein scheint das jedoch wenig zu interessieren und meine Hände noch viel weniger. Im Gegenteil, am liebsten würde ich meine Hand in die Jackentasche stecken und das Teil herausholen, das dort seit – ich blicke auf die beschlagene Uhr an der Wand, seit über zwei Stunden schon! – gefühlt ein Loch hinein brennt. Immer wieder zucken meine Finger zur Tasche, aber noch kann ich mich beherrschen und sie wieder um die dampfende Teetasse legen.

„Beruhige dich, Josie, verflucht“, murmele ich leise und beiße mir auf die Unterlippe, bevor noch jemand sieht, dass ich verdammt noch mal schon Selbstgespräche führte! Das fehlt mir ja grade noch auf dem Weg zur Klapse…

 

Es ist, wie erwähnt, erst wenige Stunden her, dass ich meine Schicht im Krankenhaus beendet habe und wie jeden Tag den Weg nach Hause antreten wollte. Frühschicht, ich war müde, aber nicht mal Müdigkeit konnte mich daran zweifeln lassen, dass das Handy, welches ich beim Anziehen meiner Alltagsklamotten fand, ganz bestimmt nicht meines war! Verwirrt versuchte ich es zu entsperren, aber es enthielt nicht einmal ein einfaches Muster, geschweige denn einen Zahlencode. Wie leichtsinnig, dachte ich mir im Stillen und blickte auf einen langweilig blauen Standardhintergrund mit kleinen durchsichtigen Seifenblasen, die platzten wenn man sie beherzt mit der Fingerkuppe antippte.

Ich klickte mich in die Kontakte, seltsamerweise kam mir allerdings keiner der Namen bekannt vor. Hier mussten doch zumindest einige meiner Kollegen aufgeführt sein? Fehlanzeige, nichts, nada. Stirnrunzelnd beschloss ich, das Handy erst mal mitzunehmen und mir später genauer anzusehen. Ansonsten würde ich es eben morgen wieder mit auf die Arbeit nehmen und abgeben.

 

Wie jeden Morgen, wenn die Sonne nach meiner Frühschicht aufging, machte ich eine Pause auf meinem Nachhauseweg, um mich im Park auf eine Bank zu setzten. Dort fischte ich das Handy nach kurzer Zeit wieder heraus und klickte mich nach weiteren Anhaltspunkten durch verschiedene Ordner.

Letzter Anruf: Mama. Der Kalender: leer, in den Kontakten: kein bekannter Name, kein bekanntes Bild in den Fotos… ich stockte. Meine Hals fühlte sich auf einmal seltsam taub an, wie zugschnürt, die Zunge wie ein Fremdkörper der mich langsam aber sicher zu ersticken drohte.

Das bin ich auf dem Bild.

Die glatten dunklen Haare, die mandelförmigen Augen, die olivfarbene Haut.

Mein erster, logischer Gedanke war der, dass das Handy doch jemandem gehörte, der mich kannte. Jemandem, dem ich das Bild geschickt oder der es sogar selbst geschossen hatte. Aber weder kam mir der Brunnen, auf dessen Rand ich auf dem Foto saß, bekannt vor, noch konnte ich mich daran erinnern, in letzer Zeit – oder schon jemals? – Tauben mit Brotstückchen gefüttert zu haben. Mein Blick war vom Betrachter abgewandt, aber dennoch… kein Zweifel das war ich.

Wieso bin ich auf diesem Bild, auf diesem Handy?

Ich swippte weiter durch die Galerie auf der Suche nach weiteren Fotos von mir oder anderen, bekannten Gesichtern, aber da schien nichts mehr zu kommen. Fremde Menschen, ein paar Landschaftsbilder, ein paar Fotos von hübsch angerichtetem Essen… ich stoppte abrupt bei einem Foto von mir, wie ich an einem Tisch saß und… Sushi aß?

Ich hatte im Leben noch nie Sushi gegessen. (Hatte ich ehrlich gesagt auch nicht mehr vor.)

Der Kloß in meiner Kehle wurde immer größer und ich versuchte ihn zwanghaft herunter zu schlucken. Auch die Sonnenbrille, die ich auf dem Foto auf dem Kopf hatte, kam mir nicht bekannt vor. Zudem blickte ich bei dem Foto direkt in die Kamera, ich wusste also, dass ich fotografiert wurde.

