Tatjana86Der Köder

Dort, wo wenig Selbstliebe ist, ist Platz für das Gegenteil – den Hass.

So betörend sein äußeres Erscheinungsbild wirken mochte, so abscheulich war sein Innerstes. Er fühlte nichts als Verachtung für jegliche Lebewesen; kannte kein Mitgefühl und erst recht kein Mitleid.

In der rund 5000 Seelen Gemeinde Kranspe, seinem Geburts- und Heimatort, brach der Frühling an. Er hasste dieses Kaff, in dem es nach Einöde stank und rein gar nichts passierte. Diese Jahreszeit des wieder erwachenden Lebens wurde vom Großteil der Menschen lange herbei gesehnt. Die Wärme, Farben, Frühlingsgefühle, Glückshormone… Ihm wurde allein beim Gedanken daran schlecht. Seinen Rausch würde er sich auf eine ganz andere Art holen.

Für die meisten war der Lenz gleichzusetzen mit einer echten Auferstehung, einem Stück Unsterblichkeit. Für ihn setzte er den Startschuss, Leben auszulöschen. Wahllos und potentiell tödlich, im Stil des Russischen Roulettes. Für den ultimativen Kick. Sein Fitnessfood-Start-up war von Erfolg gekrönt. Er war ein Macher und gehörte zur dominierenden Spezies. Sein Erfolg machte ihn hungrig. Hungrig nach Macht. Ein Kribbeln durchströmte seinen Körper und er konnte es kaum erwarten, in Kürze wieder Gott zu spielen. Macht über andere Lebewesen ergreifen zu können, erfüllte sein sonst so steinernes Herz mit einem seichten Gefühl von Glückseligkeit.

Den ganzen grauen Winter über hatte er sich auf die kommende Zeit vorbereitet. So ergänzte er in seiner finsteren Betongarage, dem anfänglichen Produktenwicklungslabor, seinen neuesten Verkaufshit um eine alles entscheidende Zutat: das Gift Rodentizid. Er befüllte seine Bauchtasche mit einigen der angereicherten „Powerballs“ und band sie sich um seine stählernen Lenden. Es konnte losgehen. Seine Laufrunde begann er stets im Morgengrauen, denn zu der Zeit legte sich die nächtliche Kühle noch um die Beine und es beseelte ihn, als schemenhafte Gestalt unterwegs zu sein. Zudem hatte er das an die Gemeinde angrenzende Waldstück fast für sich; Ausnahmen bestätigten die Regel. Entscheidend war, dass er auf die Objekte seiner Mordbegier traf.

Er nahm einen tiefen und entschlossenen Atemzug der klaren Luft, stellte den Fitnesstracker seiner Smartwatch auf den Laufmodus und aktivierte die Blutdruckmessung. Während er seine Gedanken schweifen ließ, passierte er den Teil des Waldes, an dem ein alleinstehendes Haus an einer Lichtung allmählich wieder auf Zivilisation deuten ließ. Gute zehn Kilometer hatte er sich bis zu diesem Standpunkt bereits fortbewegt. Er blieb stehen um sich zu dehnen, wobei er sein makelloses Gesicht mit etwas Wasser aus seiner tragbaren mini- Pumpsprühflasche bespritzte und anschließend wieder sachte auf der Stelle joggte.

Plötzlich fiel sein Blick auf einen nur wenige Meter entfernten gleißenden Gegenstand. Von Neugierde gepackt, bewegte er sich in dessen Richtung und erkannte aus diesem Winkel schnell, dass es sich um ein Smartphone handelte. Er hob es auf und betrachtete es gründlich von allen Seiten, um dessen Zustand zu prüfen. Plötzlich entsperrte es sich auf Höhe seines Gesichtsfeldes. Verwundert darüber, dass das Display nichts weiter auswies als die App einer Fotogalerie, tippte er diese nach kurzem Zögern an. Als die Galerie genau zwei Bilder preisgab, traute er zunächst seinen Augen nicht, denn was er nach mehrmaligem Blinzeln und Vergewissern sah, raubte ihm für einen kurzen Augenblick seinen sonst so langen Atem.

