SusanneSommerfeldDer Informant

Monika starrte seit zwei Stunden auf ihren Bildschirm. Die Deadline schwebte über ihr wie eine Gewitterwolke. Wenn sie nicht bis Redaktionsschluss lieferte, würde ihre Chefin sie feuern. Das Problem war nicht, dass sie keine Geschichte zu erzählen hatte. Sie wusste nur nicht, ob sie damit ihren Informanten nicht in ernsthafte Schwierigkeiten brachte. Wobei sie ihn mittlerweile Stefan nannte und nicht mehr ihren Informanten. Sie arbeitete noch nicht lange im Ressort für lokale Ereignisse. Was sie mit Stefans Hilfe aufgedeckt hatte, würde diese verschlafene Provinzstadt aufrütteln und Monika eine Stufe auf der Karriereleiter als ernstzunehmende Journalistin voranbringen.

 

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Bettina, die gute Seele und Praktikantin des Ressorts, steckte den Kopf herein.
»Komm doch rein, Betti, ich kann etwas Abwechslung vertragen.«
Bettina legte ein in bunt gestreiftes Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen auf den Tisch.
»Das ist eben für dich an der Rezeption abgegeben worden. Du hast doch nicht etwa Geburtstag?«
Monika schüttelte den Kopf und betrachtete das Päckchen argwöhnisch. Von wem konnte sie ein Geschenk erwarten? Ihre Mutter schenkte ihr seit Jahren nichts mehr zum Geburtstag und den letzten hatte sie bereits vor fünf Monaten gefeiert. Stefan wäre auch nicht so unvernünftig, etwas hier abzugeben. Eine Freundin? Manchmal besuchte sie mit einigen Kolleginnen nach der Arbeit das Café an der Ecke, noch seltener ging sie mit ihnen ins Kino oder in eine Bar. Eine echte Freundschaft verband sie mit keiner der Frauen.
»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte Bettina und schaute sehnsüchtig auf das Geschenk.
Monika winkte ab.
»Ach, später vielleicht.«
Sie wendete sich wieder ihrem Bildschirm zu und tippte ein wenig auf der Tastatur herum. Bettina blieb abwartend neben ihrem Tisch stehen.
»Ist sonst noch was?«
Bettina schüttelte den Kopf und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro. Monika grinste. Ihre Kollegin platzte sicher vor Neugier, aber sie beabsichtigte, das Päckchen in Ruhe zu öffnen. Nicht, dass sich am Ende etwas darin befand, was sie in Verlegenheit bringen würde. Bettina gehörte nicht zu den diskreten Kollegen.

 

Für Monika Haferland stand auf einem Sticker auf der Vorderseite. Monika inspizierte die geschwungene Handschrift. Sie kam ihr nicht bekannt vor. Wer schrieb heute noch mit der Hand? Behutsam öffnete sie das Geschenkpapier und den darin befindlichen gepolsterten Umschlag. Was war das? Ein Handy? Warum schickte ihr jemand ein Handy? Sie nahm es heraus und schüttelte den Umschlag. Keine Nachricht, nur das Gerät. Was hatte das zu bedeuten? Ob hier irgendwer ein Spiel mit ihr spielte? Gab es einen Verehrer, der zu schüchtern war, sie nach einem Abendessen zu fragen? Oder war es ein neuer Informant, der ihr eine delikate Geschichte verkaufen wollte? Ihre Neugier war geweckt.

 

»Und, was war in dem Päckchen?«
Monika zuckte zusammen.
»Kannst du nicht anklopfen, Betti?«
Monika schob das Geschenkpapier über das Handy. Bettina kam näher. Monika stand auf und trat ihr entgegen.
»Du solltest dich um deine Arbeit kümmern, Betti«, sagte sie und drängte Bettina mit Nachdruck Richtung Tür. Ihr Verhalten würde Bettinas Neugier noch anstacheln, aber sie wollte das Rätsel um das Handy selbst lösen.
»Nun mach doch nicht so ein Geheimnis daraus«, protestierte Bettina, als Monika hinter ihr die Tür abschloss.

