MarcelGratzfeldDer Letzte macht das Licht aus.

Der Letzte macht das Licht aus.

 

 

>> Einen Moment bitte! << rief Jessica aus dem Hinterhof in das kleine Café, nachdem das silberne Glöckchen über der Eingangstür ertönte.

>> Ich bin sofort bei…<< Ihnen wollte sie noch sagen, aber zu wem. Der Laden war völlig leer. Verwundert ging sie zurück zu ihrer Zigarette, sie wollte gerade daran ziehen, als das Glöckchen schon wieder ertönte. Energisch drückte sie die halb aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher aus, ging zügigen Schrittes durch die Backstube in den Laden, in welchem sie eine Dame um die fünfundvierzig, fünfzig an der Ladentheke erwartete.

>> Ein herrlicher Tag, nicht? Dieses Wetter einfach traumhaft und sie armes Ding müssen hier drinnen hocken und arbeiten.<< Jessica hatte absolut keine Lust auf Smalltalk und konnte es genauso wenig leiden, wenn man sie als Ding bezeichnet, geschweige denn sie beim Pause machen störte.

>> Was darf es denn sein? << fragte sie und fügte in Gedanken ein spöttisches “mi Lady“ hinzu, während sie der Kundin ein breites Grinsen schenkte.

Fräulein “Herrliches Wetter, Armes Ding“, bestellte einen Latte Macchiato…

>>mit Lactose freier Mandelmilch, ohne Sahne aber mit Karamell und das ganze To Go.<<

Immer noch grinsend drehte sich Jessica zur Kaffeemaschine um verdrehte die Augen und bereitete, unter mehr Lärm als erforderlich, um sich nicht weiter unterhalten zu müssen, die Bestellung zu. Eigentlich war sie ja jemand, der sich gerne unterhielt und Menschen nicht sofort in eine Schublade steckte, aber mit aufgetakelten, hochnäsigen Möchtegerns, konnte sie wirklich nichts anfangen.

>> Das macht dann fünf Euro achtundsiebzig bitte.<< Sagte Jessica zu der Kundin.

>> Das ist ja Wucher!<< flüsterte die Frau in einer hörbaren Lautstärke in ihr Portemonnaie aus dem die Hunderter und Fünfziger nur so raus quollen. Reichte das auf den Cent genau abgezählte Geld über den Tresen und verließ den Laden mit einem gesäuseltem, leicht durch die Nase gesprochenem >> Auf Wiedersehen<<.

“ Zum Glück“ dachte Jessica, dann fiel ihr Blick auf das Handy, welches noch auf dem Tresen lag.

>> Verdammt<< murmelte sie, schnappte sich das Handy und folgte der Frau aus dem Laden.

>> Moment warten Sie!<< doch vergebens. Die Dame lief einfach weiter, sah sich noch nicht mal um. Jessica lief los und hatte, nach einem kurzen Spurt, der dank ihrer Sneakers möglich war, die Dame schnell eingeholt.

>> Sie haben ihr Handy vergessen.<< sagte Jessica leicht außer Atem.

>> Mein Handy ?<< erwiderte die Frau erstaunt.

>> Ist das denn nicht Ihr Handy?<< fragte Jessica und hielt ihr das Mobiltelefon hin.

>> Das ist nicht mein Handy, mein Kind. So etwas Geschmackloses besitze ich nicht.<< erwiderte die Dame, mit einem gespielt angewidertem Gesicht und stolzierte an Jessica vorbei.

Sie betrachtete die knallbunte Hülle des Handys. Es war eine Standardhülle und wies keine Besonderheiten auf. “ Dann nicht.“, dachte Jessica, steckte das Handy in ihre Hosentasche und…

>>Shit<< rief sie, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte die Tür abzuschließen. Die Tür vom Café, dahinter der Tresen und dahinter…“ Mist“ dachte sie und lief schneller.

Die Kasse, die verdammte alte Kasse. Ohne Sicherung, ohne Pin, ohne Schlüssel, ohne moderne Technik. Jessica stürzte durch die Tür in den Laden. Gefasst auf Verwüstung, Zerstörung und vor allem auf eine leere Kasse kam sie völlig außer Atem, mit einer schweißnassen Strähne im Gesicht kurz vor der Vitrine mit den ausgestellten Kuchen zum stehen und… nichts. Alles stand an seinem Platz. Keine Verwüstung, keine Zerstörung. Nachdem sich Jessica durch einen kurzen Zug an dem Hebel, worauf hin die Geldschublade der alten Registrierkasse aufsprang, vergewissert hatte, dass kein Geld fehlte beruhigte sie sich wieder. “So viel Aufregung wegen so einem blöden Handy“ dachte sie und holte das Gerät aus ihrer Hosentasche. >> Wem du wohl gehörst?<< sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Handy und überlegte kurz, ob sie einen Versuch wagen sollte es zu entsperren. Sie verwarf den Gedanken und legte das Handy in die Fundsachenbox im Schrank über der Spüle. Sie schaute sich noch einmal im Laden um. Hier war alles auf alt gemacht. Nur ein paar Sachen waren wirkliche Antiquitäten.

Ihr Blick fiel auf die Uhr über dem Ethanol Kamin. Neunzehn Uhr vier. Hatte sie den Glockenschlag am Anfang ihrer Schicht ausgeschaltet oder einfach nur überhört?

Es war Zeit Feierabend zu machen. Sie schaltete die Sicherungen aus, schloss die Tür ab und machte sich auf den Heimweg. Als sie um die Ecke bog, an der sie die Frau eingeholt hatte, dachte sie nochmal an die komische Situation mit dem Handy.

“Wo das Ding wohl hergekommen sein mag? Habe ich es vorher übersehen? Kann nicht sein.“, dachte sie und schüttelte leicht mit dem Kopf

“Es war erst da, nachdem die Frau im Laden war.“

>> Wenn es jemand vermisst wird er es schon holen kommen.<< sagte sie zu sich selbst und vergaß das Handy für den Abend.

 

Am nächsten Tag war nicht viel los in dem kleinen Café. Normalerweise ist Samstags im Laden so viel zu tun, dass sie zu zweit eingeteilt sind. Doch statt gestresst Gäste zu bedienen, langweilten sich Jessica und Clara. Clara war zwei Jahre jünger als Jessica ,aber die Dienstältere, weshalb sie auch den Ton angab. Jessica hatte damit kein Problem. Sie mochte Clara. Sie war hübsch, intelligent und super lustig, sodass es bei der Arbeit immer etwas zu lachen gab. Sie durchsuchte gerade die Fundsachenbox, um etwas zu tun und in der Hoffnung etwas gegen die Langeweile zu finden.

>> Wo kommt das denn her?<< fragte sie nach dem sie das Handy gefunden hatte.

>> Das lag hier gestern auf dem Tresen.<< erwiderte Jessica mit den Schultern zuckend.

>> Die Hülle ist schön bunt. Gefällt mir.<< sagte Clara. >> Schau mal. Hier sind verpasste Anrufe auf dem Handy. Vielleicht bekommen wir so raus wem es gehört?<<

>> Selbst wenn,<< wandte Jessica ein,>>bekommen wir es doch nicht entsperrt. Aber vielleicht gibt es ja ein Bild auf dem Sperrbildschirm.<<  sagte sie, während sie zu Clara hinter den Tresen ging.

>> Ja stimmt.<< Clara entfernte die entgangenen Anrufe und schaute verdutzt auf das Bild.

>> Schau mal.<< Clara drehte das Handy damit Jessica auf den Bildschirm sehen konnte.

>> Die sieht aus wie du.<<

Jessica Schaute auf das Bild. >> Die sieht doch nicht aus wie ich.<< sagte sie als sich plötzlich der Bildschirm per Face-ID entsperrte. Clara und Jessica schauten sich verdutzt an.

>> Sag doch direkt das es dein Handy ist.<< witzelte Clara und drückte Jessica das Handy in die Hand.

