Caroline MackDer Käfig

Sein Gesicht hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Zwar trug er die schwarzen Haare nicht mehr kurz geschoren, sondern etwas länger. Doch es war dasselbe Gesicht wie früher. Und dieses Gesicht sollte nicht lächeln dürfen.

Bereits seit zwei Minuten saß Tom mit hängendem Kopf auf einer Parkbank und starrte auf das Handy in seiner Hand. Als würde es einfach verschwinden, wenn man es nur lange genug anstarrte.

„Shit!“

Tom atmete tief ein. Verstohlen sah er sich um, ob ihn jemand beobachtete. Alles schien unauffällig. Ein normaler, sonniger Frühlingsmorgen im Park, die Bäume blühten, und die Wiesen sprossen in sattem Grün. Zwei Fahrradfahrer fuhren den Weg an einer kleinen Mauer entlang. Etwas weiter vorne lief ein Jogger. Auf dem nahen Spielpatz hüpften Kinder, schaukelten, jagten einem Ball hinterher, Mütter saßen auf den Bänken und winkten ihnen zu…

Hatte er vorhin jemanden von der Parkbank weglaufen sehen? Er hatte angehalten wie jeden Samstag, um nach einem Sprint noch ein paar Dehnübungen an der Bank zu machen, vor den letzten zweihundert Metern bis zu seiner Haustür.

Nein, er hatte niemanden gesehen, nur das Handy auf der Bank. Es sah aus wie seines. Sogar das Hintergundbild vom Sperrbildschirm stimmte. Hatte er es vorhin hier verloren? Aus einem Reflex heraus hatte er es in die Hand genommen und seine PIN eingegeben – und war drin. Doch es war leer. Keine Apps, keine Kontakte, keine Chatverläufe… alles, was er fand, waren diese sechs Fotos.

Kurz spielte er mit dem Gedanken, die Fotos einfach zu löschen. Als könne er damit die Situation löschen, die darauf zu sehen war. Und diesen Mann gleich mit.

Genau das hatte er bereits getan. Den Mann vom Foto gab es nicht mehr. Er hatte nichts mehr mit ihm zu tun. Und dennoch saß Tom hier und sah vor sich sein fünf Jahre jüngeres Selbst. Sechs unscharfe Aufnahmen auf dem Display eines Smartphones, meist von hinten oder von der Seite, doch die Tätowierungen auf dem nackten Rücken und den Armen ließen keinen Zweifel an der Identität der fotografierten Person.

Ein Griff in die Hosentasche bestätigte Tom, dass sein eigenes Handy an Ort und Stelle war. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn: das war für ihn bestimmt! Der Ablageort, die Handymarke, das Hintergrundbild, die PIN, die Fotos… kein Zweifel.

Neue Energie schoss in seine Beine. Tom sprang auf, hetzte die kurze Stecke bis zur Haustür des alten Mehrfamilienhauses und die Stufen hinauf, als würde er von einer unsichtbaren Hundemeute gejagt. Es war offensichtlich: seine Vergangeheit hatte ihn eingeholt.

Genugtuung breitete sich in ihr aus, als sie das Entsetzen auf seinem Gesicht sah – leider nur aus sicherer Entfernung. Die Mütter neben ihr tratschten, tippten gelangweilt auf ihren Mobiltelefonen oder blätterten in Zeitschriften. Samstagvormittags war der Spielplatz gut besucht, und der Lärmpegel überstieg ihre Wohlfühlgrenze deutlich – aber sie hatte dennoch diesen Beobachtungsplatz gewählt, denn hier würde sie nicht auffallen.

Nur zur Sicherheit winkte sie lächelnd ein paar hüpfenden Kindern zu, die von ihr keine Notiz nahmen. Der suchende Blick des etwa vierzig Meter entfernten Mannes schweifte über sie hinweg, ohne sie wahrzunehmen.

Sie beobachtete ihn, wie er aufsprang und in Richtung Parkausgang davonlief. Dann wartete sie noch ein paar Minuten, und ging langsam in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt würde sie endlich für Gerechtigkeit sorgen.

Zu Hause hatte Tom geduscht und gegessen, als wäre er auf Autopilot. Den ganzen Mittag war er wie ein gefangener Tiger in der Wohnung auf und ab gegangen. Es machte keinen Sinn. Wenn sie ihn hier in London gefunden hatten, warum war er noch am Leben? Warum diese Vorwarnung?