Die moderne Technik konnte Fluch und Segen zugleich sein. Für Orpheus war sie definitiv Letzteres. Er hatte sich erfolgreich in die Smartwatch der Zielperson gehackt und war dieser dank des Bewegungsprofils dicht auf den Fersen. Als Spaziergänger getarnt und mit seinem Rüden Rambo an der Leine, legte er sich an der Weggabelung zwischen Forstweg und der Birkenheide auf die Lauer. In wenigen Minuten würde die Zielperson diese Stelle passieren und Orpheus könnte seinen akribisch ausgefeilten Plan endlich in die Tat umsetzen. Doch bis es soweit war, bedurfte es nicht nur einer umfassenden Observation der Zielperson, sondern auch ein wenig Heimtücke, um diese kleine Drecksratte im richtigen Augenblick auf frischer Tat zu ertappen und dabei aus dem bestmöglichen Winkel abzulichten. An seinen Gedankengang anknüpfend tauchte die Zielperson in etwa 300 Metern Entfernung auf. Jetzt hieß es Sinne schärfen, höchste Konzentration und bloß keinen noch so geringen Fehler machen. Orpheus näherte sich dem Jogger, indem er gekonnt einen kleinen Stock in dessen Richtung warf, Rambo von der Leine ließ und diesem unverzüglich hinterher lief. „Rambo! Bei Fuß!“, befahl er in strenger Herrchen-Manier.

Die Zielperson reagierte wie erwartet: „Nimm deinen Scheißköter gefälligst an die Leine, bevor ich mich vergesse!“, wetterte sie. „Entschuldigen Sie vielmals, ich war kurz unaufmerksam, da ist er mir ausgebüxt. Aber kein Grund zur Aufregung, Rambo beißt nicht.“, entgegnete Orpheus kleinlaut und befestigte das Halsband seines Hundes wieder an der Leine. Der Jogger ging nicht auf den Beschwichtigungsversuch ein, sondern lief, diverse Schimpfwörter geifernd, weiter seines Weges. Orpheus war guter Dinge, dass seine Aktion als ausgezeichneter Trigger diente und eine weitere Schandtat der Zielperson nicht mehr lange auf sich warten ließ. In fortwährendem Abstand von etwa 50 Metern fuhr er mit der Beschattung des Joggers fort. Zwei Kilometer nach dem arrangierten Aufeinandertreffen beobachtete Orpheus, wie ein Pärchen mit dessen Dogge in der Nähe des Mannes spazierte. Prompt zückte er hoffnungsvoll das Smartphone, doch nichts geschah. Weitere eineinhalb Kilometer und einige Passanten später vernahm er geistesgegenwärtig, wie die Zielperson in ihre Bauchtasche griff und mehrere rundliche Gegenstände mit dem Durchmesser einer 2-Euro-Münze fallen ließ. Orpheus schoss, so schnell er konnte, zwei Bilder mit dem Smartphone und beobachtete, wie der Mann, scheinbar nervös erregt, eine Zeit lang auf der Stelle joggte.

„Na bitte“, flüsterte Orpheus, „Hänsel hinterlässt Spuren im Wald. Nur, dass diese Mär keinen glücklichen Ausgang für ihn nehmen wird.“ Er kannte den Wald wie seine Westentasche und nahm eine Abkürzung, um zweifelsfrei vor dem Dreckskerl an dem Ziel dessen alltäglicher Laufrunde anzukommen. Dort platzierte er das mit den Beweisbildern bestückte Smartphone gegenüber einer weitläufigen Auffahrt. Natürlich hatte er die Bilder längst in seine Cloud geladen, denn er wollte nichts dem Zufall überlassen. Dem Teleobjektiv seiner Spiegelreflexkamera hatte er zu verdanken, dass er zuvor gestochen scharfe Nahaufnahmen vom Gesicht der Zielperson schießen konnte, die auf eine DinA4 Seite ausgedruckt bereits zur Einrichtung des Smartphones gedient hatten. Dadurch würde sich dieses problemlos von der reellen Zielperson durch den Scan ihrer biometrischen Daten entsperren lassen. Orpheus war sehr zufrieden mit seiner ersten Mission und trat mit Rambo den Heimweg an. In Kürze würde er dem Scheißkerl ein weiteres Warnsignal senden.