 

Monika schaltete das Handy an. Wie sie erwartet hatte, war es nicht durch eine PIN geschützt. Nichts sprach dafür, dass das Handy bereits genutzt wurde, keine eingespeicherten Telefonnummern, keine Nachrichten. Sie suchte nach sonstigen Daten und stieß auf einen Ordner namens Monika. Dutzende Bilddateien befanden sich darin. Sie blätterte durch die Fotos. Mit jedem weiteren Bild wuchs ihre Panik. Als sie das letzte erblickte, schrie sie laut auf.
Oh nein, was war das? Das Handy rutschte ihr aus der Hand. Sie zitterte am ganzen Körper, und ihr Herz schien immer wieder auszusetzen, bevor es mit aberwitziger Geschwindigkeit weiter galoppierte. Sie japste nach Luft. Fühlte sich so eine Panikattacke oder ein Herzinfarkt an?
»Monika, mach die Tür auf!«, rief Bettina und rüttelte an der Klinke. »Was ist denn los bei dir?«
Bettina musste die ganze Zeit vor der Tür gestanden und ihren Schrei gehört haben. Doch Monika war weder in der Lage zu antworten noch aufzustehen. Sie spürte ihre Hände und Füße nicht mehr und hatte das Gefühl, sich aufzulösen. Was passierte mit ihr?

 

Ein Knall erschütterte den Raum und Bettina stürmte ins Zimmer.
»Monika, was ist mit dir? Sag was. Geht es dir nicht gut?«
Benommen schaute sich Monika um. Ein Mitarbeiter der Sicherheitsfirma hatte die Tür eingetreten und betrachtete den Schaden, den er angerichtet hatte. Bettina hatte rote Flecken im Gesicht und sah besorgt aus. Das Handy! So unauffällig wie möglich schob Monika das Gerät mit dem Fuß unter den Tisch.
»Ja, es geht schon. Ich habe wohl zu wenig getrunken.«
»Soll ich nicht lieber den Arzt rufen? Du siehst aus wie ein Gespenst. Außerdem hast du geschrien.«
Monika schüttelte den Kopf. Bloß kein Arzt. Womöglich rief jemand aus dem Krankenhaus bei ihrer Mutter an, die sie für Notfälle als Kontaktperson angegeben hatte. Die hatte sie vor dem Job gewarnt. Etwas Anständiges hätte sie lernen und nicht stattdessen den Menschen Lügen auftischen sollen. Ihre Mutter hatte nichts übrig für die Presse. Ein Schwächeanfall wäre ein gefundenes Fressen für sie.
Bettina verließ erst das Büro, als Monika ihr versprach, den Rest des Tages freizunehmen und sich auszuruhen. Als Bettina sich umdrehte, hob Monika das Handy auf und ließ es in ihre Handtasche gleiten.

 