Nun stand er in dem exklusiven Fitnessstudio, in dem er als Personal Trainer arbeitete, und motivierte einen jungen Mann im sündhaft teuren Trainingsanzug. Trotz des aufwühlenden Fundes am Morgen durfte er sich jetzt nichts anmerken lassen.

„Was ist denn los, Bobby, heute nicht in Form? Komm schon, die letzten zehn schaffst du noch!“

Bobby war nie in Form. Aber heute war Tom es auch nicht. Immer wieder waren seine Gedanken woanders, er war nicht bei der Sache, verpasste den Moment, an dem er Bobby hätte anfeuern sollen, damit das gesteckte Tagesziel auch erreicht wurde.

„Meine Arme brennen schon!“ jammerte Bobby. Mit einem dumpfen Schlag fielen die Gewichte zurück auf den Boden

„Das sollen sie auch“ blaffte Tom zurück – ‚So ein fauler Sack!‘ schoss es ihm durch den Kopf. Kräftige Muskeln kann man eben nicht mit Geld kaufen, sondern nur mit Schweiß. Tom spürte eine altbekannte Wut in sich aufkeimen, und obwohl er wusste, dass sie rein gar nichts mit Bobby zu tun hatte, fiel es ihm schwer, sie nicht an dem jungen Mann auszulassen.

„Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen. Aber du schuldest mir dafür zehn Minuten länger auf dem Rad, damit du das weißt!“

Bobby stöhnte genervt. Aber Tom brauchte Luft, musste die Muskeln brennen lassen. So konnte er den Frust abbauen, und sich vielleicht besser konzentrieren. Er packte ein paar zusätzliche Gewichte drauf und trainierte dort weiter, wo Bobby aufgehört hatte. Dieser verzog sich erleichtert Richtung Ausdauergeräte.

Mit den ersten Bewegungen verrauchte tatsächlich die Wut. Die Bilder heute morgen hatten Erinnerungen in ihm geweckt, die er lieber ganz tief vergraben hätte.

Er schlug zu, immer wieder, die Menge um das Oktagon herum johlte, dann musste er zurück, Deckung hoch, dann wieder eine Schwachstelle des Gegners ausnutzen und ihn zu Boden werfen…

Unbewusst wurden seine Bewegungen an den Hanteln ruckartiger. Es war Zeit, auf die Beinpresse zu wechseln. Während Tom die Gewichte einstellte, ging er im Geiste die Fotos noch mal durch. Es waren sechs an der Zahl, jedoch an verschiedenen Tagen aufgenommen.

Er erinnerte sich an die Gegner, an die Orte, an die Siege. Sie hatten einen bitteren Nachgeschmack. Rückblickend war ihm klar, dass er im Käfig nie gegen seinen Kontrahenten gekämpft hatte. Immer war es die Wut auf sich selbst, und noch mehr auf seinen Vater, die ihn angetrieben hatte. Im Ring musste er keine verhasste Rolle spielen, die er nicht erfüllen wollte. Dieser achteckige Käfig war sein Schutzraum gewesen, sein Reich, in dem er herrschte. Doch die Wut, die sein Leben wie ein Käfig umgab, hatte er nie ablegen können, selbst als der Kampf schon vorbei war.

Der Jubel der Zuschauer schmeckte wie billiger Schnaps. Zuerst beißend, bitter, dann für einige Momente warm und berauschend, und am Ende hinterließ es alles nur Übelkeit und Kopfschmerzen.

Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn er in einer seriösen Liga hätte antreten können, mit offizell anerkannten Wettkämpfen. Mit Punktrichtern, Sponsoren und Regeln… aber dieser Weg war ihm nie offen gestanden. Nicht mit dem Namen Penetti.

Aber diesen Namen gab es nicht mehr in seinem Leben. Er hatte damit abgeschlossen. Nur – jemand anderes hatte offensichtlich noch nicht abgeschlossen mit Antonio Penetti. Und er hatte den Bogen geknüpft zu Tom Warner. Das machte diesen jemand gefährlich. Sehr gefährlich.

Einige Zeit und etliche Übungen später war Tom immer noch keine Idee gekommen, die ihn aus seiner misslichen Lage befreit hätte. Da erkannte er plötzlich eine Gestalt im Empfangsbereich, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Wenn das nicht ein glücklicher Zufall war…

Kurz zögerte er, denn Jakes Hilfe würde ihn viel kosten. Dennoch sprang Tom auf, lief mit schnellen Schritten durch das Fitnessstudio und schlug dem kräftigen blonden Mann freundschaftlich auf die Schulter.

