Genervt lasse ich die alte Treppe zu meinem Dachboden herunter. Seit einer halben Ewigkeit habe ich ihn nicht mehr betreten, doch jetzt muss ich. Eilig klettere ich die rostigen Stufen hinauf und blicke mich vorsichtig um. Staub, soweit das Auge reicht. Alles ist grau und neblig, zudem riecht es modrig und nach Rauch. Ich sollte wirklich mit dieser Qualmerei aufhören, denke ich laut und rede mit mir selbst. Mit irgendjemandem muss ich mich schließlich unterhalten.
Mit verengten Augen suche ich nach dem großen Karton, in welchem meine Unterlagen liegen sollten. Mein neuer Arzt ist nicht in der Lage, sich meine Unterlagen von den bisherigen Ärzten zukommen zu lassen. Wie schon so oft, habe ich mir einen neuen Ansprechpartner für mein Problem gesucht und hoffe, dass ich dieses Mal einen erfolgreicheren Weg einschlagen kann. Seit ein paar Jahren leide ich an Blackouts, welche immer häufiger passieren. Nach dem Zwischenfall letzten Sommer schließe ich mich jede Nacht ein, um meine Wohnung nicht ungewollt zu verlassen. Ich will nicht, dass so etwas noch einmal passiert.
Ich durchwühle eifrig ein Regal nach dem anderen bis ich alle Unterlagen zusammen habe. Als ich mich zum Gehen abwende, fällt mir etwas glänzendes im Augenwinkel auf. Doch was ist es? Interessiert drehe ich mich zurück und trete ein Stück näher heran. Mit gerunzelter Stirn blickte ich nach oben. Auf dem obersten Regalbrett steht eine alte goldene Schatulle, doch sie ist weder eingestaubt noch angelaufen. Sie sieht aus, als sei sie eben erst gesäubert und dort platziert worden. Doch das kann nicht sein. Der Dachboden ist nur über die Eisentreppe zugänglich, welche in meiner Wohnung angebracht ist.
Ich öffne gespannt die polierte Schatulle und traue meinen Augen nicht. Sie ist gefüllt mit Fotografien. Das erste Foto zeigt das Hotel, in dem ich seit mehreren Jahren arbeite. Wann habe ich denn jemals das Hotel fotografiert und die Bilder ausgedruckt? Verwundert stöbere ich weiter und entdecke ein Abbild des kleinen Hauses, in welchem meine Wohnung liegt. Begeistert blättere ich langsam weiter. Das nächste Foto liegt mit der Bildseite nach unten und offenbart mir so seine beschriebene Rückseite: Max, der Sternekoch.
Gefesselt drehe ich es um und entdecke mich selbst, wie ich in meiner Küche stehe und ein neues Rezept für die Abendküche im Hotel zubereite. Dieses Gericht habe ich gestern Abend das erste Mal ausprobiert. Panik steigt in mir auf und meine Kehle schnürt sich Stück für Stück zu. Wer hat dieses Bild gemacht? Wieso hat er oder sie es gemacht und WIE kommt es auf MEINEN Dachboden?
Ich werde nervös und als auf einmal der Alarm meines Handys los geht, springe ich fast aus meiner eigenen Haut. Ich schaue auf meine Uhr am Handgelenk und stelle fest, dass es Zeit für mich ist, zur Arbeit zu gehen. Ich versuche mich zu beruhigen während ich die Treppe vom Dachboden nach unten steige. Ich werde mir wohl später Gedanken über die Bilder machen müssen, auf der Arbeit kann ich keine Ablenkung gebrauchen.
Der nächste Tag startet so wie immer, ich wache auf, mache mir einen Kaffee und hole die Post aus dem Briefkasten. Die aktuelle Zeitung lege ich beiseite, gehe die Briefe durch und schaue, ob etwas Wichtiges dabei ist. Das meiste ist Werbung, doch ein Brief sticht besonders hervor. Es ist kein Absender darauf zu sehen und der Poststempel fehlt ebenso. “Wie ungewöhnlich, jemand muss ihn persönlich vorbei gebracht haben.”, murmel ich vor mich her. Ich öffne diesen und bin gespannt, wer ihn verfasst hat. Es war kein normaler Brief, sondern ein aus Zeitung zusammengesetzter, mit unterschiedlich geschriebenen Buchstaben. Ich schiebe meine Verwirrung beiseite und fange an, den Zettel zu lesen:
“Hallo Max,
wir kennen uns nicht persönlich, ich weiß jedoch eine Menge über dich. Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast, mit der Frau in deinem Bett. Ich hoffe, dir haben die Bilder gestern gefallen und vielleicht kurbelt dieses hier deine Erinnerungen etwas an.
