TulaDer Lichtschalter

Endlich mal wieder blauer Himmel. Ich recke mich ausgiebig mit einem spitzen Schrei. Das befreit mich. Dann halte ich kurz inne und versuche, den sehr bewegenden Traum von letzter Nacht wiederzubeleben. Ich habe einen Nachgeschmack davon im Bauch, der mich umtreibt. Was war das bloß?  Holt mich die Geschichte von damals etwa wieder ein? Jetzt, wo alle Welt gezwungen ist, zuhause zu bleiben und man sich echt anstrengen muss, um den ganzen Tag Ablenkung von sich selber zu haben, fällt auch mir es schwer. Im normalen Alltag stehe ich so früh auf, dass ich im Halbschlaf bei der Arbeit ankomme, dann bin ich den ganzen Tag abgelenkt und komme abends erschöpft nach Hause. Keine Minute Zeit, zur Ruhe zu kommen und zu hören, was da in mir so schreit. 

Auch jetzt schiebe ich es weg. Erstmal frühstücken. Jetzt haben sie Kontaktsperre verordnet. Damit die Ansteckungszahlen niedrig gehalten werden. Einen Spaziergang werde ich trotzdem nachher wagen. 

Der Kaffee schmeckt gut, ich sitze am Küchentisch und schaue in den Garten. Die kahlen Bäume hatten in den letzten Tagen schon schüchterne Knospen gezeigt. Jetzt stehlen sich die ersten grünen Blättchen heraus. Eine Neugeburt. Tausende an jedem Ast. Was für ein Wunder. 

Doch Schluss jetzt mit den Träumereien, ich spüre schon wieder den Kloß im Hals wachsen. Auf, Schuhe an und raus aus der Haustür. Heute nehme ich den Weg zum alten Sportplatz. Schnell habe ich die Teerstraße verlassen und befinde mich auf dem Wanderweg. Da blitzt etwas hinter dem Grasbüschel dort. Die Sonne spiegelt sich darin. Ich bücke mich und blicke auf ein Handy. Na sowas. Hier hat einer sein Handy verloren. Mal sehen, ob es gesichert ist. Ich drücke den Startknopf und habe die Icons vor mir. Keine Sicherung? Da ist aber jemand unvorsichtig. Ich mag gar nicht weitersuchen, wegen der Privatsphäre. Aber es wäre ja praktisch, den Eigentümer zu finden. Ich schaue mal ins Adressbuch.. vielleicht unter „meine Nummer“ oder so? Nichts zu machen. Da ploppt eine Nachricht auf: „ist gebongt, 20 Uhr, Friedhof, Reihe Schuster!“. Oh. Ich sollte das Handy hier liegen lassen, der Eigentümer wird bestimmt zurückkommen und es suchen. Mein Daumen berührt die Galerie. Sie ploppt auf. Ich scrole, vielleicht finde ich ja einen Hinweis auf den Besitzer. Irgendwie kommen mir viele Bilder bekannt vor. Partybilder. Von Partykellern hier im Dorf. Ich stutze. Da war ich doch auch! Aber das ist schon ewig her. Damals gab es noch keine Handys. Oh. Es durchfährt mich wie ein Blitz. Das bin ja ich. Zusammen mit – oh gott! Ich wollte diese Nacht doch aus meinem Gedächtnis löschen!! Wie kommt der an die Bilder?? Meine Knie geben nach. Diese Bilder sollte keiner zu sehen bekommen! Mir wird schlecht. Benommen setze ich mich auf den Stein am Wegesrand. Und springe wieder auf. Nein. Nicht dass man mich hier sieht. Ich verstecke mich hinter dem Wall und lasse mich ins Gras sinken. Erstmal wieder einen klaren Kopf bekommen. 

Meine Schuhe drücken. Ich glaube ich krieg ne Blase. Dass das immer sein muss, bei neuen Schuhen. Meine Gedanken schweifen ab. Es nützt nichts. Wenn ich der Sache auf den Grund gehen will – und mir bleibt keine Wahl – muss ich auf den Friedhof. Ich stecke das Handy ein und humple nach Hause. 