„Hey du Fremder, gibts gerade keine Verbrecher zu jagen? Da musst du schon aufs Laufband, um nicht einzurosten!“

Lachend drehte sich der Angesprochene um: „Tom! Ich dachte, du wärst heute gar nicht hier – ich bin schon durch mit dem Trainig!“

Jake war vor vier Jahren einer von Toms ersten Kunden hier gewesen, aber es hatte sich schnell eine Freunschaft daraus entwickelt. Jake schonte sich genauso wenig wie er, und so war das gemeinsame Training oft in einen Wettkampf ausgeartet – wobei Tom nicht selten unterlag.

In eine reiche Unternehmerfamilie hineingeboren, hatte Jake sich den Erwartungen seiner Eltern widersetzt und trat nicht in deren Fußstapfen. Stattdessen wählte er eine Laufbahn bei der Polizei, und dank seiner schnellen Auffassungsgabe und einer guten Portion Ehrgeiz war er nun einer der erfolgreichsten Kriminalkommissare in London. Leider hatte die Karriere einen Großteil seiner Freizeit gefordert, und so hatte er das Fitnessstudio schon seit Monaten nicht mehr besucht.

„Wenn du schon mal vorbei schaust, lass uns doch zusammen was trinken gehen!“

„Gute Idee! Ich habe heute Abend noch nichts vor, meine Freundin ist das ganze Wochenende bei ihrer Tante…“ Jake zwinkerte vergnügt.

„Seit wann hast du denn eine Freundin? Mann, wir haben uns zu lange nicht mehr gesehen!“

Die Gewissensbisse waren Jake anzusehen, aber das kam Tom gelegen. Er musste einen Gefallen einlösen.

Die schummrig beleuchtete Kneipe war überfüllt, nur an der Bar hatten sie noch einen Platz ergattern können, aber der war so gut wie jeder andere. Die Lautstärke und die dicken Rauchschwaden störten sie nicht, und Tom lehnte sich an den Bartresen, während er sich eine Zigarette drehte.

Sie hatten sich ausgetauscht, relativ belanglose Geschichten, Jake hatte von seiner neuen Freundin Anna erzählt, einer Journalistin aus den USA. Tom gab ein paar Geschichten aus dem Fitnessstudio zum Besten. Wie immer vermied er allzu persönliche Gesprächsthemen.

Aber nun war es so weit. Jemandem zu vertrauen war zwar überhaupt nicht seine Art, aber passiv auf einen Zug seines Gegners zu warten, war es noch weniger. Er legte das fremde Handy auf den Tisch.

„Kennst du zufällig jemanden bei der Spurensicherung, der Zeit für eine kurze Fingerabdruck-Analyse hat?“

Verwundert blickte Jake ihn an.

„Wie meinst du das? Rein privat?“ Jetzt hatte sich Besorgnis in seine Stimme geschlichen. „Was ist denn los, Tom?“

„Jemand hat mir das Handy untergeschoben und versucht jetzt, mich zu erpressen.“ Ja nicht zu viele Details preisgeben. „Ich habe das Handy schon angefasst. Kannst du meine Fingerabdrücke nehmen und nur die davon abweichenden Abdrücke in eurem System suchen?“

Die Fragezeichen in Jakes Gesicht wurden größer. Aber wenn Jake auch nach Toms Fingerabdrücken suchen würde, gäbe es vielleicht einen Treffer, und das wollte er vermeiden.

„Wenn dich jemand erpresst, solltest du Anzeige erstatten. Damit ist nicht zu spaßen, und wenn der Fall offiziell aufgenommen wird, kann ich dir viel besser helfen.“

Damit hatte Tom gerechnet. Nun musste er an Jakes Gewissen als Freund appellieren.

„Tut mir leid, das kann ich nicht machen… keine Polizei, das ist eine Bedingung des Erpressers. Ich dachte nur, als Freund würdest mir vielleicht helfen können, ohne viele Fragen…“

Im Gesicht seinens Gegenübers war Skepsis zu sehen.