Willkommen zu deinem persönlichen Albtraum, Max Nanuda. Ich werde dich leiden lassen, so wie ich gelitten habe!”
Ich lese mir den Brief noch einmal durch und kann es nicht glauben. Wer hat ihn geschrieben? Und wie hat diese Person herausgefunden, was in jener Nacht passiert ist? Ich schaue mir den Umschlag noch einmal genauer an und sehe, dass dort eine Fotografie steckt. Dieses Bild muss der Absender wohl meinen. Es zeigt eine sehr attraktive, junge Frau mit braunen Haaren und blauen Augen. Sie lacht und in der Hand hält sie eine goldene Schatulle.
Es ist die gleiche Schatulle, welche ich gestern auf meinem Dachboden gefunden habe. Und diese Frau, ich kenne sie, beziehungsweise kannte sie. Sie ist tot.
Ich kann es nicht glauben. Irgendjemand versucht mich dazu zu drängen, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Aber wer und warum? Und die wichtigste Frage ist doch: Woher kennt er oder sie mein Geheimnis?
Diese ganze Grübelei bereitet mir wahnsinnige Kopfschmerzen und ich versuche mir einzureden, dass niemand mein Geheimnis wissen kann. Ich hab es noch nicht einmal meinen Ärzten und Psychologen erzählt. Über ein Jahr ist vergangen und ich habe nicht mehr daran gedacht, doch nun lässt mich erneut diese Geschichte unruhig schlafen.
Auf dem Weg zur Arbeit denke ich schon, ich werde paranoid. Ich sehe ständig die gleiche Person hinter mir auf der Straße laufen, einen hochgewachsenen, mir unbekannten Mann. Doch sobald ich mich umdrehe, um zu sehen, wer es ist, ist er verschwunden. “Vielleicht war er nie da.”, denke ich mir und betrete das Restaurant. Die Arbeit läuft wie gewohnt und ich kann mich gut mit meinen Aufgaben ablenken. Der Verfolgungswahn ist verschwunden und ich fühle mich nicht mehr beobachtet, denn die gewohnte Atmosphäre gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Am Ende des Tages bin ich fast davon überzeugt, dass alles seinen normalen Gang gehen wird, und dass das alles nur Einbildung war.
Diese Hoffnung hält allerdings nicht sehr lange an. Kaum habe ich das Restaurant verlassen, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich sehe mich um, kann jedoch nichts verdächtiges erkennen. Eilig mache ich mich auf den Weg nach Haus, denn dort fühle ich mich neben der Arbeit am wohlsten. Die Nacht ist kühl und es sind kaum noch Leute unterwegs. Bis auf die gelegentlichen Partygänger, die aus der ein oder anderen Bar oder den Clubs der Stadt kommen, ist niemand zu sehen. Wieder beschleicht mich das unheimliche Gefühl verfolgt zu werden. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken und versuche herauszufinden, wer es sein könnte. Ich verwende spiegelnde Oberflächen, aber jedes mal sehe ich entweder nur eine Person in die nächste Gasse huschen oder betrunkene Leute, die über die Straße torkeln. Zuhause angekommen schließe ich hinter mir die Tür ab, presse meinen Rücken dagegen und atme erleichtert tief ein. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und genieße die alleinige Stille um mich herum.
“Ich bilde mir das alles nur ein. Das ist bestimmt alles nur ein Traum.”, sage ich zu mir selbst. Ich muss endlich mit diesen Selbstgesprächen aufhören, sonst halte ich mich noch selbst für verrückt. Ich öffne meine Augen und mache mich im Badezimmer schnell fertig, um anschließend ins Bett zu gehen. Auf dem Weg dorthin beschließe ich, das Geschehene im Schlaf zu verarbeiten und hoffentlich zu vergessen. Als ich im Türrahmen meines Schlafzimmers ankomme, halte ich abrupt inne. Das Bild, welches sich mir darbietet, lässt mich in eine Schockstarre fallen. Egal wo ich hinschaue, alles ist verwüstet. Meine Decken und Kissen sind aufgerissen, überall liegen die Federn. Die Nachtkästen sind samt Leselampen umgeschmissen und zertrümmert. Doch was mich am meisten aus der Bahn wirft, ist das Blut an den Wänden und auf den weißen Laken. Dicke Tropfen laufen die helle Tapete herunter und lassen mich zusammen zucken.