 

Wir hatten alles perfekt vorbereitet. Die Bar war gut bestückt. Snacks bereitgestellt. Die ersten Gäste kamen. Wir waren ziemlich überdreht, freuten uns seit Wochen auf diesen Abend. Er lief auch gut an. Der Raum füllte sich, einige tanzten schon. Zigarettenqualm hing in der Luft. Ausgelassen tanzten wir. Außer Atem hatte ich mich auf ein Sofa sinken lassen. Neben mir saß der Schwarm der Schule. Das war Zufall. Ich bin sonst keine zehn Meter an ihn herangekommen. Ich gehörte zu den unbeliebten, war etwas pummelig und nicht immer hip angezogen. Also für Jungs wie ihn im Grunde durchsichtig. Er war mit Susi zusammen. Das Traumpaar, beide hätten einem Katalog entsteigen können. Naja. Ich saß nun also neben ihm, um zu verschnaufen. Als ich ihn wahrnahm, wollte ich schnellstens flüchten. Doch dann knipste einer das Licht aus. Zack war es duster. Ich schloss die Augen und spürte, warme Lippen auf meinen. Warm rieselte es durch meinen Körper. Ich ließ mich tiefer in die Kissen sinken. Es war noch immer dunkel. Und erstaunlich still um uns herum. Dann wurde es wieder hell. Neben mir war der Platz leer. Mir drehte sich alles. Was war das denn? Mein erster Kuss! Kam der echt von Sascha? Ich suchte den Raum ab. Da stand er, lässig wie immer an die Wand gelehnt. Sein Blick huschte zu mir rüber. Tatsächlich. Unsere Blicke trafen sich, ich spürte einen Stich im Bauch. Er drehte sich weg. Ich werde wahnsinnig. Er hatte mich geküsst! Was mache ich jetzt nur? Bloß cool bleiben. Ich musste hier raus. Mit wackligen Knien schob ich mich durch die Menge, öffnete die Kellertür und trat in den Garten. Wie friedlich es hier draußen war. Sascha war mir gefolgt. Er drückte mich an die Wand und küsste mich. Dann umfasste er meinen Arm und zog mich hinter den Wall. Hier stieß er mich ins Gras und legte sich auf mich. Das ging alles so schnell. Ich war völlig überrumpelt von ihm und meinen Gefühlen, die wie ein Wirbelsturm in mir zu toben begannen. Unglaubliches Wohlgefühl, Angst und – da war noch etwas, was sich meldete. Scham? Was war mit Susi? Ich schob ihn von mir. Er sah mich fragend an. „Hey, komm, hab dich nicht so!“ Plötzlich wurde ich klarer im Kopf. Nee, das war nicht richtig so. „Lass mich. Du bist doch mit Susi..“ „hey, das hier muss doch niemand wissen!“ Hat er auch wieder recht, dachte ich gerade noch, bevor er mich mit seinen Küssen willenlos machte. Dann hörten wir Stimmen. Er sprang auf, lief nach vorne, ließ mich liegen. Ich öffnete die Augen, sah den Sternenhimmel, unschuldig strahlen. Badete im Nachklang des Verlangens. Wow. 

Ich drehte mich auf den Bauch und stemmte mich hoch. Das T-Shirt klebte an meinem Rücken. Meine weiße Hose war mit grünen Flecken übersäht. Etwas auffällig. Naja, die meisten waren eh schon betrunken und würden nichts merken. Nach Hause gehen konnte ich nicht, es wäre aufgefallen, wenn ich verschwunden wäre. Das konnte ich meiner besten Freundin nicht antun. Also tat ich so, als wäre nichts gewesen und mischte mich wieder unter die Tanzenden. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Sascha, der mit Susi stritt. Doch er schien sie besänftigen zu können, knutschend versanken hinterm Tresen. Ein Kloß im Hals erinnerte mich daran, dass hier was schiefgelaufen war. Die Party näherte sich dem Ende zu. Einige waren schon verschwunden, andere lagen vollkommen betrunken auf den Kissen rum. Mein Kopf war klar. Wir begannen aufzuräumen, Sascha und Susi waren längst verschwunden. Oh man, das konnte ich niemandem erzählen. Während wir Klar Schiff machten, wuselten die Gedanken durch meinen Kopf. Was war das denn gewesen? Der Schwarm der Schule, mit mir? Ich musste ins Bett. 

Den nächsten Tag überstand ich im Dämmerzustand, ich konnte den Tag in der Schule kaum erwarten. Ihn wieder zu sehen. Ich dachte an nichts anderes mehr. 