Sie setzte sich auf eine Parkbank und zündete sich eine Zigarette an. Tatsächlich hatte sie vor ein paar Monaten mit dem Rauchen aufgehört, aber das war ein Notfall. Nachdenken gelang ihr am besten mit einem Glimmstängel zwischen den Lippen. Bevor sie das Handy aus der Tasche zog, schaute sie sich in alle Richtungen um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war allgegenwärtig. In ihrer Wohnung war sie jedoch nicht sicher.
Die ersten Fotos waren harmlos und zeigten sie im Café und im Park, meist ohne Begleitung, später mit Stefan. Das war besorgniserregend, denn sie hatte niemanden von ihm und seiner Rolle in ihrem Leben erzählt. Die nächsten Bilder von ihr und Stefan hatte jemand in ihrem Schlafzimmer aufgenommen. Das letzte Bild war das Grausamste. Sie atmete tief durch und schaltete das Display aus, um das erneut aufkommende Panikgefühl zu verscheuchen. Doch der Anblick hatte sich bereits in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Wer tat so etwas? Hatte jemand aus Stefans Firma Wind davon bekommen und wollte vermeiden, dass die Missstände aufgedeckt wurden? Sie waren umsichtig gewesen. Noch nie hatte sie einen Informanten in Gefahr gebracht, aber mit Stefan war auch von Anfang an alles anders verlaufen. Und weil sie so unprofessionell und verliebt wie ein Teenager war, musste er jetzt büßen.
Sie schüttelte den Kopf und hoffte, das Bild damit vertreiben zu können. Es half nichts. Immer, wenn sie die Augen schloss, sah sie Stefan vor sich, geknebelt und gefesselt an einen Stuhl. Sein panischer Blick verfolgte sie. Schuld, du bist Schuld. Auf dem Bild war nicht zu erkennen gewesen, wo sich Stefan befand. Vielleicht irgendeine Ruine, ein Keller, eine Garage? Es gab unzählige Möglichkeiten. Sie musste die Polizei einschalten. Das war nichts, was sie auf eigene Faust lösen konnte.

 

Monika tippte die 110 in ihr Handy, da klingelte das fremde Telefon. Sie schaute auf das Display: Unbekannte Rufnummer.
»Denk nicht mal daran, die Polizei anzurufen«, sagte der Anrufer mit extrem verzerrter Stimme.
Monika drehte sich um. Um diese Zeit waren nur wenige Menschen im Park unterwegs und keiner von ihnen schien zu telefonieren.
»Ich habe dich immer im Blick, also mach keine Dummheiten. Ich melde mich wieder.«
Damit war das Gespräch unterbrochen. Monika starrte auf das schwarze Display. Wer spielte so ein grausames Spiel mit ihr und Stefan?

 

Monika kehrte in ihre Wohnung zurück. Dort, wo sie sich stets sicher und geborgen gefühlt hatte, umgab sie nun ein Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins. Sie würde alles dafür tun, diese Räume wieder zu ihrem Zuhause zu machen. Sie trat ins Schlafzimmer und schaute sich um. Wo hatte der Täter die Kamera versteckt? Ihr Blick fiel auf das Bücherregal. Der Blickwinkel passte zu den Fotos. Buch für Buch zog sie aus dem Regal und schüttelte auch die Seiten aus. Eines davon fühlte sich beim Herausnehmen eigenartig an. Es war kein Buch, sondern eine Schachtel. In einem kaum sichtbaren Loch im Buchrücken war eine winzige Kamera versteckt. Monika riss sie heraus und trampelte solange darauf herum, bis nur noch kleine Plastikteilchen davon übrig waren. Sie fühlte sich wie in einem dieser James Bond-Filme, nur dass sie das Opfer und nicht der Held war. Panisch warf sie auch die restlichen Bücher auf den Boden. Dann riss sie den Kleiderschrank auf und wühlte sich durch ihre Shirts, Socken und Unterwäsche. Als sie das Schlafzimmer komplett auf den Kopf gestellt hatte, eilte sie ins Wohnzimmer. Im Schirm der Leselampe entdeckte sie ein Abhörgerät. Sie atmete auf. Meist hatten Stefan und sie die Details im Schlafzimmer besprochen.
Sie durchkämmte auch die unwahrscheinlichsten Ecken ihrer Wohnung. Sie wollte sichergehen, dass der Eindringling nicht noch weitere Kameras oder Wanzen angebracht hatte. Schweißgebadet ließ sie sich nach dieser Aktion auf die Couch fallen. Sie würde Tage brauchen, um das Chaos wieder zu beseitigen. Wie war der Täter in ihre Wohnung gekommen? Einbruchsspuren gab es nicht und außer ihrer Mutter hatte niemand einen Zweitschlüssel. Sie würde das Schloss austauschen müssen.