>> Das ist nicht mein Handy. Wenn es meins wäre, warum sollte ich es dann zu den Fundsachen legen.<<

>> Komm hör auf.<< lachte Clara. >> Netter Streich, den du dir da ausgedacht hast. Ist nur leider schief gegangen, weil du vergessen hast, dass sich dein Handy per Gesichtserkennung entsperrt.<<

>> Aber wenn ich es dir doch sage. Das ist kein Streich und das ist nicht mein Handy.<<

>> Komm lass gut sein. Du musst einsehen, dass du die Streichemeisterin nicht besiegen kannst.<< sagte Clara, immer noch grinsend über ihren Triumph, dass Jessica sie nicht dran gekriegt hatte. Bevor Jessica noch etwas erwidern konnte, war Clara im Kühlraum verschwunden und ließ Jessica alleine. Es dauerte einen Moment, bis sie merkte, dass sie noch das Handy in der Hand hielt. Wie war es möglich, dass sie es entsperren konnte. Das Hintergrundbild war dasselbe wie auf dem Sperrbildschirm, aber das war nicht sie. Das war eine deutsche Schauspielerin, die ihr sehr ähnlich sah. Aber auch nicht zum Verwechseln ähnlich. Es waren kaum Apps installiert. Um genau zu sein nur Fotos, Kamera, Telefon und eine App, um Nachrichten zu versenden. Ansonsten war das Handy leer. Keine Bilder, keine Kontakte, keine Musik. Nichts.

>> Also abgesehen davon, dass ich das Handy entsperren kann, haben wir keine weiteren Anhaltspunkte wem es gehören könnte.<< sagte sie zu Clara.

>> Ich finde das so langsam nicht mehr lustig.<< sagte Clara jetzt leicht genervt zu Jessica, die schon wieder völlig vergessen hatte, dass Clara ja der Meinung war sie würde hier aufs Kreuz gelegt.

>> Ich sag dir doch, es ist nicht meins. Hier, das ist meins.<< Jessica holte ihr Handy aus der Tasche und zeigte es Clara.

>> Wem gehört es denn dann?<< Fragte Clara, die endlich überzeugt war.

>> Keine Ahnung. Wie gesagt, nichts drauf.<<

>> Dann leg es wieder in die Kiste mit den Fundsachen. Es wird schon jemand abholen und wenn nicht… dann ist es halt meins.<< sie musste grinsen bei dem Gedanken.

Sie wollte das Handy gerade wieder zurück in die Fundsachenbox legen, als es vibrierte. Eine Nachricht war eingegangen. Die Neugierde übermannte sie.

“Hallo Jessica“ war dort zu lesen.

Noch einmal vibrierte das Handy und ein Foto erschien auf dem Bildschirm.  Das Foto war schon ein paar Jahre alt und zeigte ein Selfie von Jessica an ihrem ersten Studientag.

Jessica legte das Handy, so langsam als würde es bei jeder ruckartigen Bewegung explodieren, auf die Arbeitsplatte neben der Spüle.

>> Clara.<< rief sie. >> Claaraa.<< diesmal etwas lauter und mit einer leichten Verunsicherung in der Stimme.

Clara kam aus der Backstube geschlendert. >> Was ist denn los?<< fragte sie, während sie sich die Hände abtrocknete.

>> Das Handy kennt mich.<< sagte Jessica.

>> Was meinst du damit?<< Clara klang verwirrt aber belustigt.

>> Das Handy kennt mich.<< wiederholte Jessica energischer und hörte dabei, was sie da sagte. >> Also nicht das Handy, sondern derjenige der es hier gelassen hat, kennt mich. Ich habe gerade eine Nachricht bekommen.<<

>> Aber das ist doch gut. Dann kannst du das Handy doch dem Besitzer zurückgeben. Wem gehört es denn?<< fragte Clara leicht enttäuscht darüber, dass sie das Handy doch nicht behalten konnte.

>> Du verstehst nicht. Ich habe keine Nachricht auf mein Handy bekommen, sondern auf das Handy. Da steht:“ Hallo Jessica.“.<< Jessica wurde leicht genervt.

>> Vielleicht gehört das Handy jemandem, der zufällig auch Jessica heißt.<< erwiderte Clara schulterzuckend und wollte wieder gehen. Doch Jessica packte sie am Arm, hielt ihr das Handy unter die Nase und fragte: >> Und diese Person sieht auch genauso aus wie ich? Clara das ist kein Zufall. Jemand hat das Handy extra hier gelassen um mit mir Kontakt aufzunehmen.<<

>> Vielleicht ein heimlicher Verehrer.<< schmunzelte Clara.

>> Mag sein. Aber wie kommt er an dieses Foto?<<  Jessica wurde nachdenklicher, aber nicht weniger panisch.

Clara hob unwissend die Hände in die Luft und wedelte mit dem Geschirrtuch. >> Beruhig dich Jessica. Wer soll das schon sein?<<

>> Ein Stalker vielleicht?!<< antworte Jessica, bemüht ihre Stimme so im Griff zu behalten, dass sie sich nicht überschlug.

>> Wer sollte dich denn stalken?<< fragte Clara lachend. Sie konnte nicht anders als Jessica aufzuziehen. Hinter der großen Klappe versteckte sich doch nur ein verunsichertes, ängstliches, aber doch auch liebevolles und aufrichtiges Mädchen. Das mochte sie an Jessica.

>> Das Bild ist bestimmt von Facebook oder Instagram kopiert.<<

>> Das glaube ich kaum.<< konterte Jessica. >> Das Foto ist nicht im Netz.<<

>> Fotoshop<< vermutete Clara; doch Jessica schüttelte nur mit dem Kopf.

>> Das Foto existiert. Ich habe es aber nie geteilt, gepostet oder sonst was. Es ist nur auf meinem Handy.<<

>> Und jetzt auch auf deinem anderen Handy.<< wandte Clara ein.

Jessica warf ihr einen Blick zu, der Clara zu verstehen geben sollte, dass sie jetzt besser die Klappe hielt.

Clara wollte gerade wieder ansetzen etwas zu sagen, als das Handy erneut vibrierte. Wieder eine Textnachricht. „Ich sehe dich.“ war jetzt in der Sprechblase zu lesen und darunter wieder ein Bild. Diesmal zeigte es Jessica, im Café, mit ihrem Handy in der Hand. Nicht mit ihrem Handy, mit dem Handy. Die bunte Hülle war ganz klar zu erkennen auf dem Foto.

>> Er beobachtet dich.<< sagte Clara fassungslos und stellte dann fest,

>> Also doch ein Stalker.<<

Jessica warf das Handy, mit einem Ausdruck von Angst und Ekel, von sich weg. Clara fing es, kurz bevor es auf den Boden aufschlug.

>> Bist du verrückt? Das sind Beweise die wir der Polizei bringen müssen!<< schrie Clara Jessica an.

Jessica standen die Tränen in den Augen.

>> Sorry, ich wollte dich nicht anschreien.<< sagte Clara, doch dann wurde ihr klar, dass Jessica nicht kurz vorm weinen war, weil sie Jessica angeschrien hatte.

Clara ging zu ihr und nahm sie in den Arm.

„Pling! „ der Ton von dem Scheißteil musste angegangen sein, als Clara es gefangen hatte.

Wieder ein Bild. Diesmal zeigte es Jessica in Rom auf einer Mauer an einem Aussichtspunkt stehend. Hinter ihr die ewige Stadt.

>> Das kann nicht sein.<< Jessicas Stimme zitterte.

>> Dieses Foto existiert nicht mehr. Ich habe es gelöscht. Wie kann er…? Wo hat er…?<< Jessicas stimme überschlug sich.

>> Das reicht.<< sagte Clara entschlossen schaltete das Handy ab und steckte es in ihre Gesäßtasche.

>> Du schläfst heute bei mir. Wir machen für heute Feierabend und gehen morgen früh direkt zur Polizei.<<

 

Clara war, nach dem Leeren von anderthalb Flaschen Wein, auf der Couch eingeschlafen. Clara hatte die Flaschen natürlich nicht alleine getrunken und Jessica fühlte sich sehr müde, doch wollte sie noch nicht so richtig einschlafen. Sie döste aber immer wieder weg, als sie ein „Ping“ aufschrecken lies. Eine neue Nachricht auf dem Handy. “Hatte Clara es nicht ausgeschaltet?“ Fragte sich Jessica. Als sie das Handy von der Kommode nahm las sie:

„Es wird sich nicht lohnen zur Polizei zur gehen.“

>> Was hast du getan?<< Jessica schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch.

>> Du hast alles gelöscht. Warum hast du alles gelöscht ?<< Clara hielt das Handy in der Hand und blickte fassungslos auf den Bildschirm.