“Nein, nicht schon wieder!”, sage ich leise vor mir her. Immer und immer wieder sage ich diese Worte, bis sie irgendwann als Schreie aus meinem Mund heraus kommen. Ich trete völlig aufgelöst in den Raum hinein und entdecke neue ausgedruckte Fotos, welche auf meinem Bett liegen. Sie zeigen mir genau das, an was ich seit dem Öffnen der Türe gedacht habe: Das Geschehen vom letzten Sommer. Die junge Frau mit der Schatulle ist auf den aktuellen Bildern zu sehen. Allerdings ist sie auf diesen nicht glücklich und am Lächeln. Sie liegt blutend in einem Bett, ihre Augen vor Schmerz und Schock weit aufgerissen. Ihr Blick ist leer.
Ich merke erst, dass ich weine, als mir eine einzelne Träne über meine Lippe fließt und einen salzigen Geschmack hinterlässt. Meine Knie werden weich und ich sacke zu Boden. Hart kommen sie auf dem kalten Untergrund auf. Ich kann keinen klaren Gedanken in meinem Kopf zusammenbringen und auch das Atmen fällt mir schwer. Ich stehe kurz vor einer Panikattacke. Ich muss all meine Kraft zusammen nehmen, um wieder aufzustehen und mir das Szenario erneut anzusehen. Ich greife nach den zwei Bildern und schaffe es kaum, sie zu betrachten. Dieses schmerzerfüllte Gesicht berührt mich heute genauso wie damals, als sie in meinem Bett lag. Regungslos und schon steif vom Tod.
Unter Höllenqualen beseitige ich dieses Chaos und verstaue die Bilder bei den anderen in der goldenen Schatulle. Wie viele Fotos werde ich noch bekommen? Wie soll mein Leben so weitergehen? Kennt diese Person wirklich das volle Ausmaß meiner Geheimnisse, und wenn ja woher? Was hat er oder sie vor? Wer ist diese Person, die mir solche seelischen Schmerzen zufügt? Oder ist das alles nur ein kranker Scherz? Ich kann es noch immer nicht ganz verarbeiten.
Ich muss aus dieser Wohnung raus. Raus aus diesem Leben. Raus aus dieser schrecklichen Vergangenheit.
Eilig packe ich die wichtigsten Dinge zusammen und fahre zum Hotel. Dort angekommen checke ich ein und beziehe ein sauberes Zimmer. Hier bin ich sicher, hier kommt niemand herein. Denke ich zumindest.
Am nächsten Tag verkrieche ich mich in die relative Sicherheit meiner Arbeit. Das Hotelrestaurant, in dem ich schon so lange als Chefkoch arbeite, ist fast ein zweites Zuhause für mich geworden und ich freue mich jedes mal auf eine neue Herausforderung, die mich etwas abgelenkt. Ich bin im Hinterzimmer des Restaurants, um mich umzuziehen, als ich meinen Spind öffne und erschrocken einen Schritt zurücktrete. Schon wieder finde ich einen dieser Briefe ohne Absender und Poststempel. Mein Stalker muss wohl das Schloss meines Spindes aufgeknackt haben, ohne dass es jemand bemerkt hat. Ich schaue mich um, aber da ich wie immer der erste hier bin, ist niemand da, der mich beobachten könnte. Ich öffne den Umschlag und bin erstaunt, dass statt einer neuen Notiz und Bildern, ein Zeitungsartikel darin liegt. Ich hole das Papier heraus und entfalte es, um zu sehen was sich darin verbirgt. Das erste was mir ins Auge fällt ist das Bild einer hübschen, jungen Frau mit der Überschrift “Vermisst!” darüber. Meine Hände beginnen zu zittern, als ich erkenne, dass die Frau auf dem Bild die gleiche ist, die tot in meinem Bett lag.