„Natürlich kann ich das. Aber wenn du mich schon Freund nennst, und um meine Hilfe bittest – dann drucks nicht so herum und erzähle mir die ganze Geschichte.“

Tom erstarrte. Das würde er unter keinen Umständen tun. Aber Jake ließ nicht locker: „Womit wirst du erpresst? Was drohen sie dir an?“

Das klingelnde Handy rettete ihn vor einer Antwort. Doch es war nicht seins, sondern das gefundene Telefon. Die Rufnummer wurde unterdrückt. Schlagartig war Tom in Alarmbereitschaft.

Er schnappte sich das Handy und ging eilig durch die Tür in den dunklen Gang vor den Toiletten. Hier war es deutlich ruhiger.

„Hallo?“

„Hallo Toni.“ Die Stimme flüsterte, Tom konnte sie kaum verstehen.

„Ich glaube, Sie verwechseln mich…“

„Lassen wir die Spielchen!“ zischte es am anderen Ende der Leitung. „Wir wissen beide, wer du wirklich bist. Ein anderer Name macht keine andere Person aus dir!“

Jake war Tom in den Gang gefolgt, und sah ihn alarmiert an.

Tom versuchte, sachlich zu bleiben. „Was wollen Sie denn von mir?“

„Offenbare deine wahre Identität, oder ich werde es tun! Schreibe auf allen Social Media Kanälen von Antonio Penetti, wie du jetzt heißt! Du hast 48 Stunden Zeit, oder ich gehe damit zur Presse!“

„Warten Sie, warum…“ aber ein Piepston ließ ihn wissen, dass sein Gesprächspartner bereits aufgelegt hatte.

Tom schloss die Augen und lehnte sich an die kühle Wand. Es war ihm bewusst, dass Jake noch auf eine Erklärung wartete. Aber er fühlte sich gerade nicht imstande, für ihn eine Halbwahrheit zusammenzustricken.

„Ich brauch mal ’nen Moment allein.“ Besorgt nickte Jake und ging zurück in den Schankraum.

Tom drehte noch immer die Zigarette zwischen seinen Fingern. Toni, so hatte ihn diese fremde Stimme genannt. Eine Stimme, die er dank des zischenden Flüstertons nicht zuordnen konnte.

Was die Stimme verlangt hatte, konnte er nicht tun. Seinen Identitätswechsel preiszugeben, das wäre sein Todesurteil. Zu viele Leute waren wütend auf ihn, und diese Leute gaben keinen fiesen Kommentar im Netz ab, wenn sie wütend waren. Nein, sie engagierten eher einen Auftragskiller.

Er überlegte, ob es ihm helfen würde, sich bei den Behörden in den USA zu melden. Sie hatten ihm über das Zeugenschutzprogramm seine neue Identität verschafft, und könnten ihm auch eine zweite neue Identität geben. Dann entkäme er seinem Erpresser vielleicht.

Aber wie hatte dieser Tom Warner überhaupt gefunden? Gab es im Zeugenschutz ein Leck? Außerdem hatte man ihm zu verstehen gegeben, dass er in den USA bleiben solle, andernfalls könne man ihn nicht mehr beschützen, sollte etwas schiefgehen.

Diese Warnung hatte er in den Wind geschossen. Als Kronzeuge auszusagen war eine Sache, aber der Polizei zu vertrauen, eine ganz andere. Er hatte sich freigekauft aus dem alten Leben, das war der Deal. Für diese Cops war er doch nur ein Krimineller, der viel zu glimpflich davongekommen war.

Also war er schon ein paar Wochen nach Abschluss der Gerichtsprozesse nach Großbritannien ausgewandert und hatte hier neu angefangen. Immer unter dem Radar, immer um Unauffälligkeit bemüht.

War der Neustart falsch? Hatte er für seine Schuld nicht genug gebüßt? Zum tausendsten Mal hatte er auf diese Fragen keine Antwort.

Jake machte sich ernsthafte Sorgen. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass hier etwas gehörig faul war. Und es war offensichtlich, dass Tom ihm nicht genug vertraute, um ihn ganz einzuweihen.

Dass sein Freund eher misstrauischer Natur war, wusste er schon lange. Aber wie weit seine Vorsicht ging, fiel Jake erst jetzt auf. Er beschloss, das Spiel mitzuspielen, um Toms Vertrauen zu gewinnen. Darüber hinaus war aber auch seine Neugier geweckt. Tom verbarg etwas, und Jakes Instinkt sagte ihm, dass es nicht um eine Bagatelle ging.