>> Wovon redest du? Was soll ich gelöscht haben?<< fragte Jessica verschlafen, als ihr die Vorkommnisse vom Vortag wieder einfielen. >> Was heißt alles gelöscht?<< jetzt hellwach und mit einer bösen Ahnung, riss Jessica Clara das Handy aus der Hand.

Es wurde zurückgesetzt. Keine Nachrichten, keine Bilder, nichts. Es war alles weg. Alles gelöscht. Aber sie hatte nicht alles gelöscht. Die Nachricht aus der Nacht viel ihr wieder ein.

>> Er hat das getan. Er hat alles gelöscht.<< sagte Jessica aufgeregt.

>> Er war in meiner Wohnung ?<< fragte Clara erschrocken, fast panisch.

>> Ich glaube nicht, dass er hier war und alles gelöscht hat. Er muss es irgendwie von wo anders neu gestartet haben. <<

>> Wir sollten trotzdem zur Polizei gehen. << Clara klang zuversichtlich.

>> Ohne Beweise? Sinnlos.<<

>> Und wenn wir das Handy einfach bei der Polizei lassen. Wenn er sich wieder meldet, hat die Polizei den Beweis, den sie braucht.<<

>> Clara, ich weiß du meinst das lieb, aber wenn er doch schon weiß, dass wir zur Polizei wollten und alles übers Netz gelöscht hat, denkst du nicht, dass er es nicht auch mitbekommen würde, wenn das Handy bei der Polizei liegt? Ich muss jetzt zur Uni. Das ist einfach nur ein Spinner, nichts weiter. Ich habe gestern überreagiert und werde das Handy einfach unterwegs wegschmeißen. <<

>> Der Typ ist gefährlich. Was denkst du passiert, wenn du das Handy wegwirfst?<<

>> Wir wissen nicht, ob er gefährlich ist. Er hat sich nicht gezeigt und versteckt sich hinter dem Internet, also was soll schon passieren? Ich muss jetzt los.<< Jessica gab Clara zum Abschied einen Kuss auf die Wange. >> Sorg dich nicht.<< sagte sie und ging zur Uni. Unterwegs machte sie extra einen Umweg und warf das Handy ausgeschaltet in einen Müllcontainer, damit es keiner fand. Dann ging sie zur Uni.

Im Laufe des Tages passierte nichts besonderes oder auffälliges. Vielleicht hatte er aufgegeben, ein neues Opfer gefunden oder wurde vom Bus überfahren. Als sie am Abend in ihre WG zurückkehrte, stand ein Paket für sie auf dem Esstisch. “Endlich.!“ Dachte sie und hoffte in dem Paket das bestellte Buch vorzufinden. Jessica öffnete das Paket und sah etwas knallbuntes. Auf dem Einband von dem Buch stand 1904 und Jessica machte sich einen Tee und fing sofort an zu lesen.

Jessica erwachte durch ein Handyklingeln, das Buch fiel von ihrer Brust, als sie sich aufsetzte.

>> Leute? Kann mal einer ans Handy gehen? Leute? << Jessica hörte wie Samantha, eine ihrer Mitbewohnerinnen ans Handy ging und Telefonierte. Jessica merkte erst jetzt, dass sie eine Gänsehaut bekommen hatte und sie fröstelte. Scheinbar hatten sie die Ereignisse vom Vortag doch mehr mitgenommen als sie dachte. Jessica fuhr zusammen, als es an der Tür klingelte. “Mein Gott, jetzt beruhig dich doch mal.“, dachte sie und ging zur Tür und spähte durch den Türspion. Vor der Tür stand keiner. Wieder klingelte es, Jessica zuckte erneut zusammen und dann fiel ihre ein, dass es ja auch noch eine Haustür gab und sie diese erstmal aufdrücken musste. Ein Pizzabote stapfte die Treppe rauf, übergab ihr die Pizza und verschwand wieder. Auf der Quittung sah sie, dass die Pizza schon bezahlt war, weshalb der Pizzabote auch keine Anstalten machte Geld zu verlangen.

>> Pizza ist da!<< rief sie in die Wohnung. Keiner kam um die Pizza zu holen. Sie klopfte bei Samantha an die Tür und fragte,>> Hast du Pizza bestellt?<< doch Samantha verscheuchte sie nur mit einer Handbewegung und widmete sich wieder ihrem Telefonat. Daniel und Larissa waren unterwegs.

>> Super, gratis Pizza.<< murmelte Jessica vor sich hin, öffnete die Schachtel…

>> Und das war es mit der Pizza.<< sagte Jessica mürrisch, als sie die Ananas auf der Pizza entdeckte und die Pizza wanderte in den Müll.

“Ping“ das Geräusch kam vom Wohnzimmertisch.

Jessica ging langsam auf den Wohnzimmertisch zu, als das Geräusch erneut erklang.

Dort lag es, mitten auf dem Wohnzimmertisch und knallbunt. Das Handy.

“Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping…” in dem Moment wo Jessica das Handy sah, drehte das Ding völlig durch und es tauchten hunderte von Nachrichten auf, alle mit demselben Inhalt:

“Habe ich dir gefehlt?“  Hundertmal:“ Habe ich dir gefehlt?“ Jessica war fassungslos.

Die Nachrichten nahmen kein Ende. “Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping, Ping….”

Als sich eine Hand auf Jessicas Schulter legte, schrie sie auf, wirbelte herum und schlug blitzschnell zu. Doch ihre Hand wurde abgefangen und ehe Jessica wusste wie ihr geschieht, wurde sie einmal durch die Luft geschleudert und landete auf dem Rücken. Sie wehrte sich und versuchte ihren Angreifer zu schlagen, zu treten und zu verletzen, doch dieser drückte sie mit seinem ganzen Gewicht fest auf den Boden.

>> Hilfe!! Hilfe!! Hilfe!!<< sie sah Samantha dastehen und zuschauen. Warum half sie ihr nicht? Warum schaute sie nur zu? Scheinbar wollte sie den Angreifer nicht daran hindern sie zu vergewaltigen oder sie zu töten. Alles was sie tat war, sie besorgt anzublicken und zuzusehen wie derjenige, der da auf ihr saß die Hand hob.

Die Backpfeife schepperte durch die ganze Wohnung. Ihre Wange brannte wie Feuer und tränen schossen ihr in die Augen.

>> Jessica jetzt beruhig dich doch bitte!!<< schrie die Person sie an, die da auf ihr saß.

>> Es tut mir leid. aber wenn du dich jetzt nicht beruhigst, dann muss ich dir noch eine verpassen.<<

Die Stimme klang vertraut, besorgt und vor allem weiblich. Es war kein Vergewaltiger oder Mörder es war…

>> Clara…<< brachte Jessica hustend hervor. >>…Geh von mir runter.<<

>> Erst wenn du dich beruhigt hast und wieder ansprechbar bist. Bist du?<< fragte Clara Jessica in einem Ton als würde sie mit einer Geisteskranken sprechen.

>> Ja<< sagte Jessica immer noch Hustend.

>> Und du beruhigst dich jetzt? Und willst mich auch nicht mehr schlagen?<<

>> Nur wenn du aufhörst mit mir zu reden als hätte ich sie nicht mehr alle.<< murrte Jessica Clara an.

Clara stand auf und half Jessica erst auf die Beine und dann aufs Sofa.

>> Was war denn überhaupt los?<< wollte Clara wissen. >> Erst reagierst du nicht wenn man dich anspricht und dann gehst du auf mich los, und das völlig ohne Grund. Hast du irgendwas genommen?<<

>> Ich habe nichts genommen.<< Maulte Jessica.>> Es ist wieder da.<< Jessica hörte jetzt selber warum Clara mit ihr sprach wie mit einer Geistesgestörten.

>> Was ist wieder da?<< fragte Clara verwirrt.

>> Das Handy. Es ist wieder da. Es lag plötzlich auf dem Tisch und schickte mir tausende Nachrichten.<< Jessica klang wie eine Irre, konnte sich aber auch nicht beruhigen. Clara entdeckte das Handy, welches beim Kampf unter die Kommode gerutscht war und holte es. >> Jessica hier ist nicht eine Nachricht drauf.<< sagte Clara besorgt.