 

Das Handy klingelte erneut. Monika schaute nicht erst auf das Display, sondern nahm den Anruf sofort entgegen.
»Hallo Monika. Stefan möchte dich gern sprechen. Hör gut zu.«
Wieder diese verzerrte Stimme. Sie drückte das Telefon fest ans Ohr und hörte ein entferntes Wimmern. Es tut mir leid, so entsetzlich leid, dachte sie.
»Stefan? Hörst du mich? Ich bin es, Monika. Wo bist du?«
Das Schluchzen war jetzt direkt an ihrem Ohr. Stefan versuchte zu reden, aber Monika verstand kein Wort.
»Stefan, was ist mit dir? So sag doch etwas!«, rief sie ins Telefon und begann zu weinen.
»Monika? Monika, hilf mir«, flüsterte Stefan.
»Natürlich, was soll ich machen? Ich mache alles.«
Ein klatschender Laut ertönte und gleich darauf Stefans schmerzerfülltes Stöhnen.
»Stefan? Stefan?«
»Hör zu, Monika, mit ihm ist alles in Ordnung. Du hast es in der Hand, wie es weitergeht«, sagte der Entführer.
Monika wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und atmete tief durch. Sie musste jetzt einen klaren Kopf behalten. Sonst wäre Stefan verloren. Sie war Schuld daran, dass er in diese Lage geraten war und sie würde ihn daraus befreien.
»Was willst du von Stefan?«, fragte sie.
»Du denkst, du bist die Größte, was?«, spuckte ihr der Entführer entgegen. »Ganz die Karrierefrau mit großen Ambitionen, dabei hast du gar nichts geleistet.«
Monika stutzte. Wieso wurde der Entführer so persönlich?
»Ja, meine Liebe. Ich weiß genau, wie du an den Posten gekommen bist und nun möchtest du mit der großen Story noch höher hinaus. Aber daraus wird nichts.«
Monika schwieg. Der Täter kannte sie scheinbar gut. Und woher wusste er von ihrem Betrug und der Geschichte, an der sie dran war? Sie hatte mit niemandem darüber gesprochen.
»Hat es dir jetzt die Sprache verschlagen?«
»Es geht also gar nicht um Stefan? Was genau willst du von mir?«
Der Entführer lachte schallend.
»Was ich von dir will? Du wirst mir alle Einzelheiten erzählen, die Stefan dir enthüllt hat. Ihr wart ja leider meist im Schlafzimmer beschäftigt. Und ich gehe damit zur Konkurrenz und verkaufe die Geschichte. Stefan wollte leider nicht reden. Also blieb mir nichts anderes übrig, als dich einzuschalten. Ich gebe dir ein paar Stunden Bedenkzeit, dann rufe ich wieder an.«
Das Letzte, was Monika hörte, war ein markerschütternder Schrei. Dann verstummte das Handy.

 

Monika ging zu ihrem Schreibtisch und zog die Mappe mit den relevanten Dokumenten aus der untersten Schublade. Hastig blätterte sie die Unterlagen mehrmals durch. Sie konnte es nicht fassen. Das Bachelorzeugnis der Hochschule war nicht mehr da. Der Entführer hatte nicht nur eine Kamera in ihrer Wohnung installiert, sondern auch noch das Zeugnis gestohlen. Das verdammte gefälschte Zeugnis, was ihre gesamte Zukunft als Journalistin zerstören konnte. Sie schleuderte die Mappe auf den Boden und rannte ins Bad. Im letzten Augenblick hob sie den Toilettendeckel und sank auf die Knie. Sie übergab sich mehrfach. Ihre grandiose Zukunft war in wenigen Stunden zerstört worden.

