L. GroschDer letzte Tag

Die wütenden Schritte hallen durch die menschenleere Straße. Das Echo wird so laut von den Hauswänden der Wohnblocks zurückgeworfen, dass Edgar sich nochmals umdreht, um sicher zu gehen, dass er nicht verfolgt wird. Aber sobald er stehen bleibt, verstummen alle Geräusche um ihn herum. Die wenigen Straßenlaternen schaffen es nicht, alle Schatten zu verjagen. Doch der Vollmond scheint hell durch die zarten Schleierwolken hindurch, sodass er seine gesamte Umgebung wahrnehmen kann. Er ist allein.

Seine Hand führt den Zigarettenstummel zitternd an die von Trockenheit aufgeplatzten Lippen, die sich für den nächsten Zug zuspitzen und aus dem blassen, zusammengefallenen Gesicht hervorragen. So tief er nur kann, saugt Edgar den giftigen Rauch in sich hinein. Er spürt, wie seine Lungenflügel eingenebelt und die Wirkstoffe widerwillig von den Lungenbläschen aufgenommen werden.  Dann schließt er die Augen und hält die Luft an, so lange er kann. Enttäuscht bläst er den Qualm wieder aus und nimmt den nächsten Zug. Die beruhigende Wirkung, die er sich so sehr erhofft, bleibt jedoch aus.

Die Gedanken beginnen wieder in seinem Kopf zu kreisen. Wie konnte sein ganzes Leben an einem einzigen Tag in so viele kleine, scharfkantige Scherben zerspringen? Wie konnte der Mensch, dem er am meisten vertraute, ihn so hintergehen? Er will mit ihr durchbrennen, ausreißen, fliehen. Aber vorher müssen noch einige Sachen geklärt werden. Das weiß sie doch! Natürlich besteht diese Möglichkeit immer noch. Vielleicht kann gerade jetzt alles viel schadenfreier und schneller über die Bühne gehen. Aber kann er ihr jetzt noch vertrauen?

Gedankenversunken lässt Edgar seine Hände in den Taschen der schwarzen Lederjacke kreisen. Was nun zwischen seinen Fingern wieder Gestalt annimmt, realisiert er erst, als er es vor sich ins Mondeslicht hält. Ein kleines rotes Prepaidhandy. Erstaunlich, wie an einem so unscheinbaren Objekt ein ganzes Leben zerbrechen kann. Sein hochqualifizierter Job, seine Pseudo-Vaterschaft, seine große Liebe. Alles hängt am seidenen Faden. Wie könnte er das drohende Unheil noch abwenden? Seitdem er am Morgen dieses Teufelsding bekommen hat, hat er alles in seiner Macht Stehende versucht, um sein Leben zu retten. Es war nicht genug. Edgar zieht den ledernen Ärmel soweit es der Stoff ermöglicht nach oben, um auf seine sündhaft teure Brequet Marine zu schauen. Nur noch zwanzig Minuten und alles würde vorbei sein. Nein, noch zwanzig Minuten und der Alptraum würde beginnen.

Er hat keine andere Wahl, als sich zu beruhigen und sich mit seinem Schicksal abzufinden. Er muss ihr verzeihen. Sie ist jetzt wahrscheinlich das Einzige, was ihm geblieben ist. Außerdem hat er ihr noch nicht die Chance gegeben, sich zu rechtfertigen. Aber hat sie das verdient? Er muss es herausfinden.

Edgar geht weiter und biegt um die nächste Hausecke nach links. Unter der nächsten Laterne bleibt er stehen und wendet sich der Hauswand zu. Er nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und lässt sie zu Boden fallen. Ohne sie auszutreten, befördert er sie mit einem Tritt in den Busch. Es stört ihn nicht, dass es seit Tagen nicht geregnet hat. Sein Blick richtet sich nach oben. Immer noch leuchtet die Deckenlampe im Zimmer ganz rechts im zweiten Stock. Er weiß, dass es ihr Wohnzimmer ist. Sie muss immer noch dort sein. Doch es ist keine Bewegung zu sehen. Vermutlich sitzt sie jetzt weinend auf dem Sofa. Dieser Gedanke gefällt ihm.  Er atmet noch einmal tief durch und öffnet die Tür. Eine Flut warme, trockene Luft stößt im entgegen. Als Edgar im Treppenhaus verschwunden ist, kehrt die absolute Stille auf die Straße zurück.

Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend tragen ihn seine Beine nach oben. In seinem Kopf spielt er alle möglichen Szenarien durch, mit denen er gleich konfrontiert werden könnte. Er ist ein Mann, der die Zügel immer fest in der Hand hält. Und er hat nicht vor, dies heute Abend zu ändern. Wenn er gleich die Tür öffnet, kommt sie ihm vermutlich mit tränenüberströmten Gesicht entgegen, nach Worten der Entschuldigung ringend, denkt er. Dann könnte er sich großzügig geben und ihr unter einigen Bedingungen verzeihen. Dann wäre er der Größte und könnte ihren Fehler noch oft zu seinen Gunsten ausspielen. Gleich heute Abend würde er sich von ihr verwöhnen lassen. Edgar ist geübt darin, aus jeder Situation das Beste für sich herauszuholen.

Den Rest muss er vergessen, sein altes Leben hinter sich lassen. Sein Familienleben und seinen Job würde er vermutlich verlieren. Trotzdem wäre da noch das Problem mit dem Geld. Bei diesen Gedanken schaut er wieder auf seine Uhr: Viertel vor Acht. Noch fünfzehn Minuten und sein gesamtes Leben würde sich ändern.