Das war unmöglich! Die Bilder zeigten ihn in seinem tagesaktuellen Outfit. Das Aufnahmedatum unter den Einstellungen bestätigte dies.Er hatte sich sein kleines Ritual geschaffen, und das durfte niemand kennen. Er war doch immer so besonnen und gab dem Drang nur in größeren zeitlichen Abständen nach. Ihm war bewusst, dass er niemals übermütig werden durfte. Heute hatte er es wieder getan. Aber was zeigten diese Bilder schon? Es konnte schließlich viele Gründe für seine Geste auf den Fotos geben. Natürlich! In seiner Bauchtasche führte er Kraftfutter mit sich, das für die Tiere des Waldes bestimmt war. Schlicht und ergreifend eine gute Samaritertat.

Seine Gedanken überschlugen sich, als er einen Schatten im Fenster des Hauses wahrzunehmen glaubte. Und tatsächlich: Eine Frau höheren Alters stierte interessiert nach draußen und winkte ihm zu, als sich ihre Blicke trafen. „Nichts wie weg hier.“, dachte er sich. Auf einen Klönschnack mit einer alten Schachtel hatte er gerade weiß Gott keinen Nerv. Alte Leute haben ja kaum mehr zu tun als andere zu beobachten oder sie in Gespräche zu verwickeln. In dieser Gegend musste es besonders verheerend sein. In ein unaufhaltsames Gedankenkarussell verwickelt, öffnete er den SIM-Kartenslot, entfernte die SIM-Karte aus dem Smartphone, steckte sie in seine Hosentasche und schmiss das Gerät zu Boden. Dann trat er mehrmals derart heftig darauf ein, dass das Displayglas und der Rahmen zerbarsten. „So, kannst dir dein Telefon wieder abholen, Penner. Das war’s dann wohl mit den nichtssagenden Paparazzifotos.“, zischte er. Daraufhin machte er sich in gesteigertem Lauftempo auf den Heimweg und war bereit für die Dusche; bereit dafür, diesen Unfug zu vergessen.

Einige Tage zogen ins Land. In der Zwischenzeit waren weder arbeitslose Nichtsnutze noch Lohnschreiber von der Lokalpresse bei ihm aufgetaucht, welche die Zeit oder die Sensationslust gehabt hätten, ihre Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken. Falls diese beschissenen Bilder von ihm in Kranspe kursierten, wusste wohl kaum jemand etwas damit anzufangen. Bei seinen frühmorgendlichen Sportprogrammen nahm alles wieder seinen gewohnten Lauf und er konnte nichts Ungewöhnliches ausmachen, sodass er sich erneut in Sicherheit wiegte. Am sechsten Tag nach seinem Handyfund sollte sich dies ändern. Er war im Begriff, sein Haus erneut für eine ausgiebige Laufrunde zu verlassen, als ihn etwas vor seiner Tür erwartete, das seinen Adrenalinspiegel rasant ansteigen ließ: An seiner und vielen weiteren Haustüren der Nachbarschaft klebten Suchmeldungen vermisster Haustiere. Köter neben Köter; einer hässlicher als der andere.

„Was zum Henker?-“, zischte er mit einer aufsteigenden Zornesröte im Gesicht, riss das Suchplakat von seiner Tür, zerknüllte es mit voller Kraft und warf es zu Boden. Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Zeit, zurück an den Ort zu kehren, an dem er das Smartphone gefunden hatte. Er lief die 10 Kilometer in eigener Bestzeit, obwohl ein pochender Kopfschmerz ihn begleitete, der ihn gnadenlos jeden dumpfen Schlag seiner Arterien spüren ließ. Bei seiner Ankunft unweit des alleinstehenden Hauses trieb ihm seine nächste unfreiwillige Entdeckung augenblicklich kalten Schweiß auf die Stirn. Auch die umliegenden Bäume des Waldes waren mit Suchplakaten von Kötern beklebt, doch damit nicht genug: Unmittelbar danebenbefanden sich lauter Abzüge der Fotos, die sein Konterfei zeigten. Sein Herz raste und das Blutdruckmessgerät seiner Smartwatch stieß schrille, warnende Pieptöne aus. Wer versuchte ihn auf diese Art einzuschüchtern? Da war doch vor ein paar Tagen dieser schmierige Typ mit seinem Drecksköter… Aber was hätte der schon für ein Motiv? Mit seinem Erfolg stieg auch die Zahl seiner Neider; vielleicht war es einer seiner Angestellten? Nur welche dieser jämmerlichen Marionetten hatte die Eier dazu, ihm aufzulauern und hinterher zu spionieren? Den meisten fehlte doch das Rückgrat dazu, solch eine Nummer abzuziehen. Er musste unverzüglich etwas unternehmen.