Bereits nach diesen beiden Funden war ich mir schon nicht mehr sicher, ob ich wissen wollte, was ich noch entdecken würde, aber wir Menschen sind von Natur aus neugierig, ist es nicht so? Wir müssen hinter den Vorhang schauen, selbst wenn uns von vornherein bewusst ist, dass uns das, was wir vorfinden werden, nicht gefallen wird.

Also klickte ich mich weiter durch die Bilder – weit kam ich allerdings nicht, bis mich erneut mein lächelndes Gesicht anschaute. Vor mir auf dem Tisch ganz eindeutig eine Tasse Kaffee. Das war dann der Moment, in dem ich von der Parkbank aufsprang und loszulaufen begann.

Blindlings, immer geradeaus.

 

Ich verabscheue Kaffee. Habe ich das bereits erwähnt? Allein von dem Geruch kommt mir alles hoch…

Mit zitternden Fingern führe ich meine Teetasse an die Lippen und nehme mehrere kleine Schlucke. Mittlerweile ist er höchstens noch als lauwarm zu bezeichnen, aber ich werde mich hüten und die Tasse loslassen. Denn ich weiß genau, wenn ich das tue werde ich das ganze verdammte Handy nach weiteren Fotos durchsuchen… und ich weiß nicht ob ich welche finden will. Weiß nicht, ob ich es komplett durchsuchen oder in die nächste Mülltonne pfeffern soll.

Das wäre eigentlich gar keine so schlechte Idee…

„Entschuldigung, ist da noch frei?“ Ich blicke erschrocken auf und starre mit schreckgeweiteten Augen auf älter Dame mit braunen Löckchen, die mich höflich anlächelt und mit ihrer Tasse in der Hand auf den Stuhl mir gegenüber deutet.

„Ehm… klar. Bitte.“ Mit einem knappen Nicken und einem noch knapperen Lächeln erlaube ich ihr  – natürlich nach einer endlos langen Pause, sie muss mich für total beschränkt halten – sich zu setzten.

Sie stellt ihre Tasse – Kaffe natürlich, was ist nur mit den Leuten? Wieso weiß niemand mehr einen guten Tee zu schätzen!? – vor sich auf der Platte ab, schüttet ein Päckchen Zucker hinein und rührt das Ganze um, während ich mich weiterhin an meiner Tasse festhalte, als böte sie mir irgendeine Art von Schutz gegen die große böse Welt da draußen.

 

Dunkelbraune, mandelförmige Augen starren mich an. Schwarzbraune Haare umrahmen ein rundes, olivfarbenes Gesicht.

Ich muss blinzeln; die dunklen Augen tun es mir nach.

Verwirrt trete ich einen Schritt von dem Spiegel zurück, sehe mich stirnrunzelnd um. Wo zur Hölle bin ich?

Meine Augen huschen von einer Ecke des Raumes zur nächsten; ein hellgrünes Klo mit Kalkflecken neben einer Dusche mit schmutzig-gelbem Duschvorhang und ein versifftes Waschbecken. Es sieht aus wie das Badezimmer eines Hotels – nur sehr viel dreckiger.

Zögerlich nähere ich mich der halb geöffneten Tür und spähe in den angrenzenden Raum: auch hier sieht alles nach billigem Hotel aus. Das Doppelbett scheint vom Stil her aus den Achtzigern und auch den restlichen Möbeln würde zumindest ein neuer Anstrich guttun. Langsam betrete ich den Raum und lasse mich auf die braun-rosa (was eine hässliche Mischung!) Bettdecke sinken. So sehr ich auch in meinem Gedächtnis grabe, das Letzte, woran ich mich schaffe zu erinnern, ist die ältere Dame, die sich zu mir ins Cafe setze um ihren Kaffee zu trinken. Der penetrante Kaffeegeruch, als sie ihr Getränk umgerührt hat, ist mir im Gedächtnis geblieben, aber ansonsten… Fehlanzeige.

Ich stecke die Hand in die Jackentasche, wobei ich feststellen muss, dass sie enorm zittert und – natürlich. Da ist es noch, ich habe mir das also nicht nur eingebildet oder leide unter Wahnvorstellungen. Fast schon schade…

Mit einem wagen Hoffnungsschimmer klicke ich mich erneut in die Galerie, aber natürlich sind sie noch da. Mein Gesicht scheint mich geradezu verhöhnend anzugrinsen und ich spüre erneut einen Druck in der Kehle aufsteigen. Immer schneller klicke ich mich durch die Bilderflut, bis mein Finger auf einmal stockt.