Mittlerweile ist Edgar vor der Wohnungstür angelangt. Er fährt sich durch die gegelten Haare und atmet tief ein und wieder aus. Dann sucht er den Schlüssel in der Jackentasche. Ein kurzer Anflug der Angst fährt durch seinen Körper, als er das Handy zu fassen bekommt und sofort wieder loslässt. Es wird alles gut. Er schiebt den Schlüssel ins Schloss und öffnet die Tür. Er streckt die Brust heraus und hebt den Kopf. Edgar ist bereit, als großer ehrwürdiger Herr der Vergebung aufzutreten.

„Ich bin wieder da“, ruft er in den leeren Flur, seinen Enthusiasmus unterdrückend. Es kommt keine Antwort. Er schärft sein Gehör, aber kein einziger Ton ist aus dem Wohnzimmer wahrzunehmen. Kein Weinen, kein Winseln, kein Jammern. Mit großen Schritten geht er auf das Zimmer zu, ohne sich die Schuhe auszuziehen. Er blickt zur Couch, aber niemand ist zu sehen. Niemand sitzt dort weinend und ihn mit flehenden Augen anschauend. Erst beim zweiten Mal fällt ihm auf, dass dort etwas vor dem Tisch liegt. Die Angst packt ihn jetzt wieder mit voller Gewalt. Ein Schauer fährt ihm den Rücken hinunter und alle Gesichtszüge entgleiten dem sonst so kontrollierten Anwalt. Die Schlüssel fallen auf dem Boden. Die selbstbewusste Brust sinkt zurück unter den entsetzten Kopf. Sein Hirn ist wie leergefegt. Er hat die Zügel aus der Hand gegeben.

Plötzlich dringt das Ticken der großen Wanduhr in sein Bewusstsein und er blickt auf die Zeiger. Es dauert eine Weile, bis er sie zu deuten weiß. In zehn Minuten würde das Leben von Edgar Henrichs zerstört sein. Daran gibt es jetzt keinen Zweifel mehr.

Langsam löst sich Edgar aus seiner Starre. Er muss handeln. Schnell greift er zum Hörer des Haustelefons, der auf dem Tisch liegt. Da sieht er die ersten Blutspritzer an der Tischkante. Hastig tippen seine Finger drei Zahlen ein und drücken dann auf die Ruftaste. Er hält sich das Telefon ans Ohr, geht auf die Couch zu und kniet sich nieder.

„Notruf Leitzentrale, wie können wir Ihnen helfen?“, ertönt die nüchterne Stimme einer Frau aus dem Hörer.

Edgar weiß nicht, was er sagen soll. Zum ersten Mal in seinem Leben ist er sprachlos. Er hält nur den Hörer weiter ans Ohr. Die andere Hand fährt ihr über die Wange, schiebt vorsichtig ihre langen blonden Haare aus dem bezaubernden Gesicht und streichelt es sanft. Als sein kleiner Finger das warme Blut an der klaffenden Kopfwunde berührt, hört er wieder die Stimme der Frau: „Hallo? Hier ist die Notruf Leitzentrale. Wie können wir Ihnen helfen?“

„Meine Frau. Sie liegt hier vor mir“, antwortet Edgar und legt ihr dabei zwei Finger an den Hals.

„Sie atmet nicht, aber…“ Da stoppt Edgar. Ihm bleibt einfach die Luft weg. Er versucht, etwas zu sagen, aber die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Er spürt, wie sich seine Lippen bewegen, aber hört seine Stimme nicht.

Sie hat keinen Puls mehr, hallen die Wörter in seinem leeren Kopf nach. Er beendet den Anruf und schiebt das Telefon zurück auf den Tisch.

Sie ist tot.

Nun gibt es keine Hoffnungen mehr für ihn. Oder jetzt erst recht? Sie kann nun nicht mehr 20 Uhr aktiv werden. Vielleicht würde er so wenigstens sein Pseudo-Leben und seinen Job behalten können. Aber was macht er sich eigentlich vor? Sie hätte diese ganze Aktion unmöglich allein durchführen können. Das war technisch auch gar nicht möglich. Ihr Handlanger würde Punkt 20 Uhr die Dateien an alle schicken, außer er würde vorher etwas anderes von ihr hören. Und das ist nun nicht mehr möglich. Sie liegt mausetot zu seinen Füßen.

Edgar würde in fünf Minuten alles verlieren. Jetzt hat er nicht einmal mehr sie. Er müsste nun mit sich selbst und seiner Schuld klarkommen. Schließlich ist er für ihren Tod verantwortlich. Dieser Gedanke gefällt ihm gar nicht. Sie ganz allein hat doch dafür gesorgt, dass es nun so endet! Sie ganz allein hat ihre Liebe weggeworfen, nur weil sie nicht mehr warten konnte! Wie konnte sie ihn so hintergehen? Eigentlich hat sie genau das verdient. Aber wie kann er sich selbst jetzt noch irgendwie retten?

Denk‘ nach!, fordert er sich selbst auf, aber in seinem Kopf nimmt kein klarer Gedanke mehr Gestalt an. Sein ausgelaugter Körper sinkt auf dem Sofa zusammen. Was hat sie mit diesem Fotohandy nur angerichtet?

Er holt es aus der Jackentasche und wirft es so weit von sich weg, wie nur möglich. Es springt von der Wand auf dem Boden, geht jedoch nicht kaputt. Teufelsding!