Es wurde schlimm. Ich wurde zur Zielscheibe für seine Gang. Es schien, als müsse er den anderen beweisen, für wie blöd er mich hielt, um nicht in Verdacht zu geraten. Sprüche, Demütigungen, Gerüchte. Ich schlief jeden Abend heulend ein und ging mit Magenschmerzen zur Schule. Bis ich nicht mehr hinging. Ich wurde regelrecht krank davon. Es endete mit einem Schulwechsel. 

Seitdem litt ich in jeder Gruppensituation unter extremen Selbstzweifeln. Also scheute ich Gruppen und wurde zum Einzelgänger. Ich hatte mich niemandem anvertraut, diese Sache hatte ich für mich behalten. Zuerst wollte ich Sascha schützen. Dann wurde sie unglaubwürdig. Und peinlich. Mir hätte eh keiner geglaubt. 

 

Die ganze Erinnerung kommt jetzt wieder hoch, als ich hier im Bett liege. In meinem alten Zimmer. Das Studentenwohnheim schloss, nachdem die Uni dicht gemacht worden war. Wir waren alle gezwungen, wieder zu unseren Eltern zu ziehen. Heute abend also. Oh mist. Ich wollte nicht daran erinnert werden. Und nun war ich mitten drin. Ich ziehe das Handy aus der Tasche und finde die Partybilder. Das Foto, als Sascha mich auf der Couch küsst. Aber es war doch dunkel? Und wenn ich das Bild einfach lösche und das Handy wegwerfe? Aber wer weiß, vielleicht gibt es noch andere Kopien der Bilder? Kann mir das nicht egal sein? Ich bin hier weg, wohne in der Stadt, habe meinen Freundeskreis, es ist doch vorbei. Aber in mir schreit es. Nein. Das kann so nicht stehenbleiben. Es hat all die Jahre keine Ruhe gegeben. Dieses Gefühl in mir. Das Gefühl der Ungerechtigkeit. Dass er sich benehmen kann wie er will, sich nimmt was er will und dann auf anderen herumtrampelt. Ich muss dahin. 

 

Um halb acht nehme ich meine Jacke vom Haken. Der Weg zum Friedhof führt durch einen kleinen Tannenwald. Zum Glück ist es noch hell, aber schon recht kühl. Ich bin nicht gerne auf dem Friedhof. Zögernd schlüpfe ich durch das Tor und bleibe im Schatten der Kapelle stehen. Mal sehen, wer kommt. Da bewegt sich etwas. Reihe Schuster. Die kann ich von hier aus sehen, aber sie ist zu weit weg, um mit zu hören, was gesprochen wird. Im Schutz der Büsche schleiche ich mich auf die richtige Höhe. Ach hätte ich mich nur wärmer angezogen. Mir ist saukalt, ich zittere richtig. Oder ist das die Aufregung? Da kommt – ich fass es nicht – Sascha höchstpersönlich. „Hey, hast du mein Handy geklaut?“ Er ist stinksauer. Wen brüllt er da an? „Hallo, auch schön, dich zu sehen!“ Sarkastisch spitz höre ich eine hohe Stimme, die sich fast überschlägt. „Jetzt kommt endlich raus, was du für ein Mistkerl bist. Ich hab das schon immer gewusst. Ich habe alle Bilder gesehen!“ „Gib mir mein verdammtes Handy zurück!“ brüllt Sascha, vor Wut überkochend. „Ich habe dein Scheiß-Handy nicht, tu doch nicht so!“ kreischt Susi zurück, „Warum bist du überhaupt hier?“ „Das geht dich einen Dreck an!“ Da sehe ich aus meinem Versteck eine dritte Gestalt auf uns zu kommen. Sascha und Susi halten inne. „Ach, ihr habt euch schon gefunden. So sollte es sein!“ Ich erkenne Frank, ein ehemaliges Mitglied von Saschas Gang. „Da bist du ja. Mein Handy ist weg, ich hab also deine Nachricht nicht gekriegt. Bin mal auf gut Glück hergekommen.. wir hatten ja drüber gesprochen.“ Plötzlich wird Sascha kleinlaut. So kenne ich ihn gar nicht. Susi ist aber noch in voller Fahrt: „Frank, Schatz, endlich bist du da. Diese Bilder. Er hat mich immer hintergangen. Alles hat auf dieser elenden Party angefangen. Oh ich schwöre Dir, wenn ich die Frau erwische, das gibt Rache!“ 