Ich erstarre für meinen Moment, den Finger über dem Touchscreen erhoben. Dann wische ich langsam ein Bild zurück.

Zwei Gesichter schauen mich an. Sie beide lächeln verhalten. Das linke ist meins und mittlerweile sollte es mich kaum noch wundern, dass ich mich nicht an das Restaurant im Hintergrund erinnern kann.

Das zweite Gesicht gehört meiner Mutter.

 

„Mama, du hörst mir nicht richtig zu, ich…“

Mit der rechten Hand umklammere ich mein Handy – diesmal mein eigenes -, mit der ich die Nummer meiner Mutter gewählt habe um mir sofort klipp und klar von ihr sagen zu lassen, ob ich dabei bin den Verstand zu verlieren. Oder an Demenz leide. Oder eine verdammte Zwillingsschwester habe von der ich nichts weiß, ganz egal! Hauptsache, irgendjemand gibt mir endlich Antworten!

Aber von ihr scheine ich keine zu bekommen.

„Ich… Mama…“ Ich atme tief durch und schließe die Augen um mich zu sammeln. Unbewusst habe ich mit der linken Hand die ganze Zeit auf den Rahmen des Bettes getrommelt und zwinge mich jetzt dazu, damit aufzuhören.

„Mama, ich bilde mir das nicht ein!“ wütend lege ich auf und schmeiße das Telefon von mir, glücklicherweise auf einen hässlichen, schmutzig-orangefarbenen Teppich (im Ernst, wer ist hier für die Zimmerausstattung zuständig?), der dessen Sturz etwas abdämpft.

Verflucht nochmal. Ich bin ihre Tochter, wie kann sie mir nicht glauben? Ich hätte nicht übel Lust, zu ihr nach Hause zu fahren und ihr das vermaledeite Handy unter die Nase zu halten…

Schlagartig springe ich auf und hebe mein Telefon vom Boden auf. Wenn sie das Bild sieht, muss sie mir glauben!

Mit bebenden Fingern tippe ich die Nummer meiner Mutter in das Display des fremden Handys. Noch bevor ich fertig bin wird mir bereits eine Telefonnummer angezeigt: Mama. Ich runzele die Stirn, dabei kann es lediglich ein Zufall sein, schließlich wird die Person des fremden Handys auch die Nummer ihrer Mutter eingespeichert haben und deren Nummer beginnt eben identisch mit der meiner Mutter…!

Ich merke nicht, dass ich mir auf die Lippe gebissen habe, bis ich Blut schmecke. Die Nummer ist fertig eingegeben und –  natürlich, echot es in meinem Gehirn, natürlich ist das so, schließlich verlierst du gerade den Verstand – wird sie mir bereits als eingespeichert angezeigt. Meine Ohren fühlen sich an, als würde Watte in ihnen stecken, irgendwie taub und gedämpft, dabei ist hier doch sowieso kein Geräusch zu hören, also woher weiß ich das überhaupt? Ich presse die Finger auf die Ohren und lecke das Blut von meiner Unterlippe, dann tippe ich die bereits eingespeicherte Nummer an.

Mama.

Das Klingeln des Telefons hört sich noch immer dumpf an in meinen Ohren, aber die Stimme meiner Mutter ist dennoch deutlich zu verstehen.

„Josie?“

Wieso ist das Klingeln in meinen Ohren immer noch da? Müsste es nicht aufgehört haben, als meine Mutter abgenommen hat?

„Schatz, alles gut? Du hast so schnell aufgelegt… und wieso rufst du jetzt mit dem Geschäftshandy an?“ fragt meine Mutter, während meine Augen an einem schmutzigen, gelben Fleck an der gegenüberliegenden Wand haften bleiben. Auf diesen hässlichen Klecks fokussiere ich mich, während ich überraschend ruhig antworte.

„Welches Geschäftshandy?“

„Na, dein Geschäftshandy?“ Die Stimme meiner Mutter klingt ungeduldig und etwas zweifelnd. Wahrscheinlich mittlerweile doch an meinem Verstand. Wäre sie ja nicht die Einzige.