Hätte er heute Mittag gewusst, dass es schon den ganzen Morgen im Briefkasten lag, hätte er wohl nie hineingeschaut und wäre von der Arbeit direkt ins Bett gefallen. Als er seinen Wagen vor einigen Stunden vor seiner Garage parkte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Die ganze Nacht war er in der Kanzlei gewesen. Der große Chemiekonzern, den er vertrat, hatte sich die nächste Klage eingefangen. Erst vor wenigen Wochen konnte Edgar den kräftezehrenden Prozess gegen die Naturschutzorganisation, die behauptet hatte, die Abfälle der Firma würden den Boden und das Abwasser verseuchen, für sich gewinnen. Viel juristischer Aufwand und einiges an Schmiergeld waren notwendig, damit der Großkonzern seine Arbeit unbeschwert weiterführen konnte. Nun haben diese Ökos etwas Neues gefunden, um das Leben der Chemiefabrik und vor allem ihres Anwalts schwer zu machen. Durch den von ihnen erzwungenen Rodungsstopp stand die geplante Erweiterung der Lagerhallen erst einmal still. Dreiundzwanzig geschützte Insekten- und zwei bedrohte Froscharten, die angeblich in besagtem Wald leben sollen, sind von den selbsterklärten Naturhütern protokolliert worden. Doch die Papiere sind sehr leicht anzuzweifeln und Edgar wäre sich seines Sieges schon sicher, hätte die Seite der Kläger nicht einen neuen Anwalt mit ins Boot geholt: Peter Klausen, den besten Anwalt des Bundeslandes (nach Edgar Henrichs) und ausgerechnet Edgars bester Freund. Die ganze Nacht saß Edgar im Büro und hatte die Verteidigung aufgebaut. Jetzt wollte er nur noch schlafen.

Er öffnete die Wagentür, schüttelte die Brotkrümel von seiner schwarzen Lederjacke und klemmte sich den Aktenkoffer unter den Arm. Auf dem Weg ins Haus hielt er am Briefkasten an. Er zog einen weißen, dickbäuchigen Umschlag heraus, auf dem nur ein Wort in Großbuchstaben stand: EDGAR. Es war auch keine Briefmarke oder Poststempel darauf. Obwohl er genau wusste, dass das Päckchen vermutlich schon die gesamte Nacht dort lag, schaute er sich automatisch um, um den heimlichen Boten vielleicht zu erblicken. Nichts Verdächtiges zu sehen.

Jetzt, da er 19:57 Uhr auf der Couch sitzt, weiß er, dass die Botin tot neben ihm liegt.

Edgar steckte den Umschlag unter den anderen Arm und ging zur Tür hinein. Sein erster Blick fiel auf den pubertierenden Jungen, der mit dem Spielecontroller in der Hand auf der Couch saß.

„Hallo! Ich bin wieder zu Hause“, sagte er zu Tino, aber so laut, dass man es auch in der Küche hören konnte.

„Hallo“, bekam er als nüchterne Antwort von Tino.

„Hey, wo ist denn Mama?“

„Weiß ich doch nicht, Edgar. Du siehst doch, dass ich zocke.“

Damit war das Gespräch beendet. Er fand es immer noch befremdlich, dass Tino ihn Edgar nannte. Wenn er mit seiner Mutter über ihn sprach, nannte er ihn manchmal sogar nur „der Mann“. Die Hoffnung, ein „Papa“ oder wenigstens „Vater“ zu hören, hatte er schon längst aufgegeben. Seit der Hochzeit vor drei Jahren wohnte Edgar nun schon bei Tino und seiner Mutter, aber er würde immer die Rolle des ungeliebten Stiefvaters behalten. Für Tino war er schuld, dass sein leiblicher Vater nicht mehr bei ihnen wohnte, aber Katharina hatte sich nun mal für den besseren Edgar entschieden. Der Anwalt fuhr sich durch die gegelten Haare.

In der Küche begrüßte ihn Katharina mit einem Lächeln. Ihre langen blonden Haare wellten sich perfekt um ihr sanftes Gesicht herum und ihre Augen funkelten in der Morgensonne.

„Hallo Liebling. Endlich bist du wieder zuhause! Du musst ja fix und fertig sein!“

„Ja, todmüde Schatz“, antwortete Edgar und gab ihr einen liebevollen, aber unleidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.

„Kannst du mir bitte mal kurz helfen? Nur einen ganz kleinen Augenblick.“

„Ich brauche jetzt echt meinen Schlaf. Tut mir leid, aber ich bin in vier, fünf Stunden wieder wach. Wäre toll, wenn ihr nicht so laut machen würdet“, begegnete er und schlurfte ins Schlafzimmer.

„Okay, Liebling. Wir sind ganz leise!“, sagte Katharina mit einem viel zu sanften Gemüt.

Edgar schloss die Schlafzimmertür hinter sich und warf alle Sachen, die er bei sich trug, auf das Bett. Erst jetzt wurde er sich dem Paket wieder bewusst. Es lag unschuldig neben seinem Aktenkoffer und präsentierte seine aufdringliche Aufschrift: EDGAR. Noch bevor er seine Lederjacke auszog, nahm er auf dem Bett Platz. Er griff nach dem ominösen Paket und riss es mit seinen schmalen Fingern auf. Dies war der Moment, an dem sich sein ganzes Leben ändern sollte. Nichts würde mehr so sein, wie es mal war. Das Handy, das zum Vorschein kam, war der Beginn eines langen Tages, an dessen Ende Edgar Henrichs das erste Mal die Kontrolle über sein Leben verlieren sollte.

Seine verwirrten Blicke trafen fragend das Prepaidtelefon, das ihm jedoch auch bei genauerer Betrachtung keine Antworten gab. Wo kommt es her? Wem gehört es? Was soll er damit? Fragen, die beantwortet werden mussten.

Zuerst suchte Edgar den Powerknopf. Als er ihn betätigte, erhellte sich das Display und zeigte einen langweiligen blauen Hintergrund mit Kreisen. Sollten das Blasen sein? Die Qualität des mickrigen Bildschirms konnte keinen Aufschluss darüber geben. Doch im Vordergrund machten vier schwarze Kästchen den nächsten Schritt deutlich. Nun musste er nur noch die PIN wissen. Noch war er sich der Bedeutung des Telefons nicht bewusst, sodass er einfach seiner ersten Intuition folgte und viermal die Null eingab. Nachdem er seine Eingabe bestätigte, ärgerte er sich. Es blieben ihm nur noch zwei Versuche. Raten ist nicht zielführend. Jedes Rätsel kann logisch gelöst werden.