„Tom, da bist du ja wieder!“ Aber sein Freund war kreidebleich. „Ich kann mir denken, wer das war. Und hör zu, ich verstehe, dass du mir nicht mehr über die Sache erzählen willst. Erpressung ist nie schön.“

Sein Gegenüber sah ihn wachsam an. Meine Güte, Tom vertraute ihm tatsächlich keine zwei Zentimeter weit. Ein Wunder, dass er überhaupt um Hilfe gebeten hatte.

„Pass auf, ich bin einverstanden. Ich rufe jemanden an, der die Fingerabdrücke prüft. Wir fahren kurz ins Labor, dort nehmen wir auch deine Abdrücke.“ Dann fiel ihm noch etwas ein. „Und schalte doch eine Anrufweiterleitung, dann entgeht dir kein Anruf des Erpressers.“

Ganz überzeugt war Tom noch nicht: „Prüft ihr denn auch den Inhalt des Handys?“

„Wenn du das nicht willst, muss es nicht sein, wir nehmen einfach nur die Fingerabdrücke.“ beschwichtigte Jake. Offensichtlich war auf dem Handy irgend etwas gespeichert, womit Tom erpressbar war.

„Tom, wir haben doch gar keine PIN. Wenn du keine Analyse der SIM-Karte, der Anrufe oder Ähnliches willst, dann machen wir uns auch nicht die Mühe, die PIN zu knacken.“

Das schien zu wirken. Tom stutzte: „Moment, ihr könnt die Anrufe analysieren? Könntet ihr denn sagen, woher der Anruf gerade eben kam?“ Ein hoffnungsvolles Leuchten trat in seine Augen.

„Na ja, das kommt drauf an… Wir versuchen es, aber mach dir nicht zu große Hoffnungen – manchmal ist das Ergebnis ein ziemlich weites Suchgebiet. Ruf mich kurz von dem Gerät aus an, dann haben wir die Rufnummer. So muss ich mich nicht in das Handy einloggen, um den Anrufer zu lokalisieren. “

Tom wollte wohl nichts unversucht lassen, er tippte Jakes private Handynummer ein und ließ zwei mal klingeln. Anschließend richtete er eine Anrufweiterleitung ein, und überreichte Jake zögerlich das gefundene Mobiltelefon. Dieser zog einen Beutel der Spurensicherung aus der Manteltasche – von denen hatte er immer welche dabei, das hatte sich bewährt. Er ließ das Handy aus Toms Hand in den Beutel fallen.

„Mach dir keine Sorgen, ich bin dein Freund, Tom. Bitte vertrau mir.“

Nach einem tiefen Seufzen setzte Tom sein Bierglas an, um es in einem Zug zu leeren. Jake konnte ihm die Verzweiflung ansehen. Er wollte das hart erarbeitete Vertrauen seines Freundes nicht enttäuschen.

Dieser Kerl hatte nicht verängstigt genug geklungen. Sie hatte sich immer wieder vorgestellt, wie genussvoll es sein würde, die Angst in seiner Stimme zu hören. Aber auch wenn ihre Erwartungen in dieser Hinsicht nicht erfüllt wurden – der verschollene Toni Penetti würde bald aus der Versenkung auftauchen. Und der Tod, den er verdient hatte, würde ihn finden.

Ihr Plan schien jedenfalls aufzugehen. Es war überraschend einfach, in der Umkleide des Fitnessstudios an sein Handy zu gelangen, um es für eine halbe Stunde untersuchen zu können. Dieses Vorgehen beinhaltete zwar ein gewisses Risiko, aber mit dem Handy sandte sie eine wichtige Botschaft: Ich kenne dich! Und jedes deiner Geheimnisse!

Wie gerne hätte sie ihrem Bruder persönlich von ihrem Erfolg erzählt. Aber Mike konnte sie nicht hören. Selbst wenn sie neben seinem Bett gestanden hätte, nichts wäre zu ihm durchgedrungen. Die Ärzte sagten, er sei zu weit weg.

Am meisten traf sie das Leid ihrer Eltern. Sie hatten ihren Sohn an New Yorks Unterwelt verloren. Und nun kratzten sie jeden Cent zusammen, um seine Pflege zu bezahlen und ihn weiter am Leben zu erhalten.