„Ich habe mich ja schon immer gefragt, wofür du ein Geschäftshandy brauchst“, fährt sie fort, „aber du wirst es ja wissen warum du mich mal mit dem einen und mal mit dem anderen Handy anrufst!“

Das Klingeln in meinen Ohren wird lauter.

„Ich muss Schluss machen Mama.“, sage ich, und meine Stimme klingt überraschend ruhig, gefasst. Zumindest wirkt sie so auf mich.

„Was? Aber, Josie, ich mache mir langsam doch etwas…“

„Mir… wird gerade etwas übel, ich rufe dich später zurück. Tschüss.“

Ich lege auf und lasse langsam das fremde Handy sinken.

 

Ein Klopfen an der Tür lässt mich schlagartig den Kopf hochreißen. Fast fällt mir das Handy aus der Hand, gerade so kann ich noch die klammen Finger darum schließen und es daran hindern, auf den morschen Holzboden zu segeln.

Niemand weiß, dass ich hier bin.

Es klopft erneut, energischer diesmal. Weiterhin ist mein Blick starr auf die verwitterte Holztür gerichtet, mein Körper rührt sich keinen Millimeter. Diese Tür wirkt nicht sehr stabil, ob, wer auch immer dahinter steht, sie einfach aufbrechen kann? Oder geht sowas nur in Hollywood?

„Hallo? Zimmerservice!“

Zögernd trete ich näher und öffne schließlich die Tür.

„Hallo, ihr Kaffee!“ Noch bevor ich etwas sagen kann drückt mir ein lächelnder junger Mann ein Tablett mit einer Kanne und einer Tasse darauf in die Hand und ist schon wieder zur Tür hinaus, bevor ich ihm hinterherrufen kann, dass ich nichts bestellt habe.

Der Geruch des frisch aufgebrühtes Kaffees dringt mir in die Nase, während ich auf die geschlossene Tür starre, aber nicht nur das: Es fühlt sich an, als dringe er direkt in mein Gehirn ein, durch meinen Körper, meine Nervenbahnen hindurch.

Das Letzte was ich wahrnehme, bevor das Hotelzimmer um mich herum in Schwärze versinkt, ist nicht, wie das Tablett mit einem Scheppern zu Boden fällt. Es ist auch nicht die Tasse, die mit einem hellen Klirren auf dem morschen Holzboden in dutzende Einzelteile auf zerspringt.

Es ist eine Stimme, die von überall gleichzeitig zu kommen scheint. Sie rauscht laut in meinen Ohren und hört nicht auf unverständliches zu rufen, obwohl ich mir die Ohren zu presse. Ich kann sie nicht verstehen aber ich kenne sie, ich kenne diese Stimme, woher kenne ich diese Stimme…?

Und natürlich rieche ich diesen verdammten Kaffeegeruch.

 

Heute ist ein großer Tag: Heute werde ich fünf Jahre alt. Fünf, das ist eine große Zahl, eine wichtige Zahl. Ich bin schon fast ein Schulkind, ich kann schon alleine zum Bäcker gehen und ich brauche keine Hilfe beim Schuhe binden mehr.

Meine Schwester Juna ist noch klein, noch nicht mal zwei Jahre. Weil sie noch so klein ist, muss man „Nachsicht“ mit ihr haben wenn sie dauernd in mein Zimmer will und mir hinterher läuft und alles nachmacht, aber ich bin mir nicht so ganz sicher, was das Wort „Nachsicht“ bedeutet.

Weil mein Geburtstag so ein wichtiger Tag ist, kommen alle meine Omas und Opas und Onkel und Tanten um mir Geschenke zu bringen und mit mir Kuchen zu essen. Dafür sind Mama und Papa schon den ganzen Tag beschäftigt und putzen das Haus und dekorieren alles schön und backen Kuchen und so. Und ich soll auf Juna aufpassen damit sie nicht stört und nichts kaputt macht, aber sie nervt mich, weil sie mir die ganze Zeit hinterher läuft.

Ich habe keine Lust mehr zu spielen, ich will wissen wann die Gäste kommen. Papa ist unten in der Küche und kocht Kaffee, ich kann die Kaffeemaschine hören, ihn kann ich fragen.