Edgar lies das Handy noch einmal in seiner Hand kreisen. Nichts. Anschließend nahm er den Umschlag in die Hand. Außen war nur der Name des Adressaten zu sehen: EDGAR. Doch auf der Innenseite des so reinen, weißen Papiers waren noch Zeichen. Er betrachtete es genauer und stellte fest, dass es tatsächlich Schrift war. Nur eine Frage, geschrieben in großen Druckbuchstaben. Nein, es waren eigentlich nur zwei Wörter und ein Fragezeichen: IHR GEBURTSDATUM?

Wessen Geburtsdatum? War er selbst damit gemeint? Siezte ihn der Absender? Oder sollte es das Geburtsdatum einer Frau sein? Die ersten vier Ziffern, die er eintippte, waren wieder falsch. Ein letzter Versuch. Edgar füllte die Kästchen erneut mit vier Ziffern, dachte noch einmal gründlich nach, wägte seine Möglichkeiten ab und bestätigte die Eingabe. Ein neuer Bildschirm zeigte sich. Nun waren auf der leeren Startseite eindeutig Blasen im Hintergrund zu erkennen. Das Handy war entsperrt. Nun wusste er, dass etwas nicht stimmte. Sein Puls beschleunigte sich und die Müdigkeit war verflogen.

Die eingegebenen Ziffern entsprachen dem Geburtsdatum der Frau, die nun tot vor ihm liegt. Er sitzt auf ihrer grauen Couch. Es ist 19:58 Uhr und genau vor fünf Stunden und sechsundvierzig Minuten begann der Albtraum mit dem Entsperren des Handys. Von diesem Zeitpunkt an wusste er, dass dieser Tag kein normaler werden würde.

Edgar saß in Gedanken wieder auf dem Bett seines Einfamilienhauses, ein kleines rotes Handy in der Hand. Er drückte eine der sechs Tasten oberhalb des Zahlenfeldes und das Menü erschien: Mitteilungen – Galerie – Kontakte – Einstellungen. Er wollte herausfinden, wem dieses Telefon gehörte und nahm die Kontakte in Augenschein. Die Liste war leer. Er navigierte zurück und wählte Mitteilungen aus. In diesem Ordner gab es nur eine Nachricht einer unbekannten Nummer. Er hielt die Luft an und betrachtete ungläubig die vor ihm erscheinenden Worte:

 

EDGAR,

Du wirst nicht länger dein widerwärtiges Geheimnis für dich behalten und alle Menschen um dich herum anlügen. Es ist Zeit die Wahrheit zu sagen. Ich gebe dir die Möglichkeit, dies selbst zu tun, auch wenn du diese gar nicht verdient hast. Wenn du es bis 20 Uhr nicht geschafft hast, mit dem Lügen aufzuhören, werden die Bilder an alle geschickt, die dich kennen. Und du wirst alles verlieren.

 

Edgars Herz pochte mit ungewöhnlich hoher Frequenz. Und trotzdem erhöhte sich sein Puls weiter, als er die Galerie öffnete. Auf fast jedem Bild sah er sich selbst, im Restaurant, im Park, vor der großen Kirche, vor ihrem Haus. Jedes Foto hatte einen Zeit- und Datumsstempel. Und daran konnte festgestellt werden, dass er sich zu den Zeiten, an denen die Bilder geschossen wurden, eigentlich in einem wichtigen Meeting hätte aufhalten müssen. Doch dort war er eindeutig nicht. Jeder, der die Fotos sieht, würde wissen, dass er gelogen hatte. Er würde sich erklären müssen und sein dunkles Geheimnis unweigerlich preisgeben müssen.

Sofort schaltete sein Gehirn in den Anwaltsmodus. Wie muss er nun vorgehen? Wie kann er verhindern, dass sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gerät? Das einzig Logische, dass er nun machen konnte, war es, den Boten des Pakets ausfindig zu machen und daran zu hindern, die Dateien zu verschicken. Aber wer würde ihm damit drohen? Wer könnte die Fotos geschossen haben? Und die wichtigste Frage war: Wer konnte davon profitieren? Verschiedene Szenarien zogen an seinem geistigen Auge vorbei. Natürlich würde es vor allem seine Frau betreffen, wenn das Geheimnis gelüftet werden würde. Aber sie hätte ihn wohl direkt damit konfrontiert und keine Spielchen gespielt, dachte er in diesem Augenblick. Aber wer würde noch in Frage kommen? Jemand aus der Kanzlei. Er hatte dort stets Feinde, da er die größten Fälle bearbeitete und somit auch viele einflussreiche Personen gegen sich aufbrachte. Aber er konnte sich nur schwer vorstellen, dass ein Ober-Öko ihm persönlich drohen würde und sonst wäre da auf der Klägerseite nur… Sein Gedankenzug legte eine Vollbremsung hin.

Edgar steckte den Briefumschlag in die Jackentasche. Das Handy verschwand in der Hose. Da öffnete sich vorsichtig die Schlafzimmertür. Katharina schaute zaghaft durch den kleinen Türspalt hinein.

„Ich habe dich hier herumpoltern hören. Kannst du nicht schlafen?“

„Ich muss nochmal los. Ich muss noch etwas erledigen!“

Katharina sah die Ecke eines weißen Briefumschlags in seiner Jackentasche und reagierte sofort: „Du hast den Brief also schon aufgemacht? Ich weiß, es stand dein Name drauf, aber ich habe auch schon hineingesehen. Ich wollte…“

„Du hast schon hineingesehen? Weißt du, von wem er ist?“, unterbrach Edgar seine Frau erschrocken.