“Ping“ machte das verfluchte Ding und es erschien ein Bild auf dem Display. Das Bild zeigte Jessicas Eltern im Krankenhaus. Jessicas Vater trug einen grünen Schutzkittel und Jessicas Mutter ein Operationshemd. Es war ein Bild von Jessicas Geburt. Sie lag bei ihrer Mutter im Arm und Jessicas Vater hatte seiner Frau die Hand auf die Schulter gelegt. Alle lächelten glückselig in die Kamera.

>>Jessica?<< taste sich Clara vorsichtig ran.>> Er hat ein neues Bild gesendet. <<

Als Clara Jessica das Handy hin hielt, empfing es eine neue Nachricht und Jessica erblicke ein Bild von ihrem ersten Geburtstag.

>> Wer ist das?<< fragte Clara, die mittlerweile hinter Jessica stand, um sehen zu können was passiert war.

>> Das bin ich, an meinem ersten Geburtstag.<< antwortete Jessica leicht abwesend.

>> Das habe ich mir gedacht. Ich meine das Kind neben dir.<< Clara deutete auf ein weiteres Kleinkind, das auf dem Bild rechts neben Jessica saß. Man konnte nur den Hinterkopf des Kindes sehen, weil es Jessica anschaute, als das Foto gemacht wurde und Jessica frontal zur Kamera saß. >> Ich weiß es nicht.<< sagte Jessica. >> Es muss ein Kind von Freunden meiner Eltern sein. << Jessica klang verwirrt dann genervt.>> Ist das jetzt wichtig. Ich würde gerne wissen wie das Handy wieder hier her kommt, wie er in die Wohnung gekommen ist und wer er ist.<< Jessicas Tonfall wurde aggressiv. Wut überkam sie.>> Wie kommt er an all die Bilder. Das Geburtstagsfoto hat nur mein Vater.<< Jessica riss die Augen auf und sie wurde Panisch>> Glaubst du er hat meinem Vater was getan?<< Jessica hantierte an dem Handy rum.>> Ich muss sie anrufen.<<

>> Aber nicht mit dem Ding!<< sagte Clara energisch und riss Jessica das Handy aus der Hand.

>> Beruhig dich erstmal und atme einmal tief durch.<< Clara legte das Handy auf die Küchenzeile. Mit seiner knallbunten Hülle wirkte es fröhlich und aufmunternd, wie es da so lag. >> Ich glaube nicht, dass er deinem Vater etwas getan hat.<< Clara wollte Jessica beruhigen, auch wenn sie selber den leichten Zweifel in ihrer Stimme hörte, den zu unterdrücken sie versucht hatte. >> Es bringt dir nichts, wenn du in deinem Zustand deinen Vater anrufst. Wenn er ans Telefon geht und du klingst panisch, macht er sich sorgen um dich, kann aber nicht herkommen. Wenn er nicht ans Telefon geht, machst du dir Sorgen oder nimmst gleich das Schlimmste an, obwohl er nur gerade nicht ran gehen kann.<< Clara machte eine kurze Pause, bevor sie weiter sprach. >> Lass uns lieber überlegen wie wir rausfinden wer das ist und wie wir ihn dran kriegen.<<

>> Aber warum ich Clara? Warum ausgerechnet ich?<< Clara stand auf und ging Richtung Küche.

>> Ich weiß es nicht Jessica. Du bist ja noch nicht mal hübsch.<< sagte Clara mit einem Augenzwinkern, worauf Jessica ihr einen Blick zuwarf, der Clara zu verstehen gab, dass Jessica im Moment nicht zum lachen war.

>> Okay. Nicht lustig. Habe ich verstanden.<< sagte Clara, verschwand im Flur und tauchte direkt in der Durchreiche zur Küche wieder auf. >> Was ist, wenn wir es einfach zerstören?<< fragte Clara mehr sich selber als Jessica.

>> Was ist mit meinem Vater?<<

>> Schick ihm eine Nachricht.<< sagte Clara und warf Jessica ihr richtiges Handy zu.

Nach ein paar Minuten kam Clara wieder ins Wohnzimmer. Sie hatte zwei Tassen mit Tee und einen Korkenzieher in der Hand.

>> Was hast du denn mit dem Korkenzieher vor?<< fragte Jessica.

>> Damit zerstören wir das Mistding.<< sagte Clara und drückte Jessica eine Tasse und den Korkenzieher in die Hand. Sie wollte gerade wieder zur Durchreiche gehen, um das Handy zu holen da sagte Jessica: >> Nein!<<

>> Nein?<< Clara war erstaunt. >> Warum denn nicht?<<

>> Überleg doch mal. Ich habe versucht es wegzuwerfen, es kam wieder. Wenn wir es jetzt zerstören, dann liegt morgen ein neues vor der Tür oder schlimmer. Er steht vor der Tür. Außerdem zerstören wir damit die Beweise. <<

>> Wir zerstören die Beweise?<< fragte Clara ungläubig. >> Welche Beweise denn? Die Nachrichten, die der Typ immer wieder löscht oder die nicht mehr vorhandenen Bilder?<<

>> Vielleicht sind sie ja nur Oberflächlich gelöscht und Existieren noch irgendwo auf dem Handy.<< argumentierte Jessica dagegen.

>> Also gehen wir doch mit dem Ding zur Polizei?!<<

>> Nein.<< sagte Jessica angespannt. Clara, die vorher immer wieder auf und ab gewandert war, blieb jetzt mitten im Zimmer stehen. Sie schaute Jessica mit offenem Mund und total entgeistert an. Clara wollte irgendetwas sagen, wusste aber nicht was. Also fuhr Jessica fort.

>> Was ist, wenn er meinem Vater nichts angetan hat, ihn aber irgendwo gefangen hält oder so. Wenn wir jetzt zur Polizei gehen oder das Handy zerstören, dann tut er ihm vielleicht etwas an.<<

>> Aber wir wissen doch gar nicht, ob dein Vater überhaupt etwas mit der ganzen Sache zu tun hat. Vielleicht sitzt er gerade schön gemütlich vorm Fernseher und hat keine Ahnung von dem, was hier abgeht.<< Clara wurde ungeduldig.

>> Genau!<< keifte Jessica zurück.>> Wir haben keine Ahnung!<< sie seufzte und sagte dann>> Clara bitte, bitte versprich mir, keine Polizei und du zerstörst auch nicht das Handy.<< Jessica keifte nicht mehr, jetzt flehte sie Clara fast an. Clara überlegte kurz und sagte dann:>> Okay… Okay gut aber was machen wir dann? << Jessica wollte gerade auf Claras Frage antworten, als ein Handy vibrierte. Beide erstarrten, es vibrierte erneut. Das vibrierende Handy lag auf dem Wohnzimmertisch und war Jessicas richtiges Handy. Eine Antwort ihres Vaters:

“Hallo mein Schatz. Mir geht es gut und wie geht es dir? Wann kommst du mal wieder zu Besuch, ich vermisse dich schrecklich.

Kuss Papa“

>> Siehst du, deinem Vater geht es gut.<< sagte Clara, nachdem Jessica ihr die Nachricht gezeigt hatte. >> Du hast dir völlig umsonst Sorgen gemacht.<<

>> Und wenn ER die Nachricht geschrieben hat?<< wandte Jessica ein.>> Was wenn ER sich das Handy meines Vaters geschnappt hat und nur so tut als wäre alles in Ordnung?<<

>> Jessica du wirst paranoid. Antworte deinem Vater auf die Nachricht und beunruhige ihn nicht. Denk an sein Herz. Ich muss jetzt mal aufs Klo und du versprichst mir keine Dummheiten zu machen, bis ich wieder da bin.<< Clara verschwand. Jessica dachte nach und kam zu dem Entschluss, dass Clara Recht hatte. Jessicas Vater hatte gerade eine Herzoperation hinter sich und musste nicht unnötig aufgeregt werden. Vielleicht hatte ihr Vater das Bild mal gepostet, ohne dass sie es mitbekommen hatte. Also antwortete sie ihrem Vater, dass sie in den Semesterferien mal wieder vorbeischauen würde, legte ihr Handy weg und nahm einen großen Schluck von ihrem Tee. Dann starrte sie durch die Durchreiche in die Küche auf die knallbunte Hülle als wollte sie das Handy hypnotisieren und damit dafür sorgen, dass es explodierte oder derjenige, der sie da terrorisierte einfach nur tot umfiel.

Sie hörte wie die Kirchenglocken drei Uhr schlugen und wunderte sich, dass Samantha sich noch nicht über den Lärm beschwert hatte, dann wurde es dunkel.