 

Sie hätte sich krankmelden sollen nach dem gestrigen Tag. Doch half sie Stefan nicht damit, wenn sie sich auf der Couch ausruhte. In der Nacht war ihr der Gedanke gekommen, dass es jemand aus ihrem Umfeld sein musste. Ein neidischer Kollege vielleicht? Eine Kopie des Zeugnisses lag in der Personalabteilung. Nie war Verdacht geschöpft worden. Die Urkunde sah täuschend echt aus und niemand hatte an ihren Referenzen gezweifelt.
Doch woher wusste der Entführer von den Dingen, die ihr Stefan erzählt hatte? Die Firma, in der er arbeitete, leitete seit vielen Jahren giftige Abwässer unbemerkt in das umliegende Erdreich. Stefan hatte ihr sogar eine Bodenprobe besorgt. Ein ehemaliger Schulfreund, dem sie vertraute, hatte die Probe untersucht. Das Ergebnis war eindeutig. Wenn sie dies öffentlich machte, war das Unternehmen geliefert.

 

Monika betrat ihr Büro. Bettina saß vor dem Bildschirm und war vertieft darin, den Computer zu durchsuchen.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
Erschrocken sprang Bettina auf.
»Ich dachte, du hättest dich krankgemeldet. Du bist ja immer noch ganz blass.«
»Das ist immer noch mein Büro. Was suchst hier?«
»Was ich hier suche? Das solltest du doch am besten wissen, Monika«, zischte sie und ihre Augen wandelten sich zu schmalen Schlitzen.
Blitzartig hatte sich Bettina von der besorgten Praktikantin in ein Biest verwandelt. Monika beschlich ein furchtbarer Gedanke. Bettina steckte also hinter allem, die harmlose Betti, die immer ein freundliches Wort für ihre Kollegen übrig hatte und sie mit Muffins und Kaffee versorgte.
»Nun schau nicht wie ein unschuldiges Lämmchen. Du bist keinen Deut besser.«
Denke nach, Monika. Nicht unüberlegt handeln. Wie kannst du Stefan helfen?
»Hör zu, Bettina. Lass uns das doch gütlich regeln. Wenn das mit Stefan rauskommt, bist du dran wegen Entführung und Erpressung.«
Bettina lachte.
»Und du bist deine Karriere los. Meinst du, Sabine lässt dich weiterhin hier arbeiten, wenn sie erfährt, dass du gar keine Journalistin bist? Soweit ich weiß, ist Urkundenfälschung auch eine Straftat. Überlass mir die Story und ich lasse Stefan frei. Ich habe es wirklich satt, hier nur den Kaffee zu kochen, während du mir meinen Platz gestohlen hast.«
Daher wehte der Wind. Bettina hatte nicht den Ehrgeiz, es mit Fleiß nach oben zu schaffen und zerstörte dafür ihre Karriere. Monika war auch kein Engel, aber schreiben, das konnte sie weitaus besser als Bettina. Da fragte sicher niemand mehr nach ihrer Ausbildung.
»Woher weißt du überhaupt davon?«, fragte Monika.
»Du erinnerst dich an Bernd, deinen Freund im Labor? Nun ja, ein paar Drinks und Nettigkeiten später hatte ich ihn soweit, dass er mir von den Bodenproben erzählt hat. Mehr wusste er allerdings nicht. Dann habe ich dich beschattet. Du warst nicht sonderlich vorsichtig. Stefan ließ sich allerdings nicht knacken. Ihm scheint wirklich was an dir zu liegen.«
»Woher wusstest du von dem gefälschten Zeugnis und wie bist du in meine Wohnung gekommen?«
Bettina grinste und schüttelte den Kopf.
»Das bleibt mein Geheimnis. Und jetzt gibt mir endlich die Daten.«
»Ich bin natürlich nicht so naiv, die Daten hier zu speichern. Ich habe die Festplatte an einem sicheren Ort verwahrt. Lass uns heute Abend dort treffen, wo du Stefan versteckt hältst und ich gebe sie dir. Im Gegenzug lässt du ihn laufen«, sagte Monika.
Bettina schüttelte den Kopf.
»Das ist mir viel zu vage. Du willst mich doch bestimmt reinlegen.«
»Überleg dir mein Angebot in Ruhe und ruf mich dann an. Meine Handynummer hast du ja. Übrigens weiß ich, dass du was mit Sabines Mann hast. Keine Ahnung, ob das deiner Karriere zuträglich ist.«
Bettinas Mund klappte auf. Monika hatte ins Schwarze getroffen.