Katharina schaute ihn verwundert an.

„Er ist natürlich von der Schule. Ich weiß, dass es schrecklich ist, dass Tino in letzter Zeit so oft geschwänzt hat, aber bitte versprich mir, dass du nicht zu hart zu ihm bist!“

Es brauchte seine Zeit, bis Edgar verstand, was er gehört hatte. Sie wusste also nichts. Dennoch nutzte er ihr Missverständnis als Vorwand aus.

„Ja, ich werde erstmal mit der Schule sprechen. Ich fahre am besten direkt hin“, erklärte Edgar energisch und stürmte aus dem Zimmer.

„Aber es ist Samstag. Die Schule hat doch zu!“, rief Katharina ihm hinterher.

Edgar tat so, als hätte er diese Worte nicht gehört und ließ Katharina in Unwissenheit zurück. Hätte er gewusst, dass dies der letzte Moment war, in dem er seiner Frau in die liebenden Augen hätte blicken können, ohne dass sie ihn für einen widerwärtigen Menschen halten würde, hätte er sich wohl liebevoller von ihr verabschiedet.

Edgar startete unverzüglich den Wagen und raste los. Es war zwar Samstag, aber er würde Peter sicherlich dennoch in der Kanzlei antreffen. Vor allem, wenn er gerade damit beschäftigt war, das Leben des Anwalts der Verteidigung zu zerstören. Dabei war er doch Edgars Freund, aber deshalb auch der einzige Mensch auf diesem Planeten, der als Außenstehender von seinem Geheimnis wusste. Würde er ihn so rücksichtslos hintergehen? Edgar hielt diesen Gedanken nicht für abwegig. Peter hatte schon lange nicht mehr so einen großen Fall an der Angel. Und er wusste bestimmt genauso gut, dass die Chancen, diesen zu gewinnen, für ihn gerade nicht gut standen. Und ein kaltschnäuziger Anwalt wie er, würde alle Register ziehen, um Erfolg zu haben und dabei auch keine Rücksicht auf seine Freunde nehmen. Wenn er es schaffen würde, dass Edgar den Fall verliert, hätte der Chemiekonzern schlechte Karten. Und das war wahrscheinlich, wenn Edgars Geheimnis an die Öffentlichkeit gelangen würde. Sein gewissenhafter Chef würde ihn auf der Stelle entlassen, zumal es sein Schwiegervater war. Im Nachhinein schämt sich Edgar fast schon dafür, seinen besten Freund verdächtigt zu haben. Aber in diesem Moment, wusste er noch nicht, was er übersehen hatte.

Er fuhr mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Stadt und konzentrierte sich nur auf das klärende Gespräch mit Peter. In seinem Kopf legte er sich die Worte genau zu Recht. Er müsste Peter überrennen, mit Beweisen überfluten und ihn so zum Reden bringen. Das war die einzige Chance ihn zu brechen.

Der Wagen kam mit quietschenden Reifen vor der Hullman Kanzlei zum Stehen. Edgar holte das Handy aus der Tasche und bereitete alles vor. Dann lief er die Treppen empor in das Gebäude und fegte wie ein unaufhaltsamer Tornado durch das Foyer an der Sekretärin vorbei, ohne die verwunderte Dame eines Blickes zu würdigen. Edgar verzichtete darauf, anzuklopfen und schlug mit unglaublicher Wucht die Tür zum Büro von Herrn Klausen auf. Er stürmte mit herausgestreckter Brust auf den schmächtigen, kahlköpfigen Mann hinter dem Schreibtisch zu und kam kurz vor der Tischkante abrupt zum Stehen. Edgar fuhr sich durch die gegelten Haare und begann seine Klageschrift aufzusagen:

„Du mieses Dreckschwein hast wohl gedacht, du kannst mich übers Ohr hauen? Denkst du, ich bin komplett blöd? Ich weiß genau, was du vorhast. Ich lass mich doch nicht erpressen! So wirst du den Fall auch nicht gewinnen! Sag mir sofort, wo du die Bilder hast oder du wirst den nächsten Morgen nicht mehr erleben!“

Peter war sichtlich mit der Situation überfordert und zunächst sprachlos. Hunderte von Fragen schienen durch seinen Kopf zu fliegen und schließlich gelang es ihm, eine davon zu Worten zu formen: „Was denn für Bilder?“

Edgar verlor die Geduld, ging um den Schreibtisch herum und packte Peter, der mindestens einen Kopf kleiner war, am Anzugskragen.

„Du weißt genau welche Bilder. Die hier!“, rief Edgar und hielt seinem Wutopfer mit der anderen Hand das Handy vor die Nase.

„Die hast du doch gemacht! Du warst der Einzige, dem ich davon erzählt habe. Das hast du dir ganz schlecht überlegt. Da hast du dich mit dem Falschen angelegt!“

Edgar drückte ihn jetzt fest an die Wand und klickte dabei von einem Bild zum nächsten.

„Du bist doch verrückt geworden. Das würde ich niemals tun! Du bist doch mein Freund!“

„Ha, Freundschaft. Das hast du dir so gedacht, du Verräter! Du…“

„Aber wie soll ich denn das Bild da gemacht haben?“, unterbrach Peter ihn plötzlich und nickte in Richtung des Handys.

Edgar drehte den Bildschirm zu sich, um das Foto selbst zu betrachten und lockerte dabei den Griff. Er verstand sofort, was Peter meinte. Auf dem Bild war Edgar selbst zu sehen. Er blickte in die Kamera und lächelte anzüglich. Dabei war er jedoch komplett nackt und lag auf einer grauen Couch. Nur ein kleines Dekorkissen verdeckte seinen Intimbereich.