Da war sie wieder, die alte Gaffer-Vettel vom Fenster. Diesmal stand sie neben ihrer Mülltonne und beäugte ihn, wie er von Baum zu Baum hastete und an jedem davon herum fuchtelte. Langsam, aber sicher bewegte sie sich auf ihn zu. „Junger Mann, warum reißen Sie die Zettel von den Bäumen? Bestimmt hat jemand sein Tier verloren und sucht es jetzt!“ Irritiert blickte er die Frau an. Was wollte die Alte von ihm? Es ging sie nichts an, was er im öffentlichen Raum tat. Sollte die sich gefälligst um ihren eigenen Scheiß kümmern. Niemand sollte die Fotos von ihm sehen. Sein perfektes Leben durfte keinen Schandfleck bekommen. „Warum tun Sie das?“, fragte die Alte erneut. Er versuchte sich etwas zu berappeln. „Das waren meine Bilder!“, fauchte er. Er zerriss die Zettel in immer kleiner werdende Stücke. Innerlich und äußerlich aufgewühlt stand er vor der alten Frau, die ihn besorgt anguckte. „Jungchen, geht es Ihnen gut? Sie sehen nicht gut aus. Immer, wenn es meinem Herrn Karlsson nicht gut ging, gab ich ihm erst einmal etwas zu trinken, das hilft immer! War so und ist auch heute noch so.“ Die Alte erinnerte ihn an seine Großmutter mit der piepsigen Stimme, dem gekrümmten Rücken, dem weißen Dutt auf dem Kopf und einer widerwärtigen Gutmensch-Manier, die ihn schon fast würgen ließ. „Bes-tens!“, sagte er abgehackt und zerriss weiter die Beweise gegen ihn. „Ich hätte das längst abnehmen müssen!“, ergänzte er. Die alte Frau lachte süßlich: „Na dann passt es ja gut, dass ich hier die Mülltonne habe!“, und öffnete den Deckel ihrer Papiermülltonne. „Na los, die Tonne hat Hunger! Werfen sie es schon in den Abfall rein!“ Seine Abneigung alten Leuten gegenüber wuchs ins Unermessliche, andererseits hatte er aus dem Papier beinahe Konfetti gerissen, das niemand mehr zusammen puzzeln könnte. So warf er die Papierfetzen in das dunkle Loch der Mülltonne und fügte zügig hinzu: „Ich muss los!“ Er wollte nur weg, raus aus dieser ganzen Situation. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen.

Plötzlich ächzte die alte Frau laut vor Schmerzen. Er drehte sich um und blickte auf die Verletzung an ihrer rechten Hand. „Jungchen, warten Sie mal! Können Sie mir vielleicht schnell zur Hand gehen? Unter diesen Schmerzen kriege ich die Tonne nie zurück ans Haus.“ Sie versuchte die Tonne zu bewegen und stöhnte abermals vor Schmerz auf. Innerlich brodelte er wie ein Vulkan. Doch damit die Alte endlich Ruhe gab, griff er die Mülltonne und zerrte sie verdrossen auf dem langen Schotterweg zum Haus, wobei sie über den Kies schlingerte und einige Male fast versackte. Die alte Schabracke hätte es nie alleine geschafft. Doch die Energie zum Reden ging ihr nicht aus. Sie quasselte ohne Punkt und Komma. „Früher lebten meine Eltern schon hier. Mein Vater war der Schlachter von Kranspe. Wir hatten das beste Fleisch. Noch heute halte ich Schweine und Hühner, aber ich schlachte sie nicht, ich bin ja schon mein halbes Leben Vegetarier.“