Panik überkommt mich bei dem Gedanken, dass jemand immer noch nach ihr sucht. Verzweifelt versuche ich also das Datum der Zeitung herauszufinden und als mein Blick endlich die Zahlen findet, fühle ich mich ein bisschen besser. Die Ausgabe ist vom letzten Sommer, kurz nachdem das Ganze passiert ist. Ich versuche mich ein wenig zu beruhigen und setze mich mit der Zeitung hin, um den Artikel zu lesen. Vielleicht steht dort ja irgendeine Information, die mir weiterhelfen könnte herauszufinden, wer mir diese Nachrichten schickt. Zweimal lese ich mir den Text durch und finde nichts, das hilfreich erscheint. Das Mädchen auf dem Bild, Chloe, war gerade einmal 21 Jahre alt. Ihr Bruder, mit dem sie anscheinend zusammen gewohnt hat, hat die Vermisstenanzeige aufgegeben und die Polizei hat wohl nie herausgefunden, was wirklich passiert ist. Vielleicht ist es der Bruder, der mir diese Briefe schickt? – Nein, wie sollte er herausgefunden haben, dass sie tot in meinem Bett lag?
Ich beschließe trotzdem herauszufinden, wer dieser Bruder eigentlich ist. Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und beginne damit, den Namen auf Facebook zu suchen. Und tatsächlich, es gibt nur eine Person, die so heißt. Sein Name ist Finn, und bei genauerem hinsehen ist die Ähnlichkeit zu seiner Schwester kaum zu übersehen. Ich weiß einfach nicht woher, aber dieser Mann kommt mir unglaublich bekannt vor. Irgendwo sind wir uns schon einmal begegnet. Allerdings kann ich außer seinem Geburtsjahr keine weiteren Informationen herausfinden, doch das hilft mir auch nicht weiter.
Gedanken über Gedanken schwirren mir durch den Kopf bis ich auf einmal wieder zurück in die Realität geworfen werde. Ich höre die Eingangstüre aufgehen und Stimmen nähern sich mir. Meine Kollegen müssen da sein, denke ich mir und versuche den Zeitungsartikel schnell in meinen Spind zu stecken und diesen zu schließen, bevor irgendjemand Fragen stellen kann. Ich lasse mir nicht anmerken, dass mich etwas beschäftigt und laufe in die Küche, um mit meiner Arbeit zu beginnen.
Als ich von meiner Schicht zurück in das Hotelzimmer komme, werfe ich meine Arbeitsklamotten in eine Ecke und mich auf das geräumige Bett. Ich will gerade das Licht ausmachen, als ich etwas auf dem Nachtkästchen entdecke. Ein dicker Briefumschlag liegt dort und wartet nur darauf, geöffnet zu werden. Ich hasse es.
“Ich möchte eine Antwort von dir. Warum hast du sie umgebracht? Wieso hast du sie zerstückelt und zu Essen verarbeitet? Was hat sie dir getan? Was habe ich dir getan, damit du mir so viel Leid zufügen musstest?”
Ich lese diese Zeilen immer und immer wieder. Ich versuche zwischen ihnen zu lesen und einen Hinweis zu finden, der mir verrät, wer mich diese Dinge noch einmal durchleben lässt.
Hinter dem Brief sind, wie zu erwarten, neue Fotos. Dieses mal zeigen sie mich, wie ich in der Hotelküche stehe und frisches Fleisch zerhacke. Es ist nicht irgendein Fleisch, sondern das der toten Frau. Ich habe ihren leblosen Körper zur Vertuschung zerteilt und ihr Fleisch gegen das der neuen Lieferung im Restaurant ausgetauscht. Noch heute verabscheue ich mich dafür, doch mir blieb nichts anderes übrig. Ich bin mir nicht mal sicher, wie ich auf diese Idee gekommen bin, ich wusste nur, dass ich ihren Körper verschwinden lassen musste. Den Leuten im Restaurant und meinen Kollegen aus der Küche ist nichts aufgefallen, worüber ich sehr froh bin. Es war riskant aber es hat funktioniert und bis der Albtraum mit den Fotos angefangen hatte, war ich mir sicher, dass niemand darüber Bescheid wusste. Aber jetzt ist alles anders. Ich kann niemandem mehr trauen, nicht mal mir selbst. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder einen Blackout habe und wer weiß, was ich dann anstelle? Es ist nur gut, dass ich morgen früh einen Termin mit meinem neuen Arzt habe. Vielleicht kann er mir weiterhelfen und mich davor bewahren, erneut aufzuwachen und nicht mehr zu wissen, was zuvor passiert ist.