 

 

 

 

Ihr Schlaf glich einer Ohnmacht und sie wurde erst durch das Geräusch der ins Schloss fallenden Wohnungstüre wieder wach. Der Versuch sich zu strecken scheiterte kläglich. Ihr tat alles weh. Kein Wunder, denn sie war sitzend, mit dem Kopf auf der Rückenlehne, auf der uralten Couch eingeschlafen und hatte sich im Schlaf scheinbar auch keinen Millimeter mehr bewegt. Jessica schaute auf die Uhr. Neun Uhr. “Verdammt“ dachte sie, sprang auf, merkte dabei noch mehr die Steifheit ihrer Muskulatur und legte sich prompt der Länge nach auf den Boden. Ihre Beine waren eingeschlafen und brannten wie hundert kleine Nadelstiche, außerdem hatte sie einen ekelhaften, undefinierbaren Geschmack im Mund. Ein Paar Füße tauchte vor ihrer Nase auf, dann Zwei Hände und dann half Clara ihr auf die Beine.

>> Langsam, << sagte sie. >> du tust dir noch weh. Ich habe zwei Kaffee mitgebracht und ein Schokobrötchen. Jetzt mach dich erst mal fertig und dann gehen wir zusammen zur Uni.<<

>> Danke.<< sagte Jessica, stand auf und humpelte in Richtung Badezimmer.

>> Und beeil dich. Wir sind schon spät dran!<< rief Clara ihr hinterher. Jessica sprang in ihre Klamotten und flog mit der Zahnbürste über die Zähne. Die Haare waren schneller zum Dutt hochgebunden als gekämmt, die Schminke von gestern hielt noch und dann musste halt heute mal die Brille herhalten, anstatt der Kontaktlinsen. Aber auf die Armbanduhr von ihrer Mutter wollte sie nicht einen Tag verzichten. Wo hatte sie die nur hingelegt? Als Jessica in die Küche kam fiel ihr Blick auf das Handy. Sie überlegte kurz. Dann steckte sie es ein. Die Uhr ihrer Mutter lag neben der Spüle. Während sie die Uhr anlegte sagte sie >> Fertig, wir können.<< und verließ mit Clara die Wohnung.

>> Hat er nochmal geschrieben?<< fragte Clara besorgt.>> Oder wieder ein Bild gesendet?<< >> Bis jetzt nicht.<< sagte Jessica den Blick geradeaus gerichtet. Sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Hatte Clara Recht und ihr Vater war in Sicherheit oder hat er ihn doch? Was kam als nächstes, was wollte er von ihr und beobachtete er sie die ganze Zeit? Ob es richtig war das Handy mitzunehmen? War er wirklich so gefährlich wie sie vermutete oder ließ er sie das nur glauben? Jessicas Kopf fing an zu schmerzen und ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

>>… und Außerdem weißt du ja auch nicht, ob das jetzt funktioniert oder nicht.<<

Jessica merkte das Clara die ganze Zeit mit ihr geredet hatte.

>> Wie bitte? Was hast du gesagt? Sorry, aber ich habe da keine Kopf für. Ich geh wieder zurück, ich kann mich eh nicht konzentrieren.<< Jessica stammelte ein wenig, drehte sich um und lies Clara stehen. Sie tastete ihre Jackentaschen und Hosentaschen nach dem Handy ab, und wurde panisch, als sie es erst nicht fand. Hatte sie es verloren? Dann ertastete ihre Hand beim erneuten Suchen in ihrer rechten Jackentasche etwas Hartes. Sie holte es raus und sah die knallbunte Hülle. Erleichterung machte sich breit und dann wieder Panik. Warum hatte er nichts mehr geschickt? Ist er durchgedreht und hat ihrem Vater etwas angetan? Vielleicht erwartete er, dass sie ihm antwortete. Vielleicht war ihm das Handy nicht mehr genug und er verfolgte sie. Sie rannte mittlerweile, stürzte die Treppe hinauf, schlug die Wohnungstür hinter sich zu und schloss ab. Sie lehnte sich dagegen und rutschte langsam an der Tür herab. Das Handy fest umklammert wartete sie darauf, dass etwas passierte. Doch es passierte nichts. Es klopfte nicht an der Tür, das Handy vibrierte nicht. Nichts. Zwei Stunden lang saß Jessica da, flach atmend, das Handy mit der rechten Hand umklammert und darauf wartend, dass etwas geschah. Die Tür drückte ihr in den Rücken als Clara versuchte sie zu öffnen.

>> Jessica? Jessica bist du zuhause? Warum gehst du nicht an dein Handy?<< Clara horchte einen Moment. >> Jessica? Jessica mach auf. Bitte.<< Clara versuchte es nochmal und klopfte, wartete noch fünf Minuten und gab dann auf. Jessica starrte vor sich hin und regte sich nicht.

“Was hatte Clara gesagt? Warum gehst du nicht ans Handy? Ihr Handy hatte doch gar nicht geklingelt.“ Jessica fiel ein, dass sie beide Handys auf stumm gestellt hatte. Doch dann hätte das Handy trotzdem vibrieren müssen. Sie schaute auf ihr normales Handy und es gab keine entgangenen Anrufe. Sie schaute auf das Handy und auch da keine Nachrichten, keine Bilder nichts. Als sie das Handy so hielt, dass die Kamera ihr Gesicht erkennen konnte, entsperrte sich der Startbildschirm und eine Meldung wurde angezeigt. “Speicher fast voll.“

Jessica war irritiert. Wie konnte das sein? Er hatte doch alles gelöscht und neue Nachrichten hatte sie nicht bekommen. Sie drückte auf die Option sich den Speicherverbrauch anzusehen. Das Handy zeigte ihr an, dass der Speicher durch Fotos und Videos fast vollständig belegt war. Sie wechselte auf dem Bildschirm in die Foto-App und was sie dort sah, lies ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Fotos über Fotos von ihr.

Jessica als Baby, Jessica im Kindergarten, Jessica im Sandkasten, Jessicas erster Grundschultag. Ihr fiel auf, dass auf den Bildern immer ein weiteres Mädchen zu sehen war. Ihr Vater erzählte ihr mal von Ellena, als sie nach dem Mädchen gefragt hatte. Ellena war die Tochter von einem benachbarten und befreundeten Ehepaar und damals Jessicas beste Freundin gewesen. Aber warum war sie auf jedem Kinderbild von Jessica mit drauf? Es gab auch einzelne Bilder von Ellena. Als Jessica bei den Bildern von der Beerdigung ihrer Mutter angekommen war, musste sie innehalten. Sie musste schlucken. Wie kam er nur an all diese Bilder? Dann musste sie weinen. Die Erinnerung überwältigte sie, und dass diese Bilder auf diesem Handy existierten machte ihr nur noch mehr zu schaffen. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, zumindest hatte sie aufgehört zu weinen, scrollte sie weiter. Sie sah Bilder aus ihrer Grundschulzeit, von all ihren Geburtstagen, Bilder von ihrer Kommunion und der Feier danach. Jessica sah sich all die Fotos von der Beerdigung bis zur Kommunion noch einmal an und danach noch einmal genauer. Doch Ellena entdeckte sie nirgendwo mehr. Jessica versuchte sich nochmal zu erinnern. Ellena musste damals umziehen. War das vor der Beerdigung ihrer Mutter gewesen oder danach? Jessica wusste es nicht mehr, aber da Ellena auf den Fotos von der Beerdigung nicht mehr auftauchte, schätzte sie, dass Ellena schon vorher umziehen musste. Jessica beschlich ein komisches Gefühl, doch wusste sie nicht, wo es herkam. Jessica wischte sich weiter durch die Fotos. Bilder von Urlauben ohne ihre Mutter, die soweit sie sich erinnern konnte, sehr wenige waren. Meistens war sie in den Ferien mit ihrem Vater zuhause geblieben. Sie gingen dann ins Freibad oder zum Minigolf. Auch davon gab es Bilder. Bis jetzt waren es entweder abfotografierte oder digitalisierte Fotos gewesen, die sie zu sehen bekam. Das änderte sich, als sie zu den Fotos kam, die sie mit ihrem ersten Smartphone gemacht hatte. Das war so in der achten Klasse. Ab da an waren es weniger bedeutsame Bilder. Belanglose Selfies, Bilder von damaligen Freunden, mit denen sie heute nichts mehr zu tun hatte, Profilbilder für Facebook, Schülervz und andere Socialmediaplatformen. Als nächstes Bilder von ihr und ihrem ersten Freund, von den Ausflügen die sie zusammen unternommen haben, die Nacktbilder, die sie ihm geschickt hatte. Sie lies das Handy sinken als ihr klar wurde, dass derjenige, der die Bilder auf das Handy geladen hatte, auch diese Bilder gesehen haben musste. Jessica musste würgen, bei dem Gedanken wie der Stalker sich auf ihre Bilder einen runterholte. Sie schaffte es gerade noch so bis zum Klo, in welches sie die letzten Stunden Angst, Frust und Ekel hinein kotzte.