Er versuchte weiter zu überlegen, wer ihn ins Visier genommen haben könnte, konnte aber bei dem Geplärre der Alten keinen klaren Gedanken fassen. „Ich war einer der ersten Vegetarier, damals, als das noch nicht so eine große Sache war wie heute. Ein kleiner Skandal für einen Metzger, dessen Tochter alles von ihm gelernt hatte. Vielleicht war es der Grund, weswegen es mir nicht mehr schmeckte, wenn man das Leben in den Augen des Tieres erlöschen sieht und man nicht mehr ignorieren kann, dass selbst die Kuh Gefühle hat.“ Insgeheim dachte er an das Steak, das er am Abend zuvor gegessen hatte. Blutig. So blutig, dass der Alten beim Anblick ganz sicher schlecht geworden wäre. Ihm machte es nicht aus. Er war ein Mensch, ganz oben auf der Nahrungsleiter und wenn die Kuh fällig war, so war sie fällig. Hauptsache sie schmeckte gut, alles andere interessierte ihn nicht im Geringsten. An der Eingangstür des alten Hofs angekommen, setzte die Alte ihr Geschwafel fort: „Und hier lebte ich bis vor einem Jahr mit meinem Herrn Karlsson. Bis er plötzlich verstarb. Seitdem bin ich allein und versorge meine Hühner und Schweine. Da ist immer etwas zu tun, da könnt‘ ich eine helfende Hand wie die Ihre immer gut gebrauchen, Jungchen!“ „Was?“ Die Alte wollte ihn doch verarschen. Dachte sie etwa, dass er ihr jetzt noch eben das Haus reparierte?! „Ich muss jetzt wirklich weiter!“ Er hatte besseres zu tun, als Heinzelmännchen bei einer alten Schrulle zu spielen.

Die Frau griff seinen Arm und hielt ihn fest. „Aber auf einen Kaffee oder Tee und ein Stück Kuchen kommen Sie doch noch mit rein. Als Dankeschön, ich muss mich doch für Ihre Hilfe revanchieren, Jungchen, und der Kuchen ist ganz frisch!“ Er versuchte erneut abzuwiegeln. „Schokolade!“, quietschte sie. „Jungchen, da können Sie nicht nein sagen. Das hilft auch ihren Nerven! Ihr jungen Leute habt immer so viel im Kopf. Tun Sie einer alten Frau doch einen kleinen Gefallen, ich habe so selten Gäste. In meinem Alter besuche ich die meisten meiner Freunde auf dem Friedhof und die sind nicht besonders redselig, sag‘ ich Ihnen!“ Sie lachte spöttisch und winkte ihm ihr zu folgen. Die Holzdielen knarrten, als er einen Schritt in das Haus machte. Es roch nach Mottenkugeln. Kitschige Figuren in ihren Regalen waren mit einem leichten Staubfilm überzogen. Es ekelte ihn, wie Menschen ihr Leben so entgleisen lassen konnten. Wieso bloß hatte er klein beigegeben? Den muffigen Kuchen irgendeiner Oma zu essen, war nicht seine Absicht gewesen.

In der Küche angekommen, lief die alte Frau über eine Plane auf dem Boden. Es knisterte, als sie darüber huschte. Sie rückte einen Stuhl am Esstisch zurecht. „Hier Jungchen, nimm Platz!“, ertönte ihre süßliche Stimme. „Wundern Sie sich nicht, dass es hier aussieht wie im Schweinestall. Mein Enkel will hier streichen und hat mir die knisternde Plane quer über den Boden gelegt. Bestimmt falle ich und breche mir die Hüfte oder den Oberschenkelhals, ehe er auch nur einen Pinselstrich gemacht hat!“ Sie kicherte beschwingt, sortierte ihr Blumenservice aus dem Schrank und deckte den Esstisch damit ein. „Jungchen, trinken Sie lieber Kaffee oder Tee?“ „Kaffee. Schwarz.“, entgegnete er schroff. Sie lächelte ihn an. „Exzellente Wahl! Nun greifen Sie zu, der Kaffee braucht noch ein wenig, aber der Kuchen wird Ihnen auch ohne schmecken!“ Sie stellte einen Teller vollgefüllt mit kleinen Schokokuchen vor ihn und animierte ihn zu essen. „Los Jungchen, lassen Sie es sich schmecken!“ Er griff ein Stück des Kuchens und biss hinein. Knackige Splitter und eine herbe Note der Schokolade machten den Kuchen zu einem wahren Geschmackserlebnis. Immerhin verstand die Alte was vom Backen. Er griff erneut zu. Ein, zwei Stücke von dem Kuchen würden sich auf seinem Astralkörper schon nicht bemerkbar machen. „Es freut mich, dass es Ihnen schmeckt. Essen Sie, sie haben ja nichts auf den Rippen!“ Sie stand auf und nahm die Kaffeetassen mit. „Der Kaffee ist fertig! Einen Augenblick!“ Während die alte Frau ihm das schwarze Gold einschenkte, nahm er sich ein weiteres Stück Kuchen. „Seit mein Herr Karlsson nicht mehr unter uns weilt, bin ich oft alleine. Wenn mir langweilig ist, geh‘ ich zu meinen Ärzten, die sind immer freundlich und manchmal geben die mir lustiges Zeug mit.“ Sie holte die Kaffeekanne und goss ihm nach. „Hier Jungchen, trinken Sie ordentlich. Wir wollen doch nicht, dass der Kuchen Ihnen im Halse stecken bleibt. So einen Abgang hätten Sie nicht verdient.“