Nach einer unruhigen Nacht mache ich mich am nächsten Morgen mit meinen Unterlagen in der Hand auf den Weg. Der Arzt scheint auf den ersten Blick sehr nett und das bestätigt sich auch nach den ersten paar Minuten der Sitzung.
“Erzählen Sie mir von sich. Weshalb sind Sie hier?”, fragt mich der Doktor, nachdem ich alle Formulare ausgefüllt habe.
Ich erzähle ihm alles, angefangen im letzten Sommer. Natürlich lasse ich die Geschichte mit der toten Frau ganz bewusst aus. Er hört mir aufmerksam zu und macht sich währenddessen Notizen in die Patientenakte.
“Wann war Ihr letzter Blackout?”, fragt er mich und sieht mir in die Augen. “Vor etwa einem Monat.”, sage ich und denke daran zurück. “Ich lag in meinem Bett, um mich von meiner Schicht im Hotel etwas auszuruhen. Als ich dann wieder aufgewacht bin, habe ich einen ganzen Tag und meinen kompletten Dienst verpasst und neben mir lag ein Küchenmesser. Normalerweise schließe ich mich immer in der Wohnung ein, um sie nicht ungewollt zu verlassen, doch an diesem Abend habe ich nicht daran gedacht. Das seltsame war, dass ich meine Arbeit ganz normal ausgeführt habe. Niemandem ist etwas an mir aufgefallen.”
“Was denken Sie, warum neben Ihnen ein Messer lag?”
Er löchert mich weiter mit unendlich vielen Fragen, auf die ich keine Antworten habe.
“Ihr Nachname ist sehr bewundernswert. Wissen Sie, was er bedeutet?” Ich schüttel langsam den Kopf und weiß nicht, wovon er redet.
“Nanuda, dieser Name ist aus dem koreanischen. Er bedeutet soviel wie ‘gespalten’. In Anbetracht Ihrer Situation ist er sehr passend. Wissen Sie, ob sonst noch jemand in Ihrer Familie unter Blackouts leidet?”
Auch hier muss ich verneinen. Ich habe selten Kontakt zu meiner Familie, weshalb ich sehr wenig über sie weiß.
“Nun gut. Ruhen Sie sich aus. Die Dame an der Rezeption wird einen neuen Termin vereinbaren und dann werden wir mit einigen Tests beginnen.”
Mit diesen Worten entlässt er mich zurück in meine ungewollte Einsamkeit. Wie gerne hätte ich jetzt jemanden um mich, einfach nur, um nicht alleine zu sein. Zudem werde ich bald wahnsinnig wegen meinem Verfolger. Wenn das so weitergeht, werde ich das ebenfalls bei meinem Arzt ansprechen müssen.
An meinem Wagen angekommen, stelle ich mein Navi am Handy ein, um den Weg zurück zum Hotel zu finden. Mir bleiben noch knapp drei Stunden, bis ich mich für die Arbeit fertig machen muss. Während der Fahrt erstelle ich mir einen kurzen Plan, was ich bis dahin noch erledigen möchte. In meinem Zimmer angekommen lasse ich mir einen starken Kaffee aus der Maschine und setze mich kurz auf das kleine Sofa, um schnell meine Mails auf dem Handy zu checken. Ich hoffe, dass mein Chef den Schichtplan geändert hat und ich heute doch nicht arbeiten muss. Doch leider komme ich gar nicht soweit, denn eine Nachricht auf meiner Mailbox sticht mir aufdringlich ins Auge. Ahnungslos klicke ich darauf und spiele diese laut ab.
“Hallo Max, du wirst dich vermutlich noch immer fragen wer ich bin. Doch das ist nicht von Belangen. Viel wichtiger ist, wer du bist und was du für deine Zukunft wählst. Ich habe drei Möglichkeiten für dich: 1. Du stellst dich der Polizei und gestehst dein Verbrechen, 2. Ich werde alle Beweise an die Polizei geben und dich somit verhaften lassen oder 3. Du bringst dich um. Wähle weise, und das schnell. Denke immer daran, ich beobachte dich.”