Und wer trug die Schuld? Penetti! Sie hatte seine Akte gesehen. Der Typ war so verkorkst, dass die Teilnahme an illegalen Käfigkämpfen gerade mal eine Randnotiz wert waren. Zu viel anderer Mist. Und dann kam er einfach so davon. Sagte aus gegen seinen Vater, seine Brüder, sein gesamtes Umfeld, und wurde dafür mit einem Neuanfang belohnt. Wie verlogen!

Jedenfalls hatte der Mann viele Feinde. Aber sie war es, die Tom Warner gefunden hatte und zu Fall bringen würde. Sie musste ihn nur enttarnen. Abdrücken würde dann ein anderer.

Es hatte nicht lange gedauert. Jake musste sensationelle Kontakte haben, denn schon am Sonntagnachmittag rief er bei Tom an, um ihm von seinen Ergebnissen zu erzählen.

Zu Toms großer Erleichterung schien sein Erpresser kein Profi zu sein. Jakes Kollege hatte fremde Fingerabdrücke entdeckt, und der Anruf hatte ebenfalls lokalisiert werden können.

Der Kommissar hatte jedoch keine Zeit für weitere Ausführungen: „Du, ich muss aufhören, gerade kommt meine Freundin nach Hause. Komm doch zu uns zum Essen heute Abend! Dann kannst du auch Anna kennenlernen.“

In Jakes Stimme schwang ein breites Lächeln mit. Tom freute sich für ihn, er war offensichtlich sehr glücklich mit seiner Freundin. Und auch, wenn er es kaum abwarten konnte, mehr über seinen Erpresser zu erfahren, wollte er nicht drängeln. Nachdem sie noch kurz die Uhrzeit bestätigt hatten, legte sein Freund eilig auf. Er hatte jetzt wohl andere Dinge im Kopf…

Pünktlich um sieben Uhr stand Tom vor Jakes Einfamilienhaus. Der Polizist wohnte in einer schicken Wohngegend. Das moderne Architektenhaus war eigentlich zu groß für eine alleinstehende Person, aber dank der wohlhabenden Herkunft konnte Jake es sich leisten.

Tom war bereits hier gewesen, darum öffnete er zielsicher das Tor im mannshohen Gitterzaun, und steuerte auf die Eingangstür zu. Sein Freund hatte ihn schon erwartet, und begrüßte ihn mit einem Handschlag.

„Guten Abend, Tom! Schön, dass du da bist…“ Sie betraten gemeinsam das geräumige Wohnzimmer mit offener Küche. „Das ist übrigens Anna.“

Eine hübsche junge Frau mit langem, kastanienbraunem Haar schlängelte sich um die Kochinsel herum und kam auf Tom zu. Sie lächelte, doch als ihr Blick auf den Besucher fiel, gefror das Lächeln, und ihr Schritt stockte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie sich wieder gefangen hatte, und so meinte Tom, sich vielleicht getäuscht zu haben. Denn schon kam Anna mit strahlendem Lächeln auf ihn zu.

„Herzlich Willkommen! Du musst der unglaublich charmante Fitnesstrainer sein, den Jake so oft erwähnt hat…“ Ein Zwinkern mit Seitenblick auf ihren Freund offenbarte den neckischen Sarkasmus.

„Um ehrlich zu sein, hat er mir erst heute von dir erzählt“ gab sie zu, als sie Tom die Hand reichte. „Bisher habe ich geglaubt, Jake hätte überhaupt keine Freunde außerhalb der Polizeibehörde…“

Anna war Tom jetzt schon sympatisch. Er stellte sich mit knappen Worten vor, und hakte dann nach, um zu erfahren, wie die beiden sich kennengelernt hatten.

Während Jake eine große Auflaufform auf den Tisch stellte – vom Duft der Lasagne lief Tom bereits das Wasser im Mund zusammen – deckte Anna den Tisch. Das Abendessen verlief entspannt, und das frisch verliebte Pärchen ließ es sich nicht nehmen, ihre Geschichte in allen Einzelheiten zu erzählen. Tom wunderte sich, dass zwei gemeinsame Monate bereits so viel Erzählstoff hergaben, aber sein Freund sah glücklich aus, und so ließ er ihm das Vergnügen.