Husten. Ein Kuchenkrümel steckte in seiner Luftröhre. Hatte er sich verhört? Die senile Alte wurde ganz komisch; hat wohl zu viel Zeit auf dem Friedhof verbracht?! Abgang war das Stichwort, es war nun endgültig an der Zeit, das Weite zu suchen. Ihm wurde etwas flau, seine Konzentrationsfähigkeit nahm ab und ein bleiernes Gefühl überkam ihn. Er nahm den letzten Schluck Kaffee zum Wachwerden und stand auf. „Danke, Frau Karlsson, aber ich muss jetzt -!“ Sein Körper begann zu wanken, als er sich erhob. Etwas stimmte nicht, er musste sich mit beiden Händen auf dem Holztisch abstützen. Seit wann hatte er denn Kreislaufprobleme? Er befand sich doch in der körperlich besten Verfassung seines Lebens und könnte steinalt werden, allein durch seine Willenskraft. „Huch, Jungchen, setz dich lieber! Wir wollen doch nicht, dass du umkippst! Trink ruhig noch etwas, vielleicht bist du dehydriert. Ich war nicht nur Schlachtertochter, musst du wissen, ich war auch Krankenschwester, ich kenn‘ mich aus!“

Sie goss ihm Kaffee nach. „Mir ist schwindelig, ich sollte mich jetzt wirklich auf den Heimweg ma-“ Sein Kopf schlug mit einem dumpfen Klatschen auf dem Holztisch auf. Der Kuchenteller mit den restlichen Krümeln fiel zu Boden und zerbrach. Ein Gefühl, als hätte er zwei Nächte nicht geschlafen, als wäre sein Kopf schwer wie eine Bowlingkugel, ummantelte ihn. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne. „Nun Jungchen, das hat aber auch gedauert. Ich habe abends bis maximal 6 Tropfen Diazepam zur Beruhigung genommen und war ruckzuck eingeschlafen. Dich musste ich fast die halbe Kaffeekanne trinken lassen, bis du endlich zu Boden gehst.“ Sie sprach noch immer mit ihrer lieblichen Stimme, beugte sich zu ihm herunter und säuselte in sein Ohr: „Endlich wirken die Tropfen. Wollen wir mal hoffen, dass es keine tödliche Dosis war, denn ich habe noch etwas anderes mit dir vor.“ Sie griff in sein Haar, hob den Kopf an und ließ ihn zurück auf den Tisch knallen. Er war bewusstlos. Sie schubste seinen erschlafften Körper auf die Plane am Boden.

Allmählich kam er wieder zu sich. Sein Schädel brummte. Er konnte seine Arme nicht bewegen, die über seinem Kopf an einem Rohr befestigt waren. „Was zum-?“ Er zog fest an den Handschellen. Warum war er festgebunden? Wo war er? Sein ganzer Körper brannte vor Schmerzen. „Ah sehr gut, endlich bist du wach, Jungchen!“ Die alte Frau klatschte, wie nach getaner Arbeit, in die Hände. „Über zwei Tage warst du weg gedämmert. Dann kann es ja jetzt richtig losgehen!“ „Sind Sie irre? Was wird das? Lassen Sie mich gehen!“

Erneut rüttelte er an seinen Handschellen. Sie lachte nur, gellend wie eine Hyäne. „Jungchen, deinen Optimismus möchte ich mal haben. Wie willst du auch bloß einen Schritt machen?“ Sie gluckste und zeigte auf sein Körperende. „Ohne Füße läuft es sich schwer!“ Er blickte nach unten und glaubte den Verstand zu verlieren. Sein Aufschrei ließ beinahe sein Trommelfell platzen. „Meine Füße!“, schrie er. „Sie wahnsinnige Fotze, ich werde Sie töten, ich töte Sie!“, brüllte er unentwegt und so laut er konnte. Er hörte, wie das Blut in seinen Ohren rauschte. Jede Ader in seinem Kopf stand kurz vorm Platzen. Die alte Frau lächelte nur schwach und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Es fühlte sich an, als hätte er hier schon stundenlang um Hilfe geschrien, doch seine Schreie verhallten ungehört. Der Hof dieser verrückten Alten lag zu abgelegen. Wenn er Glück hatte, würde er die Aufmerksamkeit eines Passanten oder Postboten erlangen können. Er musste, was von seiner Stimme übrig war, schonen.