Auf genau derselben Couch sitzt Edgar in diesem Augenblick und schaut auf die Uhr. Es ist nun eine Minute vor 20 Uhr. Sein Blick schweift hinüber zu dem roten Handy, das mit dem Display nach unten auf dem Boden liegt. Dann folgt er den dreckigen Fußabdrücken, die er auf dem weißen Samtteppich hinterlassen hat, bis diese auf den mit Blut vollgesogenen Fasern verschwinden. Da liegt sie. Die Frau, die er über alles liebt und abgrundtief hasst.

Es war wie eine Metamorphose, als ihn die Wahrheit mit voller Wucht traf. Edgar sah die roten Abdrücke an Peters Hals, als dieser sich mit verzogenem Gesicht aus Edgars Griff befreite.

„Wie soll ich dieses Bild denn gemacht haben? Ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn du nackt vor mir gelegen hättest.“

Ohne ein Wort der Entschuldigung verließ Edgar das Büro und stürmte wieder durch das Foyer. So schnell, wie er gekommen war, saß er nun wieder im Auto. Wie hatte er dieses Bild übersehen können? Es war doch glasklar! Das Bild hatte sie gemacht, allerdings mit seinem Handy. Deshalb hatte er es ihr per Mail geschickt, damit sie es sich immer anschauen konnte, wenn sie die Sehnsucht nach ihm und seinem Körper packte. Und nun war die Sehnsucht zu groß geworden und sie wollte ihn komplett für sich allein haben. Kein zeitraubender Job, kein nerviger pubertierender Junge. Nur Sie und Er. Im Grunde genommen wollte er das Gleiche, aber nicht so. Nicht auf einem so radikalen Weg. Was würden die Leute von ihm denken? Edgar Henrichs agiert nicht unüberlegt und gibt nur das preis, was andere über ihn wissen sollen. Er musste das Verschicken der Dateien verhindern. Wenn sie das nicht verstehen konnte, war sie es nicht wert.

Als er den Wagen einparkte und durch die Autoscheibe oben im zweiten Stock ganz rechts das Licht brennen sah, wusste er noch nicht, dass es bereits keine Hoffnung mehr gab, sein Geheimnis und sein Leben zu bewahren.

Dieses Mal wollte er keinen Fehler begehen. Er nahm das Handy noch einmal aus der Tasche und betrachtete alle Bilder. Auf fast allen Fotos sah er sich selbst, im Restaurant, im Park, vor der großen Kirche, vor ihrem Haus. Und an seiner Seite stand eine Frau. Sie hatte lange gewellte, blonde Haare, die sanft ihr makelloses Gesicht umspielten. Aber es waren die strahlend blauen Augen, in die er sich zuerst verliebt hatte. Auf einigen Bildern erzählten sie miteinander, umarmten oder küssten sich. Auf anderen Bildern war sie allein zu sehen. Zum Beispiel im Bikini am Strand des Baggersees, an den er mit ihr gefahren war, als Edgar seiner Frau eigentlich gesagt hatte, er hätte den gesamten Tag über ein Meeting mit einem äußerst wichtigen Mandanten. Sie war so schön! Sie sah seiner Frau Katharina sehr ähnlich, war jedoch einige Jahre jünger, schlanker und hatte eine größere Oberweite. Auf dem letzten Foto schaute er sich selbst an, wie er anzüglich lächelnd und nackt auf der grauen Couch lag. Das Bild hatte nur Tini von ihm erhalten. Sie musste das alles inszeniert haben. Schon seit langer Zeit hat sie Edgar darum gebeten, sich endlich von seiner Frau zu trennen und mit ihr durchzubrennen. Er hat sie immer wieder gebeten, geduldig zu sein. Er musste auf den richtigen Moment warten. Irgendwann würde Katharina sich einen Fehltritt leisten und dann hätte er sich von ihr trennen müssen. Sie wäre der Auslöser gewesen und er hätte sein Gesicht gewahrt. Wäre seine Affäre jedoch der Grund für die Scheidung gewesen, würde er alles Hab und Gut verlieren. Der Ehevertrag, den er als naiver Frischverliebter aufgesetzt hat, besaß eine entsprechende Klausel. Nun wollte Tini die Scharade ein für alle Mal beenden. Das hatte sie sich nicht gut überlegt. Edgar würde nicht so mit sich spielen lassen.

Er ließ das Handy angeschaltet und behielt es in der Hand, als er die Treppe nach oben lief. Er schloss die Tür auf, ohne zu klingeln. Edgar fuhr sich mit der Hand durch die gegelten Haare und ging mit großen Schritten in das Wohnzimmer. Tini blickte mit ihren bezaubernden Augen zu ihm herüber.

„Oh, was für eine freudige Überraschung! Na du Hübscher?“

„Hör auf mit deinen Spielchen! Lösche sofort diese Bilder! Wenn du sie irgendjemandem schickst, wirst du es bereuen! Hier! Ich hab‘ dein schönes Handy gefunden. Was ganz Lustiges hast du dir da ausgedacht!“, warf Edgar ihr an den Kopf. Die Worte hallten lautstark in der Wohnung nach.

„Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst! Warum bist du denn so böse?“, entgegnete Tini, ging auf Edgar zu und legte ihren Handrücken an seine Wange.

Edgar zog seinen Kopf weg und schlug ihr mit flacher Hand ins Gesicht. Er konnte seine Wut nicht mehr zurückhalten, aber er musste verhindern, in einen Rausch zu verfallen, um keine Fehler zu machen. Er holte das Handy hervor und hielt es ihr entgegen.