 

Sie setzte sich in ein Café und bestellte einen Tee. Nervös trommelte sie mit den Fingern auf dem Tisch und schaute immer wieder auf das Handy. Geduld war nicht ihre Stärke. Nachdem sie eine Stunde lang damit verbracht hatte, die anderen Gäste des Cafés zu beobachten, verließ sie das Lokal und schlenderte zum Park. Doch auch das muntere Treiben der Enten und Gänse am Teich lenkte sie nicht ab. Warum meldete sich Bettina nicht? Glaubte sie ernsthaft, dass sie ohne Konsequenzen davonkommen würde?
Monika schaute sich noch einmal das letzte Foto auf dem Handy an. Dabei versuchte sie, Stefans gequälten Gesichtsausdruck zu ignorieren. Krampfhaft überlegte sie, ob ihr etwas bekannt vorkam an der Umgebung. Doch der Hintergrund war zu dunkel. Der Stuhl, auf dem Stefan gefesselt saß, sah jenen aus ihrem früheren Klassenzimmer ähnlich. Gab es im näheren Umfeld eine leerstehende Schule? Monika zog ihr Handy aus der Tasche und gab »ehemalige Schule ungenutzt« in die Suchmaschine ein. Volltreffer! Ein paar Kilometer von hier entfernt stand ein seit vielen Jahren nicht mehr genutztes Schulgebäude, beinahe ein Wunder in der heutigen Zeit, in der jedes potentielle Baugrundstück sofort kultiviert wurde. Monika eilte aus dem Park und rief sich ein Taxi.

 

Das ausladende Backsteingebäude wirkte wie ein Relikt inmitten der Neubausiedlung. Umrahmt wurde das von Efeu bewucherte Gebäude von einem Park, der seit vielen Jahren keinen Gärtner mehr gesehen hatte. Margeriten blühten da, wo früher einmal ein gepflegter Rasen gewesen war. Brennnesseln und Brombeersträucher bildeten einen undurchdringlichen Dschungel. Monika versuchte vergeblich, sich vorzustellen, wie hier vor mehreren Jahrzehnten Schüler ein- und ausgeströmt waren. Das Grundstück war von einem meterhohen Gitter aus Schmiedeeisen umgeben, dessen Speerspitzen am oberen Ende feindselig wirkten. Das Tor war mit einer metallenen Kette verschlossen. Wie hatte Bettina Stefan unauffällig herbringen können? Letztendlich war das auch egal. Sie musste ihn finden und befreien, bevor diese durchgeknallte Zicke hier aufkreuzte.
Monika ging auf die Rückseite des Grundstücks. Sie hoffte, dass kein neugieriger Nachbar die Polizei rufen würde. Das Glück schien mit ihr zu sein. An einer Stelle, an der die Brennnesseln besonders hoch gewachsen waren, fehlten mehrere Gitterstäbe. Etliche Pflanzen waren umgeknickt. Monika war sicher, dass Bettina hier eingestiegen war. Sie versuchte, weitere Brennnesselpflanzen soweit herunterzutreten, dass sie unbeschadet durch die Lücke kriechen konnte. Einige der wehrhaften Blätter aber straften sie mit einem schmerzhaften Juckreiz.
Auch der hintere Teil des Grundstücks war vollständig verwildert. Monika folgte einem Trampelpfad, der vor nicht allzu langer Zeit benutzt worden sein musste. Ihr journalistischer Eifer war geweckt und überdeckte ihre Angst. Mit Bettina würde sie schon fertig werden.