Sein Magen brannte. Immer wieder musste er sich übergeben, bis er Blut spuckte. Wieder und wieder blickte er zu seinem Körperende hinunter. Es war kein Albtraum, aus dem er erwachen konnte. Sein Zustand verschlechterte sich von Minute zu Minute. Er merkte, wie ihm Blut aus der Nase floss. Auch in seinem Mund machte sich ein metallischer Geschmack breit, ihn umgab ein Gefühl von Ertrinken in seinem eigenen Blut. Erneut verlor er das Bewusstsein. Kaltes Wasser in seinem Gesicht weckte ihn. Er war noch immer angekettet, seine Arme spürte er kaum noch, die Durchblutung ließ nach. Über ihn gebeugt erquickte sich die alte Frau an dem restlichen Wasser aus ihrem Glas. „Da bist du ja wieder, Jungchen! Dann kann ich dir ja endlich erklären, warum du dich in dieser Lage befindest!“ Er nickte gefällig. „Bitte helfen Sie mir! Frau Karlsson!“, keuchte er. „Mir geht es schlecht, ich glaube, ich werde-“ „Sterben?“, unterbrach sie ihn. „Ja, Jungchen, das wirst du ganz sicher! Darum geht es ja schließlich auch. Du sollst spüren, wie es sich anfühlt, wenn man vergiftet wird.“

Hatte er sich verhört? „Vergiftet? Sie haben meine Füße abgehackt!“, korrigierte er sie zynisch und biss sich auf die Zähne, um nicht wieder los zu schreien. Sie kicherte kurz. „Nun, ich sollte vielleicht etwas klarstellen. Ich heiße nicht Frau Karlsson. Mein Hund hieß Herr Karlsson.“ Was faselte die Alte da nur? Ihr scheiß Köter? „Mein bester Freund, der nach dem Tod meines Mannes und meines Sohnes für mich da war. An Krebs und an Glatteis, das einen tödlichen Autounfall verursachte, kann ich mich nicht rächen, aber an einem Mann, der mir meinen Gefährten genommen hat, der in all den schlimmen Jahren an meiner Seite stand, tja, an dem kann ich wunderbar Rache nehmen.“ Sie wirkte erstaunlich ruhig und ihm dämmerte, dass sie das Ganze geplant hatte. Allmählich begriff er auch, dass seine kleine, geheime Leidenschaft ihn in diese prekäre Lage gebracht hatte.

Lügen. Er musste lügen, es war seine einzige Chance. „Ich war es nicht! Ich habe ihrem Hund nichts getan, Sie haben den Falschen!“ Tränen liefen über seine Wangen. Dieses Schauspiel war Oscar-würdig. „Jungchen, ich habe nicht über vier meiner Rentenzahlungen an einen Detektiv abgegeben, nur, um dann dem Falschen die Hinterläufe abzuhacken! Also, mir geht es darum, dass du das durchlebst, was Herr Karlsson deinetwegen durchleben musste!“ „Ich habe Ihrem Köter nicht die Beine abgeschnitten!“, schrie er. Er verstand es nicht. Es war absurd. Die Alte war völlig durchgeknallt. „Wieso lebe ich überhaupt noch?“, stöhnte er und rüttelte mit der letzten Kraft in seinen Armen an dem Metallrohr. Es nützte nichts, er war gefangen. „Du lebst, weil ich deine Füße, naja, eher gesagt deine Stümpfe, mit einem Bügeleisen ausgebrannt habe! Nennt sich Kauterisation im medizinischen Fachjargon. Ich wollte ja nicht, dass du mir so schnell ausblutest. Das hat ganz schön gestunken, sage ich dir.“ Sie rümpfte angeekelt die Nase. „Ich bin über achtzig, musst du wissen, und da kann ich nicht so schnell hinterher, falls du flüchten solltest.“