Aufgelöst lege ich mein Telefon beiseite und setze mich kurz hin. Meine Gefühle sind ein einziges großes Chaos, doch schnell tritt nur eine der vielen Emotionen hervor: Wut. Ich greife den ersten Gegenstand, den ich finde und werfe den Hotelwecker an die Wand. Ich schaue zu, wie er in hunderte von Teilen zerbricht. Ich laufe nervös und aufgebracht zugleich durch den Raum und versuche zu verarbeiten, was gerade passiert ist. Was sind das bitte für Möglichkeiten?! Nichts davon kommt infrage und erst recht kein Selbstmord! Wenn ich zur Polizei gehe, ist mein Leben so wie ich es kenne vorbei. Ich werde alles verlieren, was ich mir aufgebaut habe und werde irgendwo im Gefängnis als Frauenmörder versauern. Wenn ich nicht zur Polizei gehen sollte, dann wird mein Peiniger dies für mich erledigen und das wird mich in den Augen der Polizei nur noch schuldiger wirken lassen. Was soll ich nur tun?
Würde ich es schaffen, die Beamten davon zu überzeugen, dass ich unschuldig bin? Dass ich Chloe nicht umgebracht habe? Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals zuvor gesehen, geschweige denn sie verletzt oder gar getötet zu haben. Letzten Sommer war eine sehr schwierige Zeit für mich, da ich wöchentlich unter Blackouts gelitten habe. Nie, wirklich nie, konnte ich mich auch nur an eine winzige Kleinigkeit erinnern und das macht mich noch heute sehr nervös. Es ist einfach frustrierend. Wer weiß, vielleicht habe ich es ja doch getan? Ich war dazu fähig den Mord zu vertuschen und das, als ich im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten war. Also vielleicht bin ich auch dazu fähig, eine Frau in meinem Bett zu ermorden und dann alles zu vergessen. Wie soll ich jemanden davon überzeugen können, die Tat nicht begangen zu haben, wenn ich nicht mal selbst daran glaube?
So komme ich zu keinem Entschluss. Ich schnappe mir meinen Geldbeutel, schlüpfe in meine bequemsten Schuhe und eine Lederjacke und verlasse das Zimmer. Vor dem Hotel angekommen atme ich erst einmal tief ein, um mich etwas zu beruhigen. Ohne zu wissen, wohin es geht, tragen mich meine Füße immer weiter. Ich achte weder auf meinen Weg, noch auf die Umgebung. Erst als ich in eine zerbrochene Glasflasche trete, mache ich halt. Direkt vor einer verlassen aussehenden Bar komme ich zum Stehen.
“Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich ein kühles Bier trinken.”, sage ich leise und betrete die schummrige Stube. Wenige Gäste sitzen an den abgeschrammten Tischen und würdigen mich keines Blickes. Ich setze mich an die Bar und gebe dem Barkeeper ein Zeichen, dass ich bestellen möchte. “Was kann ich dir bringen?”, fragt er mich genervt, als er vor mir stehen bleibt.
“Ein Helles bitte.”, entgegne ich ebenfalls mies gelaunt. Wie kann man nur so unfreundlich zu einem Fremden sein, selbst wenn man einen neuen Gast bedienen muss? Entgeistert schüttel ich meinen Kopf. Die Luft ist stickig, die Stimmung gereizt. Ich hänge meine Jacke an einen Haken an der Wand und mache es mir auf dem hohen Hocker bequem. Der Mann kommt zurück und stellt das Getränk vor mir ab. Erleichtert nehme ich einen großen Schluck und lasse die Flüssigkeit meine Kehle hinunter fließen. Es tut wahnsinnig gut. Ich betrachte die Leute um mich herum und stelle fest, dass ich niemanden kenne. Obwohl, der Mann hinter der Bar kommt mir bekannt vor, aber woher kenne ich ihn? Ich schiebe den Gedanken beiseite und trinke eilig mein Bier aus. Diesen Laden möchte ich so schnell wie möglich wieder verlassen. Die Leute hier sind nicht ganz der Umgang, den ich normalerweise pflege.