 

Eine schmale Außentreppe führte hinab in die Kellerräume. Die Tür war verschlossen. Das Vorhängeschloss passte nicht zu der altmodischen Holztür. Bettina musste es angebracht haben. Monika lief weiter am Gebäude entlang und atmete auf. Eine Flügeltür mit zwei Glasscheiben führte in den Garten. Sie wickelte sich die Jacke um den linken Arm und versuchte, mit dem Ellbogen die Scheibe einzuschlagen. Doch das Glas war stabiler als gedacht. Warum sah das in Filmen immer so unkompliziert aus? Monika schaute sich nach einem geeigneten Werkzeug um. Sie entschied sich für einen Stein, der ehemals ein Blumenbeet verziert hatte. Mit voller Wucht warf sie ihn gegen die Scheibe, die daraufhin mit einem klirrenden Geräusch zersplitterte. Monika versteckte sich hinter einem Busch und hoffte, dass die Nachbarn nichts gehört hatten. Sie wartete fünf Minuten. Alles blieb ruhig. Vorsichtig trat sie durch die Flügeltür. Unter ihren Schuhen knirschten die Glasscherben.
Das Haus wirkte von innen noch imposanter. Die hohen Decken waren mit Stuck verziert. Eine Wendeltreppe aus mahagonifarbenem Holz führte ins Obergeschoss. Monika war sicher, dass sich Stefan im Keller befand. Sie suchte im Erdgeschoss nach einer Treppe. In der ehemaligen Küche wurde sie fündig. Sie drückte die Klinke der schmalen Tür herunter und war erstaunt, dass diese nicht verschlossen war. Sie betätigte den Lichtschalter, vergeblich. Wie dumm von mir. Natürlich ist der Strom längst abgestellt.
Langsam stieg sie die Stufen hinunter und tastete sich an der Wand entlang. Es war stockdunkel und sie ärgerte sich darüber, keine Taschenlampe mitgenommen zu haben. Sie fühlte in ihrer Handtasche nach ihrem Handy. Das eingebaute Lämpchen war besser als nichts.

 

Plötzlich ging das Licht an und sie spürte etwas Kaltes an ihrem Hals.
»Beweg dich kein bisschen. Hast du etwa gedacht, dass ich mich einfach so austricksen lasse?«
Verdammt! Wieso war Bettina schon hier? Monika hätte sich verfluchen können. Sie war in eine Falle getappt und hatte nicht einmal eine Waffe bei sich. Was hatte sie sich dabei gedacht? Sie schloss die Augen, um besser nachdenken zu können.
Sie hörte ein dumpfes Geräusch und öffnete die Augen. Stefan stand vor ihr mit dem Stuhl in den Händen, an den er gerade noch gefesselt gewesen sein musste. Bettina lag auf dem Boden und stöhnte leise vor sich hin. Stefan ließ den Stuhl sinken und starrte auf Bettina.
»Was… Was habe ich getan?«
Monika umarmte Stefan und schmiegte sich fest an ihn.
»Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Stefan ergriff Monika an den Oberarmen und schüttelte sie.
»Gut? Mir geht es nicht gut. Ich habe gerade einen Menschen erschlagen.«
»Die hat morgen einfach nur Kopfschmerzen, mehr nicht. Die Hauptsache ist doch, dass ich dich gefunden habe.«
»Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spiel, Monika. Veröffentliche die Story, halte meinen Namen raus und fertig. Ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
»Aber, was soll das? Ich dachte, du liebst mich.«
Stefan antwortete nicht, sondern bückte sich zu Bettina hinunter. Er tastete an ihrem Hals nach dem Puls und atmete hörbar auf.
»So ein Glück, sie lebt noch. Wir sollten hier verschwinden und dann rufe ich den Notarzt.«
Stefan rannte die Kellertreppe nach oben und schaute sich auf der Hälfte der Treppe um.
»Was ist? Komm!«

 