Lieber Gott, der Typ hatte sie kalt erwischt. Spazierte er doch einfach so in das Haus ihres Freundes, und aß mit ihnen zu Abend! Hätte sie das vorher geahnt, hätte sie die Lasagne vergiftet…

Es hatte Anna enorme Willenskraft gekostet, freundlich zu bleiben. Der Seitenhieb auf Jake hatte sein müssen, schließlich hatte er sie nicht vorgewarnt, wer der spontane Besucher war.

Nun durfte sie sich nichts anmerken lassen. Wie sie ihren Freund kannte, hatte dieser hervorragende Instinkte und konnte meilenweit gegen den Wind riechen, wenn etwas nicht stimmte. Sie musste sich zusammenreißen.

Also blendete sie alles aus, was in ihrem Kopf herumschwirrte, und richtete ihre Konzentration nur auf Jake. Sie hatte nicht geplant, sich während ihres Aufenthaltes in London zu verlieben, aber es war so gekommen. Und es war ihr ernst mit ihm.

Aber warum um Himmels Willen mussten diese beiden so verschiedenen Männer sich bloß kennen? Warum musste sie nun mit Tom an einem Tisch essen? Es fiel ihr zunehmend schwer, das Monster in ihm zu erkennen, das ihren Bruder ins Koma geprügelt hatte. Machte sie vielleicht einen Fehler?

„Komm mit ins Büro, Tom, dann erzähle ich dir von meinen Ergebnissen.“

Endlich! Das ließ sich Tom nicht zweimal sagen, er sprang auf und folgte Jake in den angrenzenden Raum. Modern eingerichtet, war das Büro tagsüber sicher sehr hell, dank der bodentiefen Fenster. Jake zog für seinen Freund einen Stuhl vor den Computer und setzte sich selbst in den schwarzen Ledersessel.

Anna steckte neugierig den Kopf zur Tür herein. „Wollt ihr zwei noch einen Nachtisch?“

„Nein danke, Darling, für mich nicht…“ Tom schüttelte ebenfalls den Kopf. „…aber würdest du uns vielleicht noch zwei Espresso bringen?“ Jake warf seiner Freundin, die die Tür offen stehen ließ, zum Dank noch einen Kuss hinterher.

„Also – ich will dich nicht länger auf die Folter spannen. Wir konnten noch weitere Fingerabdrücke auf dem Handy feststellen, die von deinen abweichen.“

Tom unterbrach ihn ungeduldig. „Und nun? Passen sie zu irgend jemandem aus eurer Datenbank?“

„Leider nein, diese Abdrücke sind uns völlig unbekannt.“

Enttäuscht lehnte sich Tom auf dem Stuhl zurück. So kam er nicht weiter. Aus der Küche klang das Brummen der Espresso-Maschine.

„Was ist mit der Lokalisierung des Anrufers?“

Jake öffnete eine E-Mail. „Ja, da haben wir einen Standort ermittelt, ich habe es mir selbst noch gar nicht genau angesehen. Die beiden Funkmasten ergeben einen Bereich ungefähr hier…“

„Das ist ja mitten im Nirgendwo!“ Tom war verwirrt. Der Bildschirm zeigte ein gelb markiertes Feld nahe der Küste, das menschenleer erschien. Eine einzelne Landstraße führte durch das gelbe Feld hindurch.

Sein Freund wurde eine Spur bleicher. „Ich kenne die Gegend. Es gibt dort weit und breit nichts, außer ein einziges Haus – und das bewohnt Annas Tante…“

In der Küche war es still geworden.

Ungläubig äußerte Tom einen Gedanken: „Anna kommt aus den Staaten, hast du gesagt – aus New York?“ Jake nickte zögerlich. Vorsichtig hakte Tom nach: „Wie ist denn ihr Nachname?“

„Harris.“ Die Antwort war nicht von Jake gekommen. Langsam drehte Tom sich zur Tür um und blickte geradeaus in die Mündung von Jakes Dienstwaffe, die Anna ihm direkt ins Gesicht hielt. Ihre Stimme war leise, aber fest.

„Harris – genau wie Mike Harris. Mein Bruder.“

Die Erkenntnis ließ Tom in sich zusammensinken.

„So war es nicht geplant. Ihr habt ja sehr schnell die richtigen Schlüsse gezogen. Aber ich wusste auch nicht, dass du die Hilfe eines so hervorragenden Polizeibeamten haben würdest.“ Ihr Blick streifte bedauernd über Jake.