„Ho-se-phi-na“ ruft es hinter mir, Juna ist mir schon wieder nachgelaufen!

„Bleib da, Juna!“ Sage ich und gehe zur Treppe, aber sie hört nicht auf mich und folgt mir und ich schubse sie weg aber sie fängt an zu meckern und zu weinen und ich will keine „Nachsicht“ haben ich habe doch heute Geburtstag, ich bin doch heute fünf und sie stört weil sie so laut schreit, und ich schubse sie und dann ist sie gar nicht mehr laut, nur einmal noch kurz als ihr Kopf unten auf der Treppe aufschlägt, dann ist sie ganz leise.

Aus der Küche riecht es nach Kaffee.

 

Zusammengekauert hocke ich auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Meine Finger haben sich so fest in den Stoff meiner Jeans gekrallt, dass ich es kaum schaffe, sie zu entspannen und meine Knie wieder loszulassen.

„Na, erinnerst du dich?“ Heftig zucke ich zusammen, mein Kopf fährt hoch, mit großen Augen blicke ich mich hektisch im leeren Hotelzimmer um. Niemand ist da.

„Ich weiß, dass du dich erinnerst!“ Verzweifelt presse ich mir dir Hände auf die Ohren, versuche die körperlose Stimme auszusperren, aber eigentlich weiß ich längst, dass es sinnlos ist. Denn sie kommt nicht aus dem leeren Raum in dem ich sitze, sondern aus meinem Kopf.

„Ich weiß es. Ignorier mich nicht! IGNORIERE. MICH. NICHT!“ Immer lauter wird sie, ich schüttele den Kopf und Tränen steigen mir in die Augen.

„Tue ich nicht! Das tue ich nicht das tue ich nicht ich ignorier dich nicht ich will dass du still bist sei nur still sei still SEI STILL!“ kreische ich, springe auf und schreie die letzten Worte in das leere Zimmer. Außer Atem huscht mein Blick von links nach rechts und zurück, immer wieder, auch wenn mir klar ist wie sinnlos das ist. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, ich bin bereit mich notfalls mit Gewalt gegen jeden zu verteidigen, der da so sadistisch mit meinem Leben und meiner Psyche spielt. Aber tief in mir weiß ich, dass ich den Gegner vermutlich nicht angreifen kann, nicht, ohne mir selbst zu schaden.

„Ich war lange genug still. Du musst endlich zuhören!“ Ich zucke zusammen, schüttele wütend den Kopf.

„Wieso sollte ich das tun? Wer bist du, dass ich dir zuhören sollte? Du willst mich nur fertig machen!“

„Ich bin DU, du verdammte Idiotin.“

„Was?“ Verwirrt starre ich auf die Wand vor mir. Falls irgendwelche Nachbarn mich hören, sie müssen mich für völlig bekloppt halten, wie ihr hier rumschreie und mit mir selbst rede. Aber tue ich das? Wie kann ich mir denn bitte selbst antworten?

„Erinnerst du dich nicht? Diese Erinnerung… deine kleine Schwester Juna. Wie sie dich genannt hat.“

Ich runzele die Stirn, Junas Gesicht erscheint vor meinem geistigen Auge: so furchtbar klein und zerbrechlich und dann wirklich zerbrochen… meine Schuld…

Aber die Erinnerungen an sie sind verschwommen, blass. Lückenhaft. Mir fällt kein Name ein und wie soll sie mich schon genannt haben, Josie natürlich, schließlich heiße ich so?

„Schau auf deinen Führerschein, Josie. Du magst dich für Josie halten, aber ich bin mehr. Ich bin du, bevor du nur noch Josie warst. Ich bin du, bevor du deine kleine Schwester die Treppe hinunter in den Tod gestoßen hast, bevor du sie kaltblütig ermordet hast, das arme kleine unschuldige Ding.“

Während die Stimme – meine Stimme? – weiterspricht, habe ich mich wie in Trance in Bewegung gesetzt und meinen Führerschein aus dem Portemonnaie geholt. Mein Körper agiert wie von selbst, ich spüre kaum etwas davon, es ist, als wäre ich fremdgesteuert. Die ganze Sache ist lächerlich, alle nennen mich Josie, schon immer.  Meine Eltern, meine Freunde, selbst meine Lehrer… ich blicke auf die gedruckte Schrift meines Führerscheines und es dauert einen Moment bis die dort stehenden Buchstaben sich zu Worten zusammensetzten.