Zurück an der kühlen Abendluft laufe ich nun zielsicher in Richtung Hotel, da meine Schicht bald beginnt und ich mich vorher unter der Dusche erfrischen möchte. Als ich gerade über die Straße laufen möchte, vibriert mein Handy und teilt mir mit, dass eine Nachricht eingegangen ist. Verwundert hole ich es aus meiner Hosentasche und entsperren den Display. Wer schreibt mir denn noch um diese Uhrzeit? Eine SMS von einer unbekannten Nummer blinkt auf der Startseite auf. Ich habe diese Nummer schon einmal gesehen, weiß aber nicht mehr wo. Gespannt klicke ich die SMS an, es ist ein Video. Unsicher schaue ich mich um, denn ich möchte keine ungebetenen Zuschauer. Wer weiß, was in diesem Video zu sehen ist. Ich drücke auf Play und runzle meine Stirn – bald werden sich diese Falten noch in mein Gesicht einmeißeln, so oft habe ich in letzter Zeit diesen Blick gehabt. Auf dem kleinen Display ist die Bar zu sehen, in welcher ich vor wenigen Minuten noch gesessen war. Es ist ein Video von einer Überwachungskamera, zumindest sieht es von dieser Perspektive so aus. Ich beuge mich näher zu meinem Handy herunter, um die Handlung genauer erkennen zu können.
Ist das…nein das kann nicht sein. Bin das ich? Und Chloe?
Mein Herz rutscht mir fast in die Hose. Schnell stoppe ich die Aufnahme und versuche das Bild größer zu ziehen, um mir die Gesichter besser ansehen zu können.
Tatsächlich, ich sitze neben Chloe am Tresen und wir unterhalten uns angeregt. Leider gibt es keinen Ton und ich kann nur anhand der Mimik und Gestik ausmachen, dass wir uns gut verstehen. Es geht nur wenige Sekunden lang, doch diese reichen völlig aus. Rechts unten im Bild ist das Datum und die Uhrzeit zu sehen. Es ist genau der Tag, an dem sie tot bei mir lag und ich mich anschließend an nichts erinnern konnte. Selbst jetzt kommen keine Erinnerungen hoch, doch mir wird immer klarer, dass ich es tatsächlich gewesen sein muss. Ich weiß nicht was ich denken soll, ich bin zu sehr von mir selbst schockiert. War ich es wirklich? Und da ist er wieder, der Mann an der Bar. Er hat also schon damals dort gearbeitet. Wieder beschleicht mich dieses seltsame Gefühl. Ich kenne ihn! Doch woher? Ich forsche in den hintersten Ecken meines Gehirns und finde etwas, etwas sehr wichtiges. Ich weiß es. Das ist er, das ist Finn! Chloes Bruder und der Mann, der vor etwa einem Jahr ein Bewerbungsgespräch im Hotel hatte. Ich musste ihm damals eine Absage geben und er sah dabei nicht sehr erfreut aus. Möglicherweise ist er es, der mir diese Fotos und Briefe geschickt hat?
Erneut schaue ich mich um und checke meine Umgebung. Nirgends ist jemand zu sehen und das ist auch gut so. Ich möchte alleine sein, am liebsten im Erdboden versinken und nie wieder auftauchen. Ich gehe noch einmal die Möglichkeiten durch, welche mir mein Erpresser gegeben hat.
24 Stunden sind eine lange Zeit und doch scheint es nicht genug zu sein, um solch eine Entscheidung zu treffen. Ich finde mich an einer Brücke wieder und bleibe kurz stehen, um mich umzusehen. Die Sicht, die sich mir bietet, ist einfach unglaublich. Die Stadt liegt offen vor mir und das Spiel der Lichter ergibt ein atemberaubendes Bild. Mein Blick gleitet nach unten in die Tiefe. Das wilde Wasser des Flusses spiegelt das Mondlicht wieder. Es ist wunderschön und die Nacht scheint friedlich, wäre da nicht die Entscheidung, welche auf meinen Schultern lastet. Die letzten Tage schwirren mir durch den Kopf und vernebeln meine Sinne. Die vielen Bilder, der Zeitungsartikel, das Video, das Blut. Das alles ist mir zu viel.
Unter mir fließt der Fluss, die Nacht ist still. Die Sterne und der Mond am Himmel spenden mir etwas Licht und auch Trost. Ich fühle mich frei. Es wäre so leicht über das Geländer zu klettern und einfach zu springen, aber will ich das denn?
Hallo
Ich hinterlasse dir gerne ein Like.
Deine Geschichte schreit nach einer Veröffentlichung.
Ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen.
Dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)
Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
“Die silberne Katze “