Dieser fand seine Sprache wieder. „Anna, bitte nimm die Waffe runter. Das führt doch zu nichts…“ redete er beruhigend auf sie ein, während er sich um den Schreibtisch herum langsam auf seine Freundin zu bewegte.

„Bleib stehen, Jake! Du verstehst das nicht. Ich wollte das doch gar nicht selber machen. Er musste doch nur sein wahres Gesicht zeigen, dann hätte ihn jemand anderes für mich erledigt.“

Jake drehte sich zu seinem Gast um. „Tom, ich glaube, jetzt solltest du mir endlich erklären, was hier los ist.“

Annas Hände am Revolver zitterten nicht, während sie ruhig Toms Geständnis zuhörte. Es brachte ihr eine gewisse Genugtuung, dass sie diesen Moment miterleben durfte. Wie Toms Masken abfielen, und das vor seinem Freund, der wie niemand sonst für Recht und Gerechtigkeit stand.

Sie hörte zu, wie er von seiner Jugend erzählte, als jüngster Sohn eines Mafiapaten, der sich nach nichts mehr sehnte, als nach einem normalen Leben. Ohne Ausflüchte und Rechtfertigungen gestand er seine schrecklichen Taten, und berichtete von dem Zorn auf seinen tyrannischen Vater, der ein Ventil in den illegalen Käfigkämpfen gefunden hatte.

Tom gestand auch, dass es neben Mike Harris noch zwei weitere Gegner gegeben hatte, die durch seine Aggressivität im Ring bleibende Schäden davongetragen hatten. Anna war das nicht neu, sie hatte auf einschlägigen Internetseiten über Toni Penetti recherchiert und war dabei auf die Fotos gestoßen.

Nun musste auch Jake einsehen, dass sie im Recht war! Dass Toni sterben musste. Doch nachdem Tom mit seiner schockierenden Geschichte geendet hatte, richtete ihr Freund das Wort an sie.

„Anna, Darling, ich verstehe, dass du Rache nehmen willst. Glaube mir, Rache als Motiv sehe ich in meinem Job nur allzu oft. Trotzdem wirst du selbst zur Täterin, wenn du jetzt abdrückst. Willst du dieses Opfer tatsächlich bringen?“

Es war vorhin nicht genug Zeit geblieben, darüber nachzudenken. Die Pistole zu schnappen und damit ins Büro zu laufen war eine Kurzschlussreaktion. Nun kam ihr Entschluss ins Wanken. Jake schien das zu bemerken, und redete weiter.

„Du wärst dann nicht besser als er. Dein Bruder wacht davon nicht wieder auf, und deine Eltern verlieren auch noch ihre Tochter.“

Tom fuhr dazwischen: „Aber vielleicht habe ich es ja verdient! Anna weiß, wer ich wirklich bin – und du jetzt auch. Wie kannst du mich noch verteidigen?“

Ungläubig starrte Jake seinen Freund an. „Fühlst du dich denn so schuldig, dass du glaubst, du hättest das verdient?“ Er schüttelte den Kopf. „Wer bist du denn wirklich? Bist du deine Vergangenheit, oder deine Gegenwart? Bist du eher das Monster, das du gezwungen wurdest zu sein? Oder der Mann, der du freiwillig geworden bist?“

Langsam ließ Anna die Waffe sinken.

„Das ist keine Entschuldigung!“ protestierte sie dennoch. „Das ist kein Grund, ihm einfach zu vergeben.“ Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Nein, das kann sein. Ob er diese Chance verdient hat oder nicht, kann ich dir nicht sagen. Aber du hast etwas besseres verdient, als deine ganze Zukunft der Rache zu opfern.“

Jetzt fingen ihre Hände doch an zu zittern, als Jake ihr langsam die Pistole aus der Hand nahm und sie in seine Arme zog.

„Ich hasse ihn so sehr!“ weinte sie an seiner Schulter. „Er hat meine Familie zerstört.“ Er strich ihr sanft über den Rücken und hielt sie lange tröstend im Arm. Als sie sich schließlich von ihm löste, war Tom verschwunden.

Noch eine Chance. Noch einmal die Gelegenheit, darüber nachzudenken, wer er wirklich war. Und ob er jemals den Käfig aus Schuld und Wut verlassen würde, den er im Inneren mit sich trug. Im Stillen dankte er Jake für seine Freundschaft. Und öffnete den Browser seines Handys, um den nächsten Flug nach New York zu buchen.

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