„Du bist nur Josie, aber ich hab langsam keinen Bock mehr die ganze Verantwortung für dich zu übernehmen!“ hallt es in meinem Kopf, während sich die Worte vor meinem geistigen Auge drehen und zu tanzen beginnen.

Josephina Náailo.

Ich bemerke kaum, wie mein Führerschein zu Boden segelt.

„Wachst du endlich auf, Josie? Weißt du endlich wer du bist? Und wer ich die ganze Zeit für dich sein musste weil du es nicht konntest!?“ Die Stimme, meine, Josephinas Stimme, wird mit jedem Wort lauter und höher. Immer tiefer frisst sie sich in meine Ohren und mein Gehirn und ich will nur noch dass sie still ist, aber natürlich ist sie das nicht.

„Sei still! Sei still sei still sei still!“ brülle ich, aber ihr ohrenbeträubendes Gekreisch in meinen Ohren setzt einfach nicht aus, im Gegenteil, sie scheint immer lauter zu werden. Ich haste ins Bad, will nur weg, aber ihr kann ich nicht entkommen, natürlich nicht, wie auch? Dennoch verriegele ich in einem Akt der Verzweiflung die Tür, in der aberwitzigen Hoffnung, es möge mir irgendwie Erleichterung verschaffen.

„Übernimm Verantwortung, Josie! Wer bist du? Was denkst du wer du bist? Bist du Josephine, bist du ich, bist du vielleicht niemand, weil du nicht mal das hinbekommst?“ Ihre hohe, schrille Stimme verhöhnt mich und ihre dunklen Augen starren mich verachtend aus dem Badezimmerspiegel heraus an.

„Hör auf! Sei still sei doch nur still!“

Mit einem Krachen landet der Fön inmitten des Spiegels, welcher in dutzende Scherben zersplittert, aber alles was ich erreiche ist, dass ihr keifendes Lachen nur lauter und lauter wird immer lauter und lauter und lauter und lauter…

 

 

 

„Guten Tag, Frau Náailo“, beginne ich die Sitzung. „Ich bin Dr. Asberg, ihre behandelnde Ärztin.“

Die junge Frau sitzt unruhig auf ihrem Stuhl, sie wippt mit den Beinen und rutscht hin und her. Ihr Blick ist unfokussiert, huscht von der Wand zum Tisch und wieder zurück. Mich hat sie noch kein einziges Mal angesehen.

„Frau Náailo, wissen Sie, warum Sie hier sind?“  Keine Reaktion.

„Frau Náailo?“ Nichts.

„Josephina? Hören Sie mich?“ Immer noch nichts. Die Patientin fährt fort mit ihrem Verhalten, zudem schlingt schützend sie die Arme um sich.

„Sie wurden in einem Hotelzimmer aufgegriffen und direkt hierher und in unsere Einrichtung gebracht. Ein Paar im Nachbarzimmer rief die Polizei, weil sie Sie über einen längeren Zeitraum hinweg schreien, weinen und andere „beängstigende Laute“ ausstoßen haben hören.“ Keinerlei Anzeigen der Patientin, dass Sie wahrnimmt, was ich zu ihr sage. Ich fahre fort.

„Als die Polizei ankam und in Ihr Hotelzimmer eingedrungen war, fanden sie Sie in ihrem Badezimmer. Sie hatten offenbar den Spiegel mit Hilfe eines Fönes eingeschlagen und versucht, sich mit einer Spiegelscherbe die Pulsadern am linken Handgelenk aufzuschneiden.“ An dieser Stelle mache ich eine Pause. Die Patientin zeigt keinerlei Anzeichen, dass sie mich auch nur wahrgenommen hat, seit ich den Raum betreten habe.

„Der verständigte Notarzt konnte sie glücklicherweise vor dem Verbluten bewahren und Sie wurden in unsere Klinik eingewiesen. Erinnern Sie sich an diese Vorkommnisse?“

Ich warte. Immer noch bekomme ich keine Reaktion auf meine Geschichte und ich befürchte schon, dass dies so bleiben wird; dann hebt die junge Frau plötzlich den Kopf, sieht mir direkt in die Augen und spricht mit heller, seltsam kindlicher Stimme: „Ich Juna.“

 

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