„Schau gefälligst hin! Hier die ganzen Bilder hat dein Papparazzi von uns gemacht! Und hier, das Bild von mir!“

„Welcher Papparazzi denn? Aber das letzte Bild, das hast du doch nur mir geschickt!“

„Bemerkst du jetzt erst den Fehler, den du gemacht hast? Dein Plan hätte ja so schön aufgehen können. Meine Frau hätte mich verlassen, mir wäre gekündigt worden und du hättest mich ganz für dich allein haben können. Aber so lasse ich mich nicht hintergehen. Du bist für mich gestorben, wenn du diese Fotos nicht sofort löschst!“, Edgar schrie ihr jetzt mit voller Kraft ins Gesicht.

Er hatte sie an beiden Schultern gepackt und schüttelte sie durch. Er sah die Angst in ihren Augen. Es war Todesangst, wie man sie erlebt, wenn ein Geisteskranker ins Haus gestürmt kommt. Er dachte aber, es war die Angst davor, ihn zu verlieren. Genau das wollte er erreichen. Jetzt müsste er sie nur ihrem schlechten Gewissen überlassen und sie würde von ganz allein zu ihm zurück gekrochen kommen. Er müsste sie nur zurücklassen, raus gehen und ihr sagen, dass er sich abreagieren und nachdenken müsse. Das Blut kochte noch in seinen Adern. Edgar schüttelte die zarte Frau noch einmal durch und stieß sie von sich, während er sich zur Tür umdrehte. Er schrie: „Ich muss raus hier! Ich brauche frische Luft!“ Und hörte gar nicht, wie Tini mit dem Kopf auf dem Tisch aufschlug. Während er die Treppe hinunter ging und sich die Zigarette anzündete, lag sie mit einer klaffenden Kopfwunde auf dem weißen Samtteppich. Er wollte sie nicht umbringen. Er wollte ihr doch nur etwas Angst machen. Aber er hat die Kontrolle verloren.

Jetzt ist es zu spät. Die Wanduhr schlägt zur vollen Stunde. Punkt 20 Uhr. Das Warten auf das unvermeidbare Unheil ist unerträglich für Edgar. Wie würde es jetzt weitergehen? In diesem Moment schaut jeder, den er kennt, auf Bilder, die ihn und seine Affäre in den intimsten Momenten zeigen. Er würde alles verlieren.

Plötzlich klingelt das rote Handy. Die volle Verwunderung ins Gesicht geschrieben erhebt sich Edgar und nimmt das Handy wieder auf. Unbekannte Nummer. Er nimmt das Gespräch entgegen und wartet auf die ersten Worte. Eine männliche Stimme ertönt:

„Es ist zu spät. Alle haben die Bilder mit dir und dieser Schlampe bekommen. Mama, Opa, Peter. Alle wissen sie, was für ein Arschloch du bist. Ich hätte aber nicht gedacht, dass du so feige bist und es ihnen nicht einmal selbst sagen kannst, Edgar.“

Eine unglaubliche Gefühlsflut verschluckt Edgar. Er droht zu ersticken. Er blickt hinab zu Tini und eine Träne bahnt sich ihren Weg aus seinem Tränensack.

„Wieso?“, haucht er zu sich selbst.

„Wieso? Du betrügst meine Mutter mit so einem billigen Flittchen und fragst, wieso mich das stört.  Du bist das Allerletzte!“

Edgar weiß, dass er verloren hat. Er hat die härtesten Fälle vor Gericht gewonnen und verliert gegen einen pubertierenden, vorlauten Jungen und das im wichtigsten Fall: seinem Leben.

„Wie hast du es herausgefunden?“

„Wie dumm bist du eigentlich? Wenn man seine Frau betrügt, schickt man ihrem Sohn doch kein Nacktbild von sich in einer fremden Wohnung und schreibt drunter ‚Damit du immer an mich denken kannst, TinchenMaus‘.“

Diese Worte treffen Edgar wie der Blitz. Es fällt ihm wieder ein. An dem Abend, als sie das Foto von ihm auf der grauen Couch schoss, kam er erst spät nach Hause. Er hätte mit dem Verschicken bis zum nächsten Morgen warten sollen, wenn er wieder auf Arbeit war. Dann hätte er es nicht völlig übermüdet heimlich im Bad an die falsche E-Mail-Adresse geschickt. Er hatte vergessen, die Autokorrektur rückgängig zu machen. Zum Glück war es ihm jedoch sofort aufgefallen. Er ist sich sicher, dass die Nachricht ungelesen war, als er sie von Tinos Rechner löschte. Er hatte sie sogar aus dem Papierkorb entfernt!

„Ich hab‘ die Nachricht gelöscht!“

„Also warst du doch an meinem Rechner. Ich wusste es! Zu deinem Pech habe ich noch einen zweiten E-Mail-Account mit Nachrichtenweiterleitung! Ich habe ja zuerst nicht gedacht, dass du wirklich so hinterhältig bist, aber dann bin ich dir gefolgt. Du und Mama dachten, dass ich in der Schule wäre, aber ich bin dir hinterhergegangen und hab‘ dich mit ihr gesehen. Was ist denn so toll an ihr? Ist sie besser im Bett oder gibt’s da noch mehr? Ich hoffe, wir sehen dich nie wieder!“

Edgar kann nicht glauben, wie unglaublich dumm er sich angestellt hat.

„Mama hat all deine Sachen auf die Straße geworfen. Wenn du dich traust, kannst du sie dort aufsammeln. Ich an deiner Stelle würde wegbleiben. Bist ja eh zu feige.“

Edgar fühlt sich in die Enge getrieben. Was kann er darauf entgegnen? Er will sich doch von Tino nicht so schlecht reden lassen. Hat er vergessen, mit wem er da redet?

„Jetzt hör‘ mal zu! Sie ist keine ‚Schlampe‘. Sie ist eine wundervolle Frau. Und du blöder Kerl, brauchst mir gar nichts sagen.“

Da hört er bereits, dass niemand mehr am anderen Ende der Leitung ist.