Sie verschränkte ihre Arme vor sich. Sie wollte zum Wesentlichen kommen. „Nun, es dauert, bis das Marcumar seine Wirkung zeigt, aber anhand deines Nasenblutens und deines blutigen Auswurfs scheinst du mit dem innerlich Verbluten ganz gut voran zu kommen. Ich hatte schon Bedenken, ob die Wirkung der Tabletten nachlässt, wenn man sie verreibt und ob man sie schmecken kann, aber du hast ja genug davon gegessen. Jungchen, weißt du, Blutverdünner sind ein bisschen wie Rattengift, das du in deine Futterköder getan hast. Irgendwann brechen die Tiere elendig zusammen und auch der Tierarzt kann nichts mehr tun. Es war kein schöner Anblick, als mein Herr Karlsson vor mir verblutet ist, aber diesen Anblick genieße ich dafür umso mehr.“ Sie lächelte selig. „Sag mal, Jungchen, wie fühlt es sich an, dumm genug zu sein, einen Menschenköder zu futtern?“ Der durchdringende körperliche Schmerz entpresste seinen Augen weitere Tränen. „Es tut mir leid!“, wimmerte er. „Ich werde es nie wieder tun. Ich verspreche es!“ Sie rollte mit den Augen. „Natürlich wirst du es nie wieder tun. Du wirst nichts mehr tun. Am wenigsten laufen!“ Die alte Frau hielt einen seiner Füße in der Hand und ließ ihn neben seinen Kopf fallen. Er war Aug in Aug mit seinen Zehen. Klägliches Gebrüll folgte.

„Sie werden damit niemals durchkommen! Man wird mich finden.“ Ihm wurde bewusst, was man finden würde: Constantin Krämers verstümmelte Leiche. Sein Ruf war ruiniert. Eine weitere Demütigung. Die Vorstellung seines nahenden Todes drehte ihm den Magen um. Erneut spuckte er Blut. „Jungchen, ich habe mein Leben gelebt. Wenn ich morgen gehe, dann sei es so, aber dich nehme ich vorher mit. Das Problem mit euch Männern ist, dass ihr nie zuhört, wenn eine Frau redet. Ich habe doch erzählt, dass ich Schweine habe. Du musst wissen, Schweine, die einige Tage nichts zu essen bekommen haben, sind bei Fleisch nicht besonders wählerisch. Sie fressen alles.“ Sie lächelte freudig erregt und fixierte seine vor Angst geweiteten Augen. „Alles!“ Die alte Frau hielt seinen anderen Fuß in der Hand, warf diesen auf seine Brust und schritt zur Tür. Kurz darauf hörte er Getrappel auf dem Holzboden. „Ich habe ja gesagt, es sieht hier aus wie im Schweinestall!“, höhnte sie. Er war ausgeliefert. Der Tag der Abrechnung war für ihn gekommen. Er hatte getötet und musste es nun büßen. Verstümmelt von einer über 80-Jährigen, und das war noch der harmlose Teil. Sie beobachtete, wie ihre Schweine seine krustigen Stümpfe gierig beschnüffelten, ehe sie darüber herfielen. Er schrie auf. Angewidert blickte sie auf seinen entstellten Körper und sprach: „Jungchen, du hättest meinen Pudel und all die anderen Tiere nicht töten sollen!“ Er gab qualvolle Schmerzensschreie von sich, doch niemand würde ihn hier hören, geschweige denn, ihn jetzt noch rechtzeitig aus dieser fatalen Lage befreien. Die 300-Kilo-Kolosse bissen in sein Gesicht und fraßen seine Schultern an, bevor sie über seine restlichen Körperteile herfielen. Vom Hunger getrieben ließen sie nichts aus. Jedes der Tiere wollte an vorderster Front sein, sie bissen und schmissen sich gegenseitig um. Blut spritzte. Er hörte einen seiner Knochen knacken. Die Schweine quiekten, während sie ihn regelrecht zerfleischten. Die alte Frau genoss ihre Rache mit jeder Faser ihres Körpers. Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und verließ den Raum mit einem letzten hörbaren Wispern: „Guten Appetit, Jungs!“

-gemeinsam verfasst von Ninja N. und Tatjana B. – 🙂

 

 

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