Diese Furie. In mir zündet etwas. Jetzt ist es endlich mal genug. Vorbei das Leiden und die Scham. Ich fange innerlich Feuer. Es lodert, mir wird warm, nein heiß. Ich springe hinter meinem Busch auf und betrete die Bühne. Alle drei verstummen plötzlich. Ihre Augen weiten sich. Mein Kopf setzt aus, die Wut kocht über. „Was denkt ihr euch eigentlich, ihr Pissnelken?“ Ich schleudere Sascha das Handy vor die Füße. „All die Jahre habt ihr auf mir herumgeprügelt.“ Wütend blitze ich Sascha an. „Nur weil du deine Finger nicht bei dir halten konntest. Wieviel Mädchen mussten noch darunter leiden?“ ich gehe einen Schritt auf Susi zu. „Und du?“ sie weicht zurück. „Fällst auf diesen miesen Typen rein? Selber Schuld, er hat dich nach Strich und Faden verarscht! Nehmt doch diese Bilder und macht was ihr wollt. Ich bin raus!“ Susi realisiert erst jetzt, dass ich es bin, ich sehe es an ihrem Blick. „Ohh Du weißt gar nicht was wirklich war. Seit diesem Abend, war Sascha verändert. Ich habe ihn nicht wiedererkannt. Du warst an allem Schuld!“ Ich balle die Fäuste. „Ich?“ Meine Stimme überschlägt sich. „Spinnst Du? Dein Freund hat mich mitgezogen, und dann fallenlassen. Ich bin Schuld? Und was ist mit den Anfeindungen? Er hat mich in der Schule niedergemacht, Tag für Tag! Und ihr beide habt fröhlich mitgemacht. Ich bin krank davon geworden. Seid ihr bescheuert? Jetzt bin ich schuld?“ Ich wollte auf etwas einschlagen. Frank trat vor. Legte mir den Arm auf die Schulter und sah mich an. „Hey, Scheiße, ja, wir waren bescheuert. Das hat mir lange leid getan. Wir wussten beide nicht, warum Sascha so auf dich losgegangen ist. Wir haben einfach mitgemacht. Es tut mir leid. Im Grunde habe ich dich immer bewundert. Du hast immer so in dir ruhend gewirkt.“ „Pah, ruhend. Ich habe mich vermauert in mir, um euch nicht mehr spüren zu müssen. Wo kommen denn nun die Fotos her?“ Susi zischte: „Du hast alles zerstört! Ich hätte es gleich wissen müssen!“ Sascha zog sie weg und redete auf sie ein. Frank sah mich an: „Ich habe sie gemacht. Damals, erinnerst du dich? Ich war der Fotofreak. Wollte die Party dokumentieren. Habe nur so in das Dunkel hineingeknipst. Und euch getroffen. Als ich das sah, wurde mir Saschas Veränderung klar. Er wollte sein Bild an der Schule wahren. Über die Jahre hat sich mein schlechtes Gewissen verhärtet. Ich habe ihm die Bilder geschickt und ihn aufgefordert, sich bei dir zu entschuldigen. Dann hat er sein Handy verloren. Dass Susi davon Wind bekommen hat, war so nicht geplant.“ Mir wird leichter. Franks Nähe tut irgendwie gut. Etwas löst sich in mir. Das Feuer ist erloschen und hat einem Wohlgefühl Platz gemacht. Frank sieht es in meinen Augen. „Lassen wir die beiden streiten, komm wir verschwinden!“ So einen Waldspaziergang im Dunkeln habe ich mir schon immer sehr romantisch vorgestellt. 

One thought on “Der Lichtschalter

  1. Ahhh… mein Gott wie schön… noch mal ein Happy End 🤗
    Obwohl ich eigentlich gar nicht so der Fan davon bin, hat es mir in deinem Fall doch recht gut gefallen.
    Deine Einleitung hast du sehr knackig und einladend formuliert.
    Die „nebensächlichen“ Gedanken die du immer mal wieder eingebaut hast; haben deiner Geschichte Charakter gegeben.
    DU hast wirklich Potenzial! Dran bleiben!:)

    Herzlich – Lia 🌿

Schreibe einen Kommentar