Irgendetwas stimmte hier nicht. Wie hatte er sich befreit? Und warum machte er sich solche Sorgen um Bettina?
Monika blickte zu Bettina.
»Nun, mach schon. Wir müssen hier weg.«
Sie blieb wie versteinert stehen. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Das war ein abgekartetes Spiel. Sie griff sich das Messer, das Bettina hatte fallen lassen und hielt es ihr an den Hals.
»Hey, was soll das?«, rief Stefan und hastete die Treppe hinunter. »Bist du jetzt völlig verrückt?«
Monika behielt Bettina im Blick, die ihre Augen in dem Moment aufschlug, als sie das Messer an ihrem Hals spürte.
»Hab ich es doch geahnt«, sagte Monika und drückte das Messer fester in das Fleisch, bis ein wenig Blut hervortrat. »Raus mit der Sprache, was wird hier gespielt?«
»Sag du es ihr, Stefan«, sagte Bettina.
»Monika, leg das Messer weg. Bitte! Und dann lass uns reden.«
»Nicht mehr nötig. Ich habe verstanden. Was hat dir Bettina versprochen, damit du ihr die Geschichte erzählst?«
»Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte Stefan und näherte sich.
»Bleib, wo du bist, sonst tue ich deiner kleinen Schlampe weh.«
Stefan blieb wenige Schritte vor ihr stehen und schaute ihr fest in die Augen.
»Es tut mir leid, Monika. Sie hat mich erpresst. Was hätte ich denn tun sollen?«

 

Dann ging alles ganz schnell. Stefan sprang auf Monika zu und stieß sie nach hinten. Dabei fiel ihr das Messer aus der Hand. Bettina erhob sich blitzschnell und hob die Waffe auf. Monika versuchte zu schreien, aber aus ihrer Kehle kam kein einziger Ton. Sie konnte nur hilflos zuschauen, wie Bettina Stefan das Messer in den Rücken rammte und es langsam wieder herauszog. Monika schaute ihm in die Augen und sah blankes Entsetzen. Wie in Zeitlupe sank er in sich zusammen. Ein entsetzlicher Schrei hallte durch den Kellerraum. Es dauerte einen Moment, bis Monika begriff, dass sie es war, die schrie.
»Halt die Schnauze, du Miststück«, fauchte Bettina. »Was mache ich jetzt nur mit dir?«
Schritt für Schritt kam Bettina auf sie zu, noch immer mit dem Messer in ihrer Hand, an dem Stefans Blut klebte. Monikas Herz raste, während ihr Verstand viel zu langsam arbeitete. Sie war Journalistin, keine Agentin. Was würde eine Superheldin in dieser scheinbar ausweglosen Situation unternehmen?
Sie überlegte noch, wie sie heil aus der Sache herauskommen könnte, da brach Bettina vor ihr zusammen. Hinter ihr stand Stefan mit einer Metallstange in der Hand und hielt sich mit letzter Kraft auf den Beinen. Monika rannte zu ihm und versuchte, ihn zu halten, aber er war zu schwer. Behutsam bettete sie seinen Kopf auf ihre Jacke.
»Es tut mir leid«, flüsterte er. Blut lief ihm aus Nase und Ohren. Er rang hörbar nach Atem.
Einige Minuten später hob sich seine Brust ein letztes Mal und er seufzte. Dann war es still. Monika hielt ihn im Arm und weinte. Nie wieder würde sie etwas schreiben, nie wieder.

3 thoughts on “Der Informant

  1. … und wie sehr ich hoffe, dass du das aber noch tust! Wahnsinn! Spannende Geschichte, das lesen hat wirklich Spaß gemacht! Sie war weder zu kurz noch zu lang und hat den spannungsbogen wirklich aufrecht erhalten! Ich dachte ja bis zum schluss, dass Monikas Mutter da ihre Finger im spiel haben muss. Dran bleiben!:)

Schreibe einen Kommentar