Jetzt versucht Edgar wieder krampfhaft seine Gedanken zu ordnen. Was soll er als nächstes tun? Er weiß nun, wer sein Gegner ist, aber den Kampf hat er bereits verloren. Alles ist verloren. Sogar seine Tini, die er über alles liebt, hat er umgebracht. Wie könnte er jetzt nur weiterleben? Jedenfalls will er sein Leben nicht im Gefängnis verbringen. Seine Existenzangst erreicht ein neues Level. Er hat getötet. Natürlich war es kein Mord, aber Totschlag. Er muss fliehen und augenblicklich die Wohnung verlassen! Edgar steckt das Handy in die Hosentasche und blickt sich im Zimmer um, ob irgendwo noch Sachen von ihm herumliegen. Fingerabdrücke! Was hat er angefasst? Den Tisch, die Schlüssel, das Telefon. Noch etwas? Tini! Er hat Tini mit seinen manikürten Fingern gegriffen und durchgeschüttelt. Bevor er sich Gedanken machen kann, wie er seine Spuren beseitigen könnte, hört er die Sirene. Edgar geht hinüber zum Fenster und sieht einen Krankenwagen und zwei Polizeiautos die Straße herunterfahren und direkt vor dem Haus halten. Die Leitstelle hat die Nummer zurückverfolgt.

Es gibt keine Hoffnung mehr. Das ist der letzte Ausweg gewesen. Erst hat er seinen Freund verloren, dann Tini und zuletzt Katharina, seinen Job und alles, was er besaß. Und jetzt würde er im Gefängnis landen, mit all den Straftätern, an dessen Inhaftierung er zum Teil mitgewirkt hat. Das würde er nicht überleben. So soll das Leben von Edgar Henrichs nicht enden. Es gibt nur eine Möglichkeit, nicht die Kontrolle zu verlieren.

Edgar öffnet das Fenster und sieht, wie die Rettungskräfte vor der Tür stehen. Sie klingeln ununterbrochen. Edgar steigt auf das Fensterbrett und schaut zum dunklen Himmel hinauf. Es hat begonnen zu regnen. Der erste Niederschlag seit Tagen. Er streicht sich durch die gegelten Haare und blickt die Hauswand hinunter. Das ist das letzte bisschen Kontrolle, dass er noch hat. Die Kontrolle über seinen Tod. Die Geräusche verstummen, als er dem Boden entgegenfällt. Edgar spürt keinen Schmerz, als er auf den Pflastersteinen aufschlägt. Das Letzte, das er im schwachen Licht der Straßenlaterne sieht, bevor das Leben aus ihm entweicht, ist sein Zigarettenstummel im Gebüsch. Der Regen hat die Glut erlöschen lassen.

4 thoughts on “Der letzte Tag

  1. Spannend geschriebenes Drama, in sich schlüssig und nachvollziehbar. Mit den beiden blonden Damen bin ich zuerst ein wenig durcheinandergekommen – aber das war ja vielleicht auch ein klein wenig beabsichtigt? Gefällt mir 😃👍

  2. Interessanter Plot und spannend umgesetzt. Eigentlich hätte man auf den Übeltäter kommen können aber du hast so geschrieben, dass die Verwirrung (zumindest bei mir) funktioniert hat. Ich hätte nur einen winzigen Vorschlag zur Verbesserung: Mir persönlich kommen die “gegelten Haare” etwas zu oft vor 🙂
    LG und vielleicht hasr du ja Lust auch bei mir mal reinzuschauen
    Simone mit “Momentaufnahme”

  3. Hey,
    vielen Dank erstmal für deine Rückmeldung! Ich habe gerade auch deine Story gelesen. Inhaltlich finde ich sie wirklich gut durchdacht und du hast den Leser gut “verwirrt”, um den Täter nicht direkt zu entlarven!
    Wie schon im Kommentar über mir erwähnt, möchte ich dir ebenfalls den Tipp geben, die “gegelten Haare” nur einmal zu erwähnen. Das ist aber ja nur eine Kleinigkeit. Ansonsten könntest du hier und da überlegen, die Geschichte ein wenig zu kürzen, wie z.B. an der Stelle über den Chemiekonzern. Diese Infos sind für die Story ja nicht unbedingt relevant.
    Ich lasse dir ein Like da;-)

  4. Ich mag die Art, wie du über Edgar schreibst total gerne. Zum einen, wie du ganz beiläufig Infos über ihn einfließen lässt, wie z. B. hier: E”in Schauer fährt ihm den Rücken hinunter und alle Gesichtszüge entgleiten dem sonst so kontrollierten Anwalt. ” aber auch wie detailreich und gefühlvoll du einen als Leser an Edgars Gefühlswelt teilhaben lässt.

    Der Titel passt auch super und lässt mich an Ende der Geschichte nochmal drüber nachdenken. Sowas liebe ich.

    Auch das Ende bzw. Wiederaufgreifen des Zigarettenstümmels ist eine wahnsinnig tolle Idee, durchdacht und sehr gut umgesetzt. Ich kann mich nicht entscheiden, ob das mein Highlight ist oder der Teil, wie du den Lesern mitteilst, wie sie gestorben ist. Ich finde es richtig gut, dass dafür keine lange Erklärung notwendig ist. Hut ab!

    Zwei kleine Kritikpunkte zum Schluss : Die Geschichte hätte noch etwas eingekürzt werden können, um noch mehr Fahrt zu haben und weil sie für eine Kurzgeschichte mir einen Hauch zu lange scheint. Und ein paar Absätze hätten den Lesefluss nicht geschadet.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio (Nur ein kleiner Schlüssel)

Schreibe einen Kommentar