Eine halbe Stunde später hatte sie ihren Körper wieder unter Kontrolle. Sie spülte sich den Mund aus und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie brauchte dringend etwas zu trinken und war total erschöpft. Sie ging in die Küche und füllte ein Glas mit Wasser.

>> Hast du dich ausgekotzt?<< Jessica lies das Glas fallen, als hinter ihr eine Stimme ertönte. Sie wirkte bedrohlich und klang ganz ruhig zu gleich. Jessica drehte sich langsam um. Clara stand im Türrahmen.

>> Ich habe versucht dich zu erreichen, doch du bist nicht dran gegangen.<< sagte Clara.

>> Ich habe nicht einen Anruf von dir.<< antwortete Jessica. >> Und auch keine Nachricht.<< fügte sie hinzu.

>> Natürlich, aber ist ja auch egal. Geht es dir gut? Die ganzen Bilder müssen dich verstört haben.<< Clara sprach mit fester, klarer und ruhiger Stimme.

>> Woher weißt du davon?<< fragte Jessica misstrauisch.

>> Ich habe das Handy neben der Tür gefunden und sah die ganzen Bilder. Es muss schrecklich für dich sein.<< Clara wollte Jessica in den Arm nehmen, doch sie wich zurück.

>> Ich habe Angst Clara.<< Jessica fing an zu Weinen. >> Was soll ich nur tun?<<

Sie ging zurück ins Wohnzimmer, nahm das Handy vom Boden auf und setzte sich auf die Couch. >> Ich werde ihm jetzt schreiben.<<

>> Was willst du damit bezwecken? Ihn provozieren?<<  fragte Clara ungläubig, fast panisch. Sie setzte sich zu Jessica auf die Couch und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

>> Hast du dir schon alle Bilder angeschaut? Vielleicht gibt es ja irgendwelche Hinweise in ihnen, was er von dir will.<<

>> Der will mich fertig machen, das will er! Und ich weiß noch nicht mal wer er ist oder warum er das macht!<<

>> Jessica du solltest dir alle Bilder anschauen. Ich habe sie durchgeschaut und die Bilder am Ende sind verwirrend.<< Clara drückte ihr das Handy in die Hand. >> Jessica schau sie dir an. Ich geh dir in der Zeit was zu Trinken holen.<< Clara verschwand in die Küche.

>> Clara ich kann das nicht. Ich möchte das nicht mehr. Was bitte soll auf den letzten Bildern so anders sein als auf den Anderen? Sag es mir doch einfach.<< Clara kam mit einer Tasse Tee und einem Glas Wasser wieder ins Wohnzimmer. >> Hier trink erstmal etwas.<< sagte sie und reichte Jessica das Wasser. Jessica trank, während Clara das Handy entsperrte und die Bilder bis zum Ende runter scrollte. >> Schau dir das an.<< sagte Clara und hielt Jessica das Handy hin. Jessica schrie auf, das heißt sie versuchte es. Was auf diesen Bildern zu sehen war, raubte ihr nämlich den Atem. Die Bilder zeigten Jessica in einer Blutlache liegend und einer Schusswunde im Kopf, Jessica an einem Strick hängend und Jessica in einer Badewanne mit aufgeschnittenen Unterarmen. Jessica lies das Handy sinken und schaute Clara aus entgeisterten Augen an.

>> Was denkst du?<< fragte Clara. >>Will er dich umbringen?<<

Jessica sagte nichts. Sie weinte auch nicht mehr. Sie starrte Clara nur an.

>> Jessica, du machst mir Angst… Jessica!… Jessica!<< Clara schrie Jessica an, doch keine Reaktion. Jessica starrte weiter Clara an. Sie blinzelte noch nicht mal. Dann holte sie tief Luft, stand langsam auf und wich zurück.

>> Woher wusstest du wie man das Handy entsperrt?<< Jessicas stimme zitterte.

>> Ich habe gesehen wie du den Code eingegeben hast.<< sagte Clara entschuldigend.

>> Clara.<< Jessica holte noch einmal tief Lieft. >> Ich habe den Code niemals eingegeben. Ich kenne keinen Code. Das Handy hat sich immer mit meinem Gesicht entsperrt. Du aber wusstest den Code. Woher?<< Jessica suchte einen Weg an Clara vorbei, die mittlerweile auch aufgestanden war und langsam, mit einer beschwichtigenden Körperhaltung auf sie zukam. Das Problem war, dass Clara zwischen Jessica und der Tür stand.

>> Jessica du wirst paranoid. Ich habe nichts damit zu tun.<<

>> Wenn du nichts damit zu tun hast, dann geh mir aus dem Weg.<< Jessica versuchte ihre Stimme fest klingen zu lassen, doch sie hörte selber, dass dies ein kläglicher Versuch war.

>> Ich würde dir ja sehr gerne aus dem Weg gehen Jessica, aber du wirkst müde und wenn ich dir aus dem Weg gehe, dann knallt dein hübsches Köpfchen noch auf den harten Boden und das will doch keiner.<< Clara klang jetzt bedrohlich.

>> Wovon redest du da?<< fragte Jessica doch merkte gleichzeitig, dass ihr schwindelig wurde.

>> Das erkläre ich dir wenn du wieder aufwachst.<< Clara fing Jessica auf, und ließ sie langsam zu Boden nieder.

 

Jessica erwachte im stockdunklen, auf einer harten Matratze und mit dröhnenden Kopfschmerzen. Sie brauchte einen Moment, bevor sie sich aufsetzte. Als sie sich aufsetzte, durchströmte gleißendes Licht den Raum. Jessica schrie auf und hob die Hände vors Gesicht. Sie ließ die Hände langsam sinken und schaute sich um. Sie fand sich in einer durchsichtigen Zelle wieder. Die Zelle bestand aus zentimeterdickem Glas. In der Zelle sah Jessica die Matratze auf der sie aufgewacht war, einen Metalleimer und ein Tablett auf dem eine Flasche mit Wasser, ein Teller mit Brot und eine Tasse mit Tee standen. Die Zelle stand inmitten eines Betonraums, an dessen Wänden all ihre Fotos hingen. Drei von vier Wänden waren übersät mit tausenden von Fotos. Auf der vierten Wand war ein helles undefinierbares Rechteck zu sehen was die ganze Wand ausfüllte und vor der Wand stand Clara und sang.

>> Schlaf mein kleines Mädchen und träume von Wundern, die geschehen, in einer Welt, die wir am Tage nicht sehen.<< Der Gesang bescherte Jessica eine Gänsehaut. >> Erinnerst du dich an das Lied Jessica? Erinnerst du dich an mich?<< Claras Stimme war aus dem Gesang in einen festen, ruhigen, leicht irren Ton umgeschwenkt.

>> Clara, lass mich hier raus! Was willst du von mir?<< Jessica schrie sie an.

>> Du nennst mich immer noch Clara, das ist schon fast süß. Du weißt immer noch nicht, wer ich bin oder?<< Clara kicherte, trat an die Scheibe und hauchte diese an. Die Scheibe beschlug. Clara setzte den Zeigefinger an und schrieb Buchstabe für Buchstabe E L L E N A an die Scheibe. Jessica riss die Augen auf >> Ellena? Du bist Ellena? Warum tust du das? Lass mich hier raus!!<< schrie Jessica, machte ein paar schnelle, stolpernde Schritte in Richtung der Scheibe, hinter welcher Ellena stand und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen.

>> Lass mich raaaaauuuussss!<< Jessica schrie und hämmerte auf die Scheibe ein. Sie heulte, Tränen liefen ihre Wangen herab, Rotz quoll ihr aus der Nase, lief ihr in den Mund. Speichel benetzte die Scheibe, Jessica schrie und hämmerte weiter auf die Scheibe ein, bis sich der Speichel mit dem Blut aus ihrer aufgeplatzten Haut an den Händen vermengte. Clara alias Ellena schaute sich das Schauspiel an, genoss es sogar und wartete darauf, dass Jessica ihre Kraft verließ. Als Jessica auf ihre Knie sank und nur noch weinte, sprach Ellena weiter.

>> Hör zu. Die Wände deiner Zelle sind jede fünfzehn Zentimeter dick, wenn ich das Mikrofon abstelle, hört dich außerhalb dieser Wände keiner mehr und wenn die Stromzufuhr abgestellt wird, dann wirst du auch ersticken.<< Ellena sprach mit einer analytischen, ruhigen aber nicht gefühllosen Stimme. Eher so als würde sie unterdrücken, dass sie Jessica eigentlich anschreien wollte.

>> Warum tust du das?<< brachte Jessica wimmernd, mit von Tränen und Rotz erstickter Stimmer hervor.

>> Ach Jessica. Schau dich um. Schau auf vierundzwanzig Jahre deines Lebens. Bitte entschuldige, deines wunderschönen Lebens. Natürlich waren es anfangs mehr Familienmitglieder als jetzt, doch trotz alldem war dein Leben sehr schön. Ach du schöne, erfolgreiche, von Daddy immer geliebte Jessica!<< das letzte Wort rutschte Ellena dann doch lauter und aggressiver heraus als gewollt. Ellena räusperte sich. >> Jessica, wer bin ich?<<

>> Du bist Ellena.<< antwortete Jessica verwirrt, verunsichert und verängstigt. Ellena fragte nochmal, diesmal etwas ruhiger aber dafür bedrohlicher als vorher.

>> Jessica… Wer bin ich?<<

>> Was möchtest du von mir Hören?<< Jessica schluchzte.>> Du bist Ellena, ein Mädchen, das ich als kleines Kind mal kannte.<< Jessicas Worte verloren sich immer mehr in ein Weinen.

>> Du hast nebenan gewohnt und musstest dann irgendwann weg ziehen weil du eine Lungenkrankheit hattest.<< Jessica konnte nur noch weinen. Die Situation und die Frage überforderten sie.

>> Das hat dir Daddy also erzählt.<< Ellenas Stimme klang nachdenklich. Nach einem kurzen Moment war sie aber wieder voll da und schien wütender zu sein.

>> Jessica, ich habe etwas vorbereitet. Schau auf die Wand hinter mir.<< Ellena hielt eine Fernbedienung in der Hand und drückte auf einen Knopf. Ein Bild von Jessica als Kind tauchte auf der leeren Wand auf.

>> Das bist du im Alter von drei Jahren.<< Ellena klang jetzt wie eine Lehrerin, die einen besonders dummen Schüler vor sich hatte. Sie drückte erneut auf den Knopf und das Bild wechselte. >> Das bin ich im Alter von drei Jahren. << ein Lächeln huschte über Ellenas Lippen. Ein erneuter Druck auf den Knopf und die beiden Bilder tauchten nebeneinander auf.

>> Fällt dir etwas auf Jessica?<<

>> Nein.<< antwortete Jessica, die jetzt erst merkte, dass sie aufgehört hatte zu weinen und feststellen musste, dass sie ein wenig fasziniert war und sie sogar die Neugierde gepackt hatte, was Ellena mit ihrem Vortrag bezwecken wollte.

>> Sehr gut Jessica. Du gibst ja endlich die Antworten die ich hören will.<< sagte Ellena erfreut. >> Okay. Weiter. Was siehst du hier?<< Ellena drückte wieder auf den Knopf und ein neues Bild erschien auf der Wand.

>> Meinen Vater.<< antwortete Jessica, schaute zu Ellena und sah wie sich ihr Gesicht kurz verfinsterte. >> Genau. Und jetzt setze ich dein Bild daneben. Was fällt dir auf?<< Ellena wirkte begeistert von ihrem Spiel, schaute weiter auf die Wand, während sie auf Jessicas Antwort wartete. >> Ich sehe meinem Vater ziemlich ähnlich. Ellena was soll das?<<

>> Pscht. Nicht unterbrechen.<< Ellena sah sie böse an, doch ihre Worte klangen ruhig, ja fast liebevoll. Als nächstes war auf der Wand ein Bild von Jessicas Mutter und von Ellena zu sehen. >> Jessica. Was fällt dir auf?<< Ein Grinsen machte sich auf Ellenas Gesicht breit.

Jessica schaute auf das Bild. Verglich die Bilder miteinander. Ihre Augen wurden größer, als sie die Ähnlichkeiten zwischen Ellena und ihrer Mutter bemerkte. Ellenas Grinsen wurde breiter, als sie das Entsetzen in Jessicas Gesicht sah. >> Also Jessica, was fällt dir auf?<< Ellenas Stimme hatte ein leichtes Säuseln angenommen.

>> Du siehst meiner Mutter sehr ähnlich.<< sagte Jessica mit zitternder Stimme.

>>Und woran könnte das liegen?<< fragte Ellena mit herausforderndem Blick.

>> Du bist meine Schwester…<< Jessica war fassungslos.

>> Richtig. Hundert Punkte für unsere Kandidatin. Und jetzt zeige ich dir noch etwas.<< Ellena erhob sich von dem Stuhl, auf den sie sich am Anfang ihres Vortrags gesetzt hatte und ging zu einem mit einem Tuch verhangenen Objekt.

>> Es gibt nämlich eine kleine Besonderheit. Schwesterherz.<< sagte sie während sie das Objekt in Richtung Jessica rollte. Ellena stellte das Objekt vor der Scheibe ab hinter der Jessica saß. >> Steh auf.<< befahl Ellena. Und nachdem Jessica aufgestanden war, zog Ellena das Tuch weg. Ein Ganzkörperspiegel wurde sichtbar. Jessica sah wie zerschunden sie aussah. Sie hatte Blut in den Haaren, eine Platzwunde an der rechten Seite ihrer Stirn und ihr Gesicht war verquollen vom Heulen. Auch ihre Kleidung war durchnässt von Schweiß, Blut, Tränen und Rotz. Ellena trat neben den Spiegel und Jessicas Aufmerksamkeit glitt von ihrem eigenen Spiegelbild wieder auf Ellena. >> Schau auf die Wand.<< sagt sie und drückte auf den Knopf der Fernbedienungen. >> Was fällt dir auf.<<

Zu sehen waren Ellena früher und Ellena heute. Unter dem Bild Ellena als Kind stand ELLENA unter dem Bild von Ellena heute stand CLARA. Die beiden sahen sich nicht annähernd ähnlich. Ellena hatte brünettes Haar und blau-graue Augen, so wie Jessica und ihr Vater sie hatten. Clara hingegen hatte blonde Haare und braune Augen. Außerdem war das Kinn von Clara breiter und die Wangenknochen lagen höher.

>> Du bist nicht Ellena?<< Jessica war verwirrt.

>> Aufgepasst Schwesterchen, jetzt kommt ein Zaubertrick.<< Clara zog sich eine blonde Perücke von Kopf unter welcher sich brünettes Haar verborgen hatte. Danach kratzte sie mit ihren Fingernägeln über ihren Hals und zog sich die Haut vom Gesicht. Jessica schrie auf. Doch es war kein Blut zu sehen und unter der Haut war eine zweite Haut versteckt.

>> Na, was sagst du? Ein toller Trick oder? Ach, das hätte ich beinahe vergessen.<< Clara, die jetzt nicht mehr wie Clara aus sah, griff sich erst in das rechte und dann in das linke Auge. Sie hielt zwei farbige Kontaktlinsen in der Hand und ihre Augen waren nicht mehr braun sondern blau-grau.

>> Wir sind nicht nur gewöhnliche Schwestern, Jessica. Wir sind…<<

>> Zwillinge!<< wurde sie, von Jessica unterbrochen. >> Aber wie kann das sein? Du sahst als Kind doch komplett anders aus als ich.<< Jessica hatte völlig vergessen, dass sie eingesperrt war. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte und war nur noch verwirrt.

>> Wir sind sogenannte halb identische Zwillinge. Ich bin mehr nach Mama geraten und du mehr nach Papa. Doch mit der Zeit, haben wir uns angeglichen und jetzt…<< Ellena lachte>>…sehe ich aus wie du.<<

Jessica verstand die Welt nicht mehr. Sie wollte Ellena berühren, wahrnehmen, dass sie echt ist. Sie ging auf Ellena zu. Streckte ihre Hand nach ihr aus und berührte die Scheibe, hinter der sie eingeschlossen war. Enttäuschen machte sich in ihr breit, dann kam die Wut dazu.

>> Warum tust du das alles?<< schrie sie Ellena an. >> Warum?<<

>> Weil du Schuld bist Jessica.<< Ellena zeigt auf die Wand hinter sich. Bilder von einem Autounfall waren zu sehen. Ein Film von einem Nachrichtenbericht lief auf der nackten Betonwand ab. Ein brennendes Auto, das sich überschlagen hatte, war zu sehen, ein schreiendes Kind war zu hören. In Jessica flammten die Erinnerungen wieder auf. Sie auf dem Rücksitz eines Autos, ihre Mutter auf dem Fahrersitz. Jessica war am Quengeln und am Schreien und ihre Mutter versuchte sie zu beruhigen, blickte immer wieder nach hinten, und kam von der Straße ab. Das Auto überschlug sich ein paarmal, bevor es auf der Seite zum Liegen kam und Feuer fing. >> Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt. Ich kann nichts dafür.<< Jessica weinte.

>> Halts Maul!<< platzte es aus Ellena hinaus. >> Du bist Schuld an allem! Am Tod unserer Mutter, daran, dass unser Vater mich dann weggegeben hat, an meinem scheiß Leben! An allem bist nur du Schuld!<< Ellena schrie mittlerweile und hatte nichts mehr von ihrer anfänglichen Ruhe.

>> Aber Ellena…<< wagte Jessica einen Versuch.

>> Nein! Nichts aber Ellena. Ich ging damals ins Heim, weil unser Vater mich nicht mehr haben wollte. Ich sah Mama einfach zu ähnlich. Dich hatte er sowieso immer viel lieber gehabt und jetzt hatte er auch endlich einen Grund mich loszuwerden. Ich wurde von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weiter gereicht, und eine war schlimmer als die andere. Ich wurde geschlagen, getreten, mit Zigaretten verbrannt und eingesperrt. Der letzte Pflegevater versuchte mich sogar zu vergewaltigen.<< Ellena musste schlucken bevor sie weiter sprach.>> Ich rannte weg. Habe beschlossen dich zu finden und dein Leben zu ruinieren wie du meins ruiniert hast. << Sie sprach mittlerweile wieder mit ruhigerer, aber Tränen unterdrückter Stimme.

>> Aber Ellena…<< brachte Jessica weinend hervor.

>> Ich habe doch gesagt Halts Maul!<< schrie Ellena und schlug mit der Faust von außen gegen die Scheibe. Jessica wich zurück.

>> Als ich gesehen habe wie ähnlich wir uns sehen,<< fuhr Ellena fort.>> habe ich beschlossen meinen Plan zu ändern. Ich werde nicht dein Leben nur ruinieren, nein…<< das nein brachte sie mit einem irren Lachen hervor>> sondern ich werde dein Leben übernehmen. Ich werde einfach du, und du wirst hier drin verrecken.<< Ellena lachte laut auf. Jessica war vollkommen entsetzt, wusste nicht was sie sagen sollte und saß einfach nur da. Inmitten ihrer durchsichtigen Zelle, welche nun ihr Grab werden sollte.

>> Du bist ja auf einmal so still.<< feixte Ellena.>> Kein aber Ellena mehr? Willst du mich denn gar nicht umstimmen oder überreden dich rauszulassen?<< Ellena ging in die Hocke und schaute Jessica lange an. Nach einer Zeit sagte Jessica>> Das wird nicht funktionieren.<<

>> Wie bitte?<< fragte Ellena harsch.

>> Das wird nicht Funktionieren. Du siehst mir nicht ähnlich genug.<<

>> Weißt du Jessica, die Angst hatte ich am Anfang auch. Doch dann habe ich Zeit mit dir und deinen sogenannten Freunden verbracht… und nicht einer von denen ist aufmerksam genug, um die kleinen, feinen Unterschiede zwischen uns zu erkennen.<<

Jessica wagte einen letzten verzweifelten Versuch.>> Wenn die Unterschiede klein und fein wären, aber die Unterschiede sind zu groß, als dass dein Plan funktionieren könnte.<<

Ellena lachte nur, erhob sich und sagte. >> Jessica. Du hast doch jetzt bestimmt genug Filme gesehen, in denen das Opfer immer versucht den Täter zu überreden. Hast du einmal gesehen, dass es funktioniert hat? Außerdem ist es hier genau andersrum. Ich habe den Täter endlich gefangen und das Opfer schafft es in die Freiheit. Jessica sieh es doch ein. Du bist Schuld am Tod unserer Mutter, an meinem Leid und dafür musst du bestraft werden.<< Ellena ging auf die Wand zu, auf die sie die Bilder projiziert hatte, drückte ein letztes Mal auf den Knopf in der Fernbedienung und ließ diese fallen. Ein weiterer Nachrichtenbericht wurde abgespielt. Der Bericht zeigte das brennende Haus ihrer Eltern und nach einem Schnitt, wie eine Leiche aus den abgebrannten Trümmern getragen wurde. Die Stimme des Nachrichtensprechers dröhnte in den Ohren von Jessica. “ Es wird vermutet, dass der zweiundfünfzig jährige Peter R. vergessen hat die Gasflasche seines Gasgrills abzudrehen, wodurch es zu einer Explosion kam. Peter R. verstarb an den Verletzungen.“

Jessica weinte, dann schrie sie vor Schmerz, vor Trauer um ihren Vater, vor Angst um sich selber. Ellena lächelte selbstzufrieden, den Rücken der Zelle zugewandt und eine Hand schon an der Türklinke. Sie legte die andere Hand auf den Lichtschalter und sagte. >> Jessica. Wie haben wir bei Feierabend im Café immer gesagt? Der Letzte macht das Licht aus.<< Ellena drückte auf den Lichtschalter, schloss die Tür hinter sich und ließ Jessica im Dunkeln zurück.

>> Ellenaaaa!!<< >> Ellenaaaa!<< schrie Jessica noch, während ihr langsam die Luft ausging.

>> Ellena.<<

6 thoughts on “Der Letzte macht das Licht aus.

  1. Hey Marcel,

    deine Kurzgeschichte ist mega gut geworden!!
    Ich habe jetzt schon einige Texte von diesem Projekt gelesen und dein Werk gefällt mir bisher mit am Besten 😉
    Den Titel hast du wirklich gut ausgewählt und das Spannende und die Neugier die du dadurch (bei mir) geweckt hast, ist wirklich bis zum letzten Satz geblieben. Dein Schreibstil gefällt mir sehr, denn es lässt sich sehr gut und “leicht” lesen (ich hoffe du weißt was ich meine).

    Viele Grüße und schreib’ weiter
    Sarah

    Vielleicht hast du ja auch Lust meine Geschichte zu lesen, kommentieren und/oder zu liken – sie heißt “Unschuldskind”.

  2. Lieber Marcel,

    dein Titel hat mich sehr angesprochen und deshalb habe ich auch deine Geschichte gelesen. Sie hat mir sehr gut gefallen! Der Plot und dein Schreibstil sind klasse. Ich fand es auch super, dass endlich mal jemand eine Lösung für das Face-Entsperren geliefert hat. 👍 Ich habe auch lange Zeit nicht gewusst, wer der Antagonist ist und was in der Vergangenheit geschah. Das hat die Spannung für mich sehr lange aufrecht erhalten. Den Schluss finde ich auch sehr gut gelöst. Alles in allen eine runde und stimmige Geschichte. Einziger Wermutstropfen: Mich hat es irritiert, welche Zeichen du alternativ für die Anführungszeichen gewählt hast. Daran musste ich mich erst ein wenig gewöhnen. Es hat am Anfang meinen Lesefluss etwas behindert.

    Natürlich bekommst du von mir für diese tolle Geschichte auch ein Like. Das hast du dir verdient! Ich drücke dir ganz fest die Daumen, dass du es ins eBook schaffst!

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du auch bei meiner Geschichte vorbeischauen würdest. 😊 Sie heißt „Stunde der Vergeltung“.
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stunde-der-vergeltung

    Liebe Grüße